TE OGH 2018/4/4 7Bs39/18m

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.04.2018
beobachten
merken

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz hat durch die Richterinnen Dr. Gföllner als Vorsitzende, Mag. Kuranda und Dr. Ganglberger-Roitinger in der Strafsache gegen A***** A***** wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Linz gegen den Beschluss des Landesgerichtes Linz vom 28. Februar 2018, 23 Hv 12/18i-22, in nichtöffentlicher Sitzung entschieden:

Spruch

Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Mit Strafantrag vom 28. Juli 2017 zu 44 BAZ 226/17m, eingebracht beim Bezirksgericht Perg, legte die Staatsanwaltschaft Linz dem A***** A***** das Vergehen der fahrlässigen Tötung nach § 80 Abs 1 StGB zur Last. Mit Urteil vom 10. November 2017 sprach das Bezirksgericht Perg zu 1 U 65/17y seine Unzuständigkeit aus, weil auf Basis der Ausführungen des KFZ-Sachverständigen der Verdacht einer - in die Zuständigkeit des Einzelrichters des Landesgerichtes fallenden - grob fahrlässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB vorliege (ON 16). Die Verfahrensbeteiligten meldeten dagegen kein Rechtsmittel an, sodass das Unzuständigkeitsurteil am 14. November 2017 in Rechtskraft erwuchs.

Eine Urteilsausfertigung samt Hauptverhandlungsprotokoll vom 10. November 2017 wurde der Staatsanwaltschaft Linz am 23. November 2017 (wegen ausstehender Gebührenbestimmung vorerst ohne Akt) übermittelt (S 7 in ON 1). Am 12. Februar 2018 beantragte die Bezirksanwältin beim Bezirksgericht Perg telefonisch die Aktenübersendung mit der Begründung, sie benötige eine rechtskräftige Ausfertigung des Unzuständigkeitsurteils (S 10 in ON 1).

Am 15. Februar 2018 wurde das Verfahren in 9 St der Staatsanwaltschaft Linz übertragen. Mit Strafantrag vom selben Tag zu 9 St 30/18g (ON 20) legt die Staatsanwaltschaft Linz dem A***** A***** das Vergehen der grob fahrlässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB zur Last. Demnach habe er am 17. Mai 2017 (gegen 19.39 Uhr) auf der Pabneukirchner Straße in St. Thomas am Blasenstein als Lenker des LKW mit dem amtlichen Kennzeichen PT-45418 durch Außerachtlassung der im Straßenverkehr gebotenen Sorgfalt und Aufmerksamkeit grob fahrlässig (§ 6 Abs 3 StGB) den Tod des Radfahrers K***** F***** S***** dadurch herbeigeführt, dass er trotz einer permanenten Gegenlichtsituation infolge äußerst starker Blendung durch Sonnenlicht über eine Zeitspanne von 18 Sekunden hinweg mit einer (massiv) relativ überhöhten Geschwindigkeit (§ 20 Abs 1 StVO) von mindestens 50 km/h weiterfuhr, anstatt dem Gebot des „Fahrens auf Sicht“ [vgl RIS-Justiz RS0074750] entsprechend seine Geschwindigkeit auf ein „äußerst geringes Maß“ [vgl Urteil ON 16, AS 4; Gutachten ON 14, AS 10ff, insb AS 11 unten] zu reduzieren, wodurch er mit seinem LKW ungebremst gegen den vor ihm fahrenden Radfahrer S***** auffuhr, sodass dieser durch den Aufprall in die nach rechts abfallende Wiese geschleudert wurde und aufgrund eines Genickbruchs [Gutachten ON 19: „Luxation zwischen Schädelbasis und I. Halswirbelkörper“] verstarb.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 28. Februar 2018 (ON 22) wies das Landesgericht Linz den Strafantrag der Staatsanwaltschaft Linz vom 15. Februar 2018 gegen A***** wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB gemäß § 485 Abs 1 Z 3 iVm § 212 Z 1 StPO zurück und stellte das Verfahren ein. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass es die Staatsanwaltschaft verabsäumt habe, innerhalb der Fallfrist des § 261 Abs 2 StPO (iVm § 447 StPO) von drei Monaten ab Rechtskraft des Unzuständigkeitsurteils das Ermittlungsverfahren fortzuführen oder die Anordnung der Hauptverhandlung zu beantragen. Die dreimonatige Frist habe am 14. Februar 2018 geendet, erst am 15. Februar 2018 sei das Verfahren in 9 St der Staatsanwaltschaft Linz übertragen und am 16. Februar 2018 der gegenständliche Strafantrag beim Landesgericht Linz eingebracht worden. In der telefonischen Aktenanforderung vom 12. Februar 2018 könne keine Fortführung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft, die seit 10. November 2017 in Kenntnis des Unzuständigkeitsurteils war, erblickt werden.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die (rechtzeitige) Beschwerde der Staatsanwaltschaft Linz, mit der sie begehrt, den angefochtenen Beschluss ersatzlos aufzuheben und dem Landesgericht Linz die Anberaumung einer Hauptverhandlung aufzutragen. Dies im Wesentliche mit der Begründung, dass das Beischaffen von (Ermittlungs-)Akten anderer Justizbehörden bereits eine Ermittlungshandlung im Sinne des § 91 Abs 2 StPO darstellt, sodass auch fallkonkret die Aktenbeischaffung zur Fortführung des Verfahrens geführt habe (ON 23).

In seiner Gegenäußerung vom 19. März 2018 (noch unjournalisiert) beantragte der Angeklagte, der Beschwerde nicht stattzugeben.

Die Beschwerde ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

§ 261 Abs 2 StPO statuiert eine 3-monatige Fallfrist für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über den Verfahrensfortgang nach Rechtskraft des Unzuständigkeitsurteils. Die genannte Bestimmung trifft - abhängig vom Erfordernis zusätzlicher Sachverhaltsermittlungen - eine alternative Anordnung: Danach hat die Staatsanwaltschaft binnen drei Monaten bei sonstigem Verlust des Verfolgungsrechtes entweder das Ermittlungsverfahren fortzuführen oder aber die Anordnung der Hauptverhandlung vor dem Geschworenengericht zu beantragen. Ein rechtskräftig gewordenes Unzuständigkeitsurteil des Schöffengerichtes ändert nichts daran, dass der Staatsanwalt „Herr der Anklage“ bleibt. Die diesbezügliche Stellung ist nicht Ausfluss des § 261 Abs 2 StPO, sondern ist dort vorausgesetzt. Der Staatsanwalt entscheidet daher in eigener Verantwortung über die weitere Vorgehensweise. Soweit die Staatsanwaltschaft binnen der 3-Monats-Frist weder das Ermittlungsverfahren fortführt noch die Anordnung der Hauptverhandlung vor dem Geschworenengericht beantragt (noch vor einem anderen Gericht Anklage erhebt), geht das Verfolgungsrecht verloren. Die 3-Monats-Frist ist eine Fallfrist. Soweit es die Staatsanwaltschaft für erforderlich erachtet, kann sie - nach den allgemeinen Regeln - das Ermittlungsverfahren weiterführen. Die diesbezügliche Befugnis ist in § 261 Abs 2 StPO vorausgesetzt und erfährt durch die 3-Monats-Frist nur eine zeitliche Beschränkung. Derartige Ermittlungstätigkeiten werden typischerweise in der Vernehmung von Zeugen oder in der Einholung von Gutachten bestehen. Hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen innerhalb dieser Frist wieder aufgenommen, so unterliegt ihr Abschluss gemäß § 261 StPO keiner zeitlichen Beschränkung mehr (vgl Lewisch in WK-StPO, § 261 Rz 14 f). Die Bestimmung des § 261 StPO findet auch im bezirksgerichtlichen Verfahren Anwendung (§ 447 StPO).

Was unter „Ermitteln“ zu verstehen ist, definiert § 91 Abs 2 StPO. Demnach ist unter Ermittlung jede Tätigkeit der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft oder des Gerichtes zu verstehen, die der Gewinnung, Sicherstellung, Auswertung oder Verarbeitung einer Information zur Aufklärung eines Anfangsverdachts einer Straftat dient. Ermitteln ist etwas anderes als bloßes „Zur-Kenntnis-Nehmen“, was bereits unmissverständlich aus §§ 1 Abs 2, 2 Abs 1 StPO hervorgeht. Nach § 1 Abs 2 erster Satz StPO beginnt das Strafverfahren erst, sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat gegen eine bekannte oder unbekannte Person ermitteln oder Zwang gegen eine verdächtige Person ausüben. § 2 Abs 1 StPO verpflichtet Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Aufgaben, jeden ihnen zur Kenntnis gelangten Anfangsverdacht einer Straftat (die nicht bloß auf Verlangen einer hiezu berechtigten Person zu verfolgen ist) „in einem Ermittlungsverfahren“ aufzuklären. Zur-Kenntnis-Gelangen des Verdachts einer Straftat durch eine Anzeige (§§ 78 Abs 1, 80 Abs 1 StPO) wird somit klar vom Ermitteln unterschieden (vgl 17 Os 13/13k; EvBl 2013/136; RIS-Justiz RS0127792). Die bloße Nutzung von bestimmten Informationsquellen und die Durchführung von Erkundigungen im Zuge der Anfangsverdachtsermittlung stellen aufgrund der gesetzlichen Anordnung im letzten Satz des Abs 2 des § 91 StPO noch keine Ermittlungen dar. Sie müssen daher weniger als eine Ermittlung sein. Bei der Nutzung der angeführten Informationsquellen kann es sich demnach nur um eine bloße Einsichtnahme handeln. Protokolldatenauswertungen nach § 14 Abs 4 DSG 2000, die eine Inanspruchnahme Dritter bedürfen, sind daher bereits als Ermittlung im Sinne des § 91 Abs 2 erster Satz StPO zu werten. Gleiches gilt für das Beischaffen von (Ermittlungs-)Akten oder Geschäftsbehelfen anderer Strafverfolgungsbehörden zwecks Einsichtnahme (vgl Vogl in WK-StPO § 91 Rz 11 mwN).

Nach dem in der Beschwerde angeführten Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 27. Dezember 2017, BMJ-S578.028/0004-IV3/2017 (zu Auslegungs- und Anwendungsfragen in Zusammenhang mit § 35c StAG) stellen die bloße Nutzung allgemein zugänglicher Informationsquellen sowie behördeninterner Informationsquellen sowie die Durchführung von Erkundigungen zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, keine Ermittlung im Sinne des § 91 Abs 2 erster und zweiter Satz StPO dar. Beispielsweise angeführt sind in diesem Erlass das Beischaffen von und die Einsichtnahme in Tagebücher (nicht aber in Akten) der eigenen Behörde als Nutzung von behördeninternen Informationsquellen. Das Beischaffen von und die Einsichtnahme in Ermittlungsakten sowie Akten und Geschäftsbehelfe anderer Justizbehörden hingegen wird als eine Ermittlung im Sinne des § 91 Abs 2 erster und zweiter Satz StPO angeführt. VJ-Abfragen im Bereich der eigenen Behörde kommen als Erkundigungen im Sinne des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO in Betracht. Soweit diese Einsicht jedoch der Beischaffung eines Aktes gleichkommt, etwa, weil Einsicht in Aktenbestandteile (Berichte, Anordnungen, Beschlüsse etc) genommen wird, liege bereits ein Ermitteln im Sinne des § 91 Abs 2 erster Satz StPO vor. Gleiches gilt für VJ-Abfragen im Bereich anderer Justizbehörden (so auch Kroschl in Schmölzer/Mühlbacher, StPO Praktikerkommentar, § 1 Rz 2d; Nimmervoll, Das Strafverfahren2, Kapitel I, Rz 209).

Demnach ist das Beischaffen von und die Einsichtnahme in Ermittlungsakten sowie Akten und Geschäftsbehelfe anderer Justizbehörden, aber auch der eigenen Behörde durch den Staatsanwalt bereits als eine Ermittlung im Sinne des § 91 Abs 2 erster Satz StPO zu werten. Dies vor dem Hintergrund, dass der Staatsanwalt mit der Beischaffung der genannten Akten bzw Aktenbestandteile (etwa Vorstrafakten, Zivilakten, Akten von Verwaltungsbehörden wie Waffen- , Verkehrs – oder Asylamt etc) Informationen zur Aufklärung des Verdachts der Straftat gewinnen will. Daraus ist zu schließen, dass damit nicht die Beischaffung des verfahrensgegenständlichen Ermittlungsaktes gemeint sein kann, weil mit der Beischaffung des „eigenen“ Aktes keine Informationen zu gewinnen sind, die der weiteren Aufklärung der Straftat dienen könnten. Dies umso mehr in einem Verfahren das – wie hier - mit einem Unzuständigkeitsurteil geendet hat, aus dem sich regelmäßig sämtliche Informationen ergeben, die der Staatsanwalt zur weiteren Vorgehensweise (Anklageerhebung, Einstellung oder weiterer Ermittlungen) benötigt.

Fallkonkret hatte der Staatsanwalt auf Basis des bis zum Unzuständigkeitsurteil des Bezirksgerichtes Perg gewonnenen Beweismaterials nur mehr einen neuen Strafantrag beim Landesgericht Linz einzubringen; Ermittlungen zur Erhärtung des Tatverdachts in Richtung grob fahrlässiger Begehungsweise waren nicht (mehr) erforderlich.

Allein die innerhalb der 3-monatigen Fallfrist des § 261 Abs 2 StPO getätigte telefonische Anforderung jenes Aktes, in welchem das Urteilszuständigkeitsurteil erging, ist ohne weitere (hier nicht aktenkundige) Verfolgungsschritte keine wirksame Verfolgungshandlung im Sinne des § 91 Abs 2 StPO. Der Strafantrag wegen § 81 Abs 1 StGB wurde tatsächlich erst außerhalb der 3-monatigen Fallfrist des § 261 Abs 2 StPO, die mit 14. Februar 2018 endete, eingebracht. Zu Recht hat daher das Erstgericht den Strafantrag der Staatsanwaltschaft Linz vom 15. Februar 2018 gegen A***** A***** gemäß § 485 Abs 1 Z 3 iVm § 212 Z 1 StPO zurückgewiesen und das Verfahren eingestellt.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diese Entscheidung steht ein weiteres Rechtsmittel nicht zu (§ 89 Abs 6 StPO).

Textnummer

EL0000271

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0459:2018:0070BS00039.18M.0404.000

Im RIS seit

08.08.2018

Zuletzt aktualisiert am

08.08.2018
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten