Entscheidungsdatum
24.07.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W182 1439218-2/10E
W182 1439219-2/10E
W182 2177158-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb. XXXX und 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie Flüchtlingsdienst, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1.) 11.10.2017, 2.) 10.10.2017 und 3.) 11.10.2017, Zl. ad 1.) 830729805/171082568/BMI-BFA_STM_RD, ad 2.) 830729903/171082436/BMI-BFA_STM_RD und ad 3.) 1053046207/171082576/BMI-BFA_STM_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 9 Absatz 1 und Abs. 4 Asylgesetz 2005
(AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, sowie gemäß §§ 57, 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz idgF iVm §§ 52 Abs. 2 Z 4, 52 Abs. 9, 46 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise XXXX ab Rechtskraft der Entscheidung beträgt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz
(B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1.1. Die Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Ehepaar und ihre im Bundesgebiet nachgeborene, minderjährige Tochter (im Folgenden: BF3), sind Staatsangehörige der Russischen Föderation aus Inguschetien und sind sunnitisch-muslimischen Glaubens.
Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) und seine Ehefrau (im Folgenden:BF2) reisten mit ihrer im Herkunftsland geborenen Tochter XXXX im Juni 2013 ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten am selben Tag gemeinsam Anträge auf internationalen Schutz, wozu sie russische Reisepässe mit kroatischen Visa vorlegten.
In einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.06.2013 und in einer Einvernahme beim Bundesasylamt am 20.06.2013 sowie am 29.08.2013 brachte der BF1 zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen vor, dass er von 2010 bis Juni oder Juli 2012 als Aufklärer bei einer russischen Spezialeinheit in Inguschetien tätig gewesen sei und dabei in den Krieg "gegen die Kämpfer im Wald" geschickt worden sei. In der Zeit seines Dienstes sei es nur zu zwei bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen. Er habe 2010, noch in der Ausbildung einen Drohbrief mit den Worten "Verlassen Sie Ihre Arbeit, wenn Sie nicht getötet werden wollen" erhalten. Der BF1 habe befürchtet, aufgrund seines Berufes getötet zu werden. Viele seiner Kollegen wären in der Vergangenheit bereits von radikalen Islamisten getötet worden. Er habe dann gekündigt, wobei seine offizielle Kündigung zwei bis drei Monate später eingelangt sei, nachdem die Kommandanten in der Zeit bis dahin noch seinen Lohn kassiert hätten. Nachdem er seine militärische Tätigkeit beendet habe, habe er noch zwei weitere Drohzettel erhalten. Über den Verfasser dieser Schreiben sei sich der BF1 zwar nicht gänzlich im Klaren, doch nehme er an, dass diese von den Kämpfern stammen würden, da deren Wortlaut gewesen wäre "Wir werden uns für unsere Brüder rächen." Befragt, ob er jemals Schwierigkeiten mit den Behörden im Heimatstaat gehabt habe, verneinte der BF1 dies. Er sei heuer vorgeladen worden, da ein Mord aus dem Jahr 2008 untersucht worden sei, bei welchem er sich in der Nähe des Tatortes befunden habe. Jedoch sei alles überprüft und festgestellt worden, dass alles in Ordnung sei und habe der BF1 diesbezüglich keine Probleme. Der zweite Grund sei, dass seine erstgeborene Tochter XXXX schwer krank sei - man habe bei dieser im Herkunftsstaat eine schwere Blutkrankheit, Leukämie, diagnostiziert. Der BF1 habe sich im Jänner 2013 einen Auslandsreisepass ausstellen lassen und habe im Juni 2013 mit der BF2 und seiner erstgeborenen Tochter das Herkunftsland verlassen. Der BF1 wisse nicht, was ihn bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat erwarten würde, doch sei es so, dass jeder zweite Mitarbeiter der Strukturen von den Kämpfern getötet werde.
Der BF1 legte als Beweismittel u.a. einen Militärausweis, ein Wehrdienstbuch, Fotos von einem Berufskollegen, der bereits getötet worden sei, sowie ein Kurzvideo, welches auch auf YouTube zu finden sei, und einen Vorfall vom 28.06.2013 zeige, bei welchem der erwähnte Kollege von eigenen Leuten erschossen worden sei, da man diesen beschuldigt habe, eine Bombe gelegt zu haben, vor.
Die BF2 machte keine eigenen Fluchtgründe geltend, sondern brachte im Wesentlichen vor, wegen der Sicherheit ihres Mannes und der Erkrankung ihrer Tochter in Österreich bleiben zu wollen.
Aus einer seitens des Bundesasylamtes eingeholten ärztlichen Auskunft durch den behandelnden Arzt eines Krankenhauses vom 20.10.2013 ging hervor, dass es sich bei der Erkrankung der erstgeborenen Tochter XXXX um eine vermutlich genetisch bedingte schwere Erkrankung handle, die zurzeit allerdings stabilen Verlauf zeige, weshalb eine spezifische Therapie derzeit nicht erforderlich sei. Inwieweit künftig Therapien nötig sein werden, lasse sich nur aus der klinischen Beobachtung ableiten und könne dies nicht verlässlich prognostiziert werden. Die Patientin werde daher einmal monatlich im Krankenhaus kontrolliert und werde das weitere Vorgehen mit einer Universitätsklinik abgesprochen. Hinsichtlich einer Operation werde ausgeführt, dass eine Stammzell- bzw. Knochenmarkstransplantation in Diskussion gestanden habe. Eine solche sei jedoch derzeit aus verschiedenen Gründen nicht vorgesehen, könne für die Zukunft jedoch auch nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Aus diesem Grund sei derzeit auch keine Rehabilitation geplant, sondern beschränke sich die derzeitige Betreuung der Minderjährigen auf regelmäßige klinische- und Laborkontrollen, um bei einer allfälligen Verschlechterung die notwendigen Maßnahmen einleiten zu können.
Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 22.11.2013 zu den Zlen. 13 07.298-BAG, 13 07.299-BAG und 13 07.301-BAG, wies das Bundesasylamt die Anträge auf internationalen Schutz des BF1, der BF2 und ihrer erstgeborenen Tochter bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 BGBl I Nr. 100/2005 (Spruchpunkt I), sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz (Spruchpunkt II), jeweils ab und verfügte zugleich gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz die Ausweisung der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation (Spruchpunkt III). Das Bundesasylamt ging in seinen Feststellungen und seiner Beweiswürdigung davon aus, dass das Vorbringen des BF1 zu seinem Fluchtgrund, aus Angst vor Widerstandskämpfern das Herkunftsland verlassen zu haben, nicht glaubwürdig sei. Der BF1 und die BF2 hätten aufgrund der Erkrankung der Tochter und in Hoffnung auf eine bessere medizinische Behandlung ihr Land verlassen. Bezüglich der Erkrankungen der erstgeborenen Tochter sei aus den Angaben der BF in Zusammenschau mit den vorgelegten Unterlagen ersichtlich, dass eine Behandlung im Herkunftsstaat gewährleistet sei. Aus einer seitens des Bundesasylamtes eingeholten ärztlichen Auskunft ergebe sich weiters, dass ihre Erkrankung einen stabilen Verlauf zeige und eine spezifische Therapie nicht erforderlich sei. Ebenso seien eine Stammzell- bzw. Knochenmarkstransplantation sowie eine Rehabilitation nicht vorgesehen. Der Judikatur des EGMR folgend seien bei der Gewährung subsidiären Schutzes nur solche Erkrankungen relevant, welche bekanntermaßen zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen und für welche grundsätzliche keine Behandlungsmöglichkeit im Zielstaat bestehe. Bei prinzipiellem Vorhandensein einer entsprechenden Behandlungsmöglichkeit sei es unerheblich, ob diese nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver sei. Die BF2 habe keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.
Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 01.09.2014, Zlen. W103 1439218-1/3E, W103 1439219-1/5E und W103 1439220-1/9E hinsichtlich Spruchpunkt I. der bekämpften Bescheide gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen. Hinsichtlich Spruchpunkt II. wurde den Beschwerden stattgegeben und gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der erstgeborenen Tochter XXXX und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 den BF1 und der BF2 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt, wobei ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 01.09.2015 befristete Aufenthaltsberechtigungen erteilt wurden.
Zur Abweisungsentscheidung wurde begründend im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF1 nicht glaubhaft gemacht habe, in der Russischen Föderation eine Verfolgung durch staatliche Behörden befürchten zu müssen, in eine hoffnungslose Lage zu kommen, einem realen Risiko einer sonstigen Verfolgung oder einer Verletzung seiner Rechte auf Leben, nicht unmenschlicher Behandlung oder Folter unterworfen zu werden und/oder nicht der Todesstrafe zu unterliegen und als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes unterworfen zu sein. Die BF2 habe keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.
Zur stattgebenden Entscheidung wurde im Wesentlichen begründend ausgeführt, dass die dreijährige erstgeborene Tochter der BF an einem komplexen und schwerwiegenden Krankheitsbild (Diagnose: Ost XXXX ) leide, wobei aufgrund einer zuletzt stattgefundenen erheblichen Verschlechterung ihres Blutbildes ihr nunmehr in regelmäßigen Abständen Bluttransfusionen verabreicht würden. Bei einer Prognose im Hinblick auf eine allfällige Abschiebung in die Russische Föderation (Inguschetien) könne bei Beachtung der konkreten Einzelsituation in ihrer Gesamtheit vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsstaat unter Berücksichtigung der zuletzt stattgefundenen akuten Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass sich bei einer Rückkehr zum Entscheidungszeitpunkt zum einen ihr Gesundheitszustand nicht massiv verschlechtere und zum anderen eine effiziente und zugleich zugängliche medizinische Betreuung und Versorgung gegeben sei, weshalb sie bei einer Verbringung in ihren Herkunftsstaat in eine als unmenschlich zu bezeichnende Lage geraten könnte. Aus diesem Grund sei ihr der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Aufgrund des vorliegenden Familienverfahrens sei auch ihren Eltern gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen.
1.2. Im Februar 2015 wurde die Drittbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF3), die jüngere Tochter des BF1 und der BF2, im Bundesgebiet geboren. Für sie wurde am XXXX ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) vom 17.03.2015, Zl. 1053046207/150240785, wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I), und der BF3 gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt, wobei ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine bis zum 01.09.2015 befristete Aufenthaltsberechtigungen erteilt wurde.
Die erstgeborene Tochter XXXX des BF1 und der BF2 ist am 26.04.2015 im Bundesgebiet verstorben.
Auf Antrag der BF vom 20.08.2015 wurde ihnen zufolge des behaupteten weiteren Vorliegens der Voraussetzungen mit Bescheiden des Bundesamtes vom 24.08.2015 eine weitere befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 01.09.2017 erteilt.
2.1. Am 10.07.2017 beantragten die BF die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005.
Dazu wurden die BF1 am 04.09.2017 beim Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Der BF1 brachte zusammengefasst vor, dass sich in Bezug auf seine Asylgründe keine Änderungen ergeben hätten. Der BF1 habe in seinem Bataillon an Sonderaktionen in den Wäldern von Inguschetien teilgenommen und die Leute in Inguschetien würden wissen, wer zu dem Bataillon gehört habe und was sie gemacht hätten. Im Bataillon seien etwa 250 - 300 Leute gewesen. Sie seien immer noch bedroht. Aufgefordert, zu erklären, weshalb er aktuell noch immer eine Bedrohung befürchte, gab der BF1 an: "Ich weiß, dass bei uns niemand, der so eine Arbeit macht, in Ruhe gelassen wird. Ich wäre sonst gerne zu meiner alten Mutter gefahren, die sonst niemanden hat, der auf sie schauen könnte." Danach befragt, ob es konkrete Vorfälle gegeben habe, die diesen Schluss zulassen, erklärte der BF1: "Ich kenne nur die Gesamtsituation, meine Mutter hat mir nur kürzlich erzählt, dass zwei meiner Kollegen getötet worden sind. Es wird aber meist geheim gehalten, damit keine Panik ausbricht." Auf die Frage, ob man dies nach recherchieren könne, gab der BF1 an, dass sie dies nicht preisgeben würden, dies sei eine staatliche Aufklärung. Befragt, ob er bei einer Rückkehr ins Herkunftsland seitens der Regierung eine Bedrohung zu befürchten hätte, führte der BF1 aus, dass er dies nicht wisse. Ein Freund sei von der Polizei getötet worden und sei diesem vorgeworfen worden, für Terroristen Waffen geschmuggelt zu haben. Der BF1 könne keine neuen Beweismittel vorlegen. Er habe noch die Mutter in XXXX , zwei Schwestern in Inguschetien und einen Bruder in XXXX . In Österreich habe er einen Monat probeweise gearbeitet und Bewerbungen geschrieben, aber bisher keine Anstellung erhalten. Er bestreite seinen Lebensunterhalt in Österreich von der Sozialhilfe. Er habe Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 erworben. In seiner Freizeit besuche er ein Fitnesscenter, Kurse und eine Organisation, welche ihn bei der Arbeitssuche unterstütze. Er sei hauptsächlich bei seiner Familie, seine Tochter (BF3) sei gesund. Die BF2 brachte im Wesentlichen vor, dass ihre älteste Tochter verstorben sei, als ihre zweite Tochter (BF3) drei Monate alt gewesen sei. Dies hätten sie in der Annahme, dies würde automatisch gemeldet, der Behörde nicht mitgeteilt. Ihre Eltern würden in XXXX leben. Sie sei in Österreich nicht erwerbstätig und kümmere sich um ihr Kind. Sie bestreite ihren Lebensunterhalt durch die Sozialhilfe.
2.2. Mit den nunmehr angefochtenen, oben angeführten Bescheiden des Bundesamtes wurde der den BF zuerkannte subsidiäre Schutz gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), die ihnen erteilte Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.), den BF ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.), gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend führte das Bundesamt aus, dass eine Überprüfung der Voraussetzungen zum Verlängerungsantrag der BF vom 11.07.2017 betreffend die befristete Aufenthaltsberechtigung ergeben habe, dass ihre erstgeborene Tochter verstorben sei. Da die erforderliche medizinische Versorgung ihrer verstorbenen Tochter den Grund für die Gewährung von subsidiärem Schutz an die gesamte Familie gebildet habe, lägen nach deren Ableben die Voraussetzungen hiefür nicht mehr vor. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die BF nach einer gemeinsamen Rückkehr in die Russische Föderation in eine ausweglose Situation geraten würden. Es bestehe ein gemeinsames Familienleben der BF in Österreich, die BF seien nicht erwerbstätig, ausgeprägte soziale Kontakte seien nicht hervorgekommen. Da die BF in der Russischen Föderation aufgewachsen seien bzw. noch über familiäre Anknüpfungspunkte verfügten, sei noch von einer Bindung zum Herkunftsstaat auszugehen, welche jene zu Österreich überwiege. Ihre Abschiebung sei mangels Vorliegens von Gründen gemäß § 50 FPG zulässig.
Mit Verfahrensanordnung vom 13.10.2017 wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
2.3. Gegen diese Bescheide wurde seitens des bevollmächtigten Rechtsberaters der BF für diese binnen offener Frist Beschwerde erhoben. Darin wurde ausgeführt, dass die Behörde dem angefochtenen Bescheid teilweise keine aktuellen Länderfeststellungen zu Grunde gelegt habe, was jedoch im Hinblick auf eine Abschiebung der BF erforderlich gewesen wäre. Die Behörde berufe sich in ihren Feststellungen zur Lage in Inguschetien auf unvollständige und teilweise veraltete Länderberichte. Aus aktuellen Medienberichten gehe hervor, dass es 2017 zu weitaus mehr bewaffneten Auseinandersetzungen in Inguschetien gekommen sei, als in den Vorjahren. Erst jüngst seien in Inguschetien im Laufe lediglich einer Woche 5 Personen durch Rebellen getötet worden und noch mehr verletzt. Auch anhand von Echtzeitdaten zeige sich, dass in Inguschetien laufend Todesopfer infolge des bewaffneten Konfliktes zu beklagen seien. Außerdem sei der Sachverhalt zur Integration der BF nicht ausreichend ermittelt worden. So habe der BF1 eine A2 Prüfung bestanden und sei bemüht, Arbeit zu finden, wobei er bereits mehrmals zur Probe angestellt worden sei. Die BF2 leide nach dem Tod ihrer Tochter unter akuten Depressionen und es sei nicht ermittelt worden, ob psychische Erkrankungen in der Russischen Föderation behandelt würden. Eine Rückkehr sei der BF2 wegen der fehlenden medizinischen Versorgung nicht zumutbar. Trotz der außerordentlich schweren Umstände und schmerzhaften Erfahrungen im Zusammenhang mit der Erkrankung und dem Tod ihrer Tochter seien die BF bestrebt, ihre Integration zügig voranzutreiben. Ua. wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
2.4. In der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 26.06.2018 beim Bundesverwaltungsgericht, zu der ein Vertreter des Bundesamtes entschuldigt nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme der BF in Anwesenheit einer Dolmetscherin der russischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes, wobei das Bundesamt lediglich schriftlich die Abweisung der Beschwerde beantragte.
Der BF1 brachte im Wesentlichen wie bisher vor, dass er von Jänner 2010 bis Sommer 2012 aufgrund eines befristeten Vertrags Berufssoldat gewesen sei und in diesem Zusammenhang in Wäldern Operationen durchgeführt habe, wo sie Kameraden verloren hätten und ihre Gegner getötet hätten. Der BF1 sowie auch die anderen hätten Bedrohungsbriefe bekommen. Nachgefragt, stellte der BF1 klar, dass er keine konkrete Familie benennen könne, die eine Blutrachedrohung gegen ihn ausgesprochen habe. Die Drohungen seien anonym. Auf konkretes Nachfragen hinsichtlich der Operationen, an dem der BF1 teilgenommen habe, gab dieser letztlich zu verstehen, dass er insgesamt während seiner gesamten Militärzeit an drei Gefechten mit Schusswechsel teilgenommen habe. Er konnte auf Nachfragen weder den Namen des Kommandanten nennen, der seine Einheit bei seinem ersten Gefecht geleitet hat, noch seine damaligen Gegner näher bezeichnen. Der BF konnte von sich aus, ohne Zuhilfenahme von Unterlagen, auch nicht die Nummer seines Bataillons nennen. Danach befragt, ob er vom Kameraden wisse, die außerhalb von Gefechten ermordet worden seien oder gegen die Anschläge verübt worden seien, gab der BF1 an, dass ihm seine Mutter erzählt hätte, dass jemand umgebracht worden sei, den der BF1 aber persönlich nicht kenne. In seinem Bataillon hätten 300 Soldaten gedient. Danach befragt, ob er aus seinem Bekanntenkreis jemanden kenne, dem etwas passiert sei, gab der BF1 an, dass ein Freund von ihm, der auch Soldat im Bataillon gewesen sei, 2011 von Polizisten getötet worden sei. Danach befragt, ob er auch Angst vor der Polizei habe, bestätigte der BF1 dies und gab dazu an, dass er nicht wisse, vor welcher Seite er sich schützen solle. Danach befragt, ob er jemals in Inguschetien Probleme mit den Behörden oder der Polizei gehabt hätte, gab er an, keine riesigen Probleme mit der Polizei gehabt zu haben, jedoch zweimal von der Polizei im Zusammenhang mit der Ermordung der XXXX befragt worden zu sein. Auf Vorhalt, dass er in diesem Zusammenhang in seinem ersten Verfahren angegeben habe, dass alles in Ordnung sei und er deshalb keine Probleme habe, erklärte der BF, dass er offiziell nicht als verdächtig erklärt worden sei, im jedoch mitgeteilt worden sei, dass er Inguschetien nicht verlassen dürfe und er noch eine Ladung bekommen solle. Nachgefragt, ob er eine derartige Ladung bekommen habe, gab der BF1 an, dass ihm seine Mutter diesbezüglich nichts mitgeteilt hätte.
Die BF2 brachte im Wesentlichen vor, dass sie befürchte, dass sie, ihre Tochter und die Schwiegermutter in Inguschetien von gegen den BF1 gerichteten Anschlägen betroffen sein könnten. Persönlich habe sie keine eigenen Probleme. Auch für die BF3 wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.
Hinsichtlich ihrer privaten Verhältnisse in Österreich brachten die BF mit Ausnahme einer Schwangerschaft der BF2 keine wesentlichen Änderungen gegenüber ihren Angaben bei Bundesamt am 04.09.2017 vor. Der BF1 habe zwischenzeitlich etwa 2 bis 3 Monate bei einem XXXX gearbeitet, die Arbeit jedoch aufgrund von Rückenproblemen beendet. Hinsichtlich ihrer Gesundheit brachte die BF2 vor, dass sie eine medikamentöse Hormonersatztherapie wegen Schilddrüsenproblemen erhalte. Eine psychische Erkrankung wurde von der BF2 nicht vorgebracht. Die BF3 sei gesund.
Den BF wurden in der Verhandlung aktuelle Länderberichte zur Situation im Herkunftsland und insbesondere in Inguschetien dargetan und ihnen dazu eine zweiwöchige Frist für eine schriftliche Stellungnahme eingeräumt.
U.a. wurde für den BF1 ein ÖSD Zertifikat über eine gut bestandene Prüfung Deutsch A1 sowie eine Bestätigung einer Bildungsgesellschaft über die erfolgreiche Teilnahme an einem Sprachkurs Deutsch mit Seminarinhalt A2 vorgelegt.
In einer Stellungnahme vom 10.07.2018 wurde im Wesentlichen darauf hingewiesen, dass die Lage in sämtlichen autonomen Republiken des Nordkaukasus von einem Klima der staatlichen Willkür und gravierenden Menschenrechtsverletzungen geprägt sei und der Konflikt zwischen Regierungstruppen und Ausständischen weiterhin regelmäßig Opfer fordere. Die Sicherheitslage in Inguschetien sei - ebenso wie in Tschetschenin und Dagestan - als äußerst volatil eingestuft; dementsprechend würden Reisewarnungen sowohl des Auswärtigen Amtes als auch des österreichischen Außenministeriums bestehen. Aus den Feststellungen gehe hervor, dass im Jahr 2017 mindestens 24 Personen in Inguschetien Opfer des bewaffneten Konflikts geworden seien, wobei es so sei, dass in Inguschetien im Verhältnis zur Einwohnerzahl Tschetscheniens oder Dagestans mehr Opfer zu beklagen seien als in den zuletzt genannten Republiken. Auch würden aktuelle Berichte belegen, dass im Gegensatz zu Tschetschenien und Dagestan die Opferzahlen in Inguschetien im Jahr 2017 zugenommen hätten. In Ermangelung konkreter Berichte zur Situation in Inguschetien werde weiters auf eine Anfragebeantwortung zur Blutrache in Tschetschenien verwiesen, wonach es regelmäßig vorkomme, dass ganze Familien aus Angst vor Blutrache flüchten müssen, wobei in der Anfragebeantwortung dezidiert auf Familien von Sicherheitskräften Bezug genommen werde, sowie ausgeführt werde, dass für Betroffene keine Fluchtmöglichkeit in der Russischen Föderation existiere, da ihre Verfolger sie überall ausfindig machen könnten (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Russische Föderation - Blutrache in Tschetschenien, 27.06.2017). Auch wenn sich die Anfragebeantwortung auf Tschetschenien beziehe, könne kein Zweifel daran bestehen, dass dieselben Grundsätze auch für die benachbarte Heimatregion der BF gelten würden. Zusammenfassend müsse festgestellt werden, dass den BF nicht nur Verfolgung durch Aufständische aufgrund der früheren Tätigkeit des BF1 drohe, sondern ihnen eine Rückkehr nach Inguschetien auch aufgrund der äußerst volatilen Sicherheitslage nicht zugemutet werden könne. Dem Schreiben war der Mutter Kind Pass der BF 2 beigelegt, aus dem im Wesentlichen ein errechneter Geburtstermin für den XXXX sowie ein gynäkologisch unauffälliger Status hervorgeht. Weiters wurde für den BF1 in Kopie eine Dienstnehmer-Bestätigung über eine Anstellung bei einer Dienstleistungs-Gesellschaft im Ausmaß von 20 Wochenstunden seit 02.07.2018 beigelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Personen:
Aufgrund der der Entscheidung zugrundeliegenden Akten des Bundesamtes samt Beschwerdeschrift sowie des Bundesverwaltungsgerichtes steht nachstehender entscheidungswesentlicher Sachverhalt als erwiesen fest:
Der BF1 und die BF2 sind verheiratet, sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, stammen aus Inguschetien, sind sunnitisch-muslimischen Glaubens. Ihre Identität steht fest.
Sie stellten am 03.06.2013 gemeinsam mit ihrer erstgeborenen Tochter Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet, welche mit Erkenntnissen des BVwG vom 01.09.2014 in Bezug auf Asyl wegen der Unglaubwürdigkeit der vom BF1 geltend gemachten Fluchtgründe abgewiesen wurden und wozu den BF wegen der äußerst schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung ihrer erstgeborenen Tochter subsidiärer Schutz (im Familienverfahren) gewährt sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 01.09.2015 erteilt wurden. Der im Bundesgebiet nachgeborenen BF3 wurde auf ihren Antrag vom 26.02.2015 subsidiärer Schutz im Familienverfahren gewährt und ihr ebenfalls eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 01.09.2015 erteilt. Die erstgeborene Tochter der BF1 und BF2 ist am XXXX verstorben.
Es ist nicht glaubhaft, dass dem BF1 bei der Rückkehr in die Russische Föderation Verfolgung oder eine Art. 3 EMRK widersprechende Lage droht. Die BF leiden an keinen schwerwiegenden Krankheiten. Die BF1 und BF2 mit Schul- und Berufsausbildung (Tierarzt, Schneiderin) bzw. -erfahrung (Berufssoldat, Wachdienst) in der Russischen Föderation sind in einem erwerbsfähigen Alter und verfügen über familiäre (Eltern, Geschwister) sowie verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte (Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen) im Herkunftsstaat, auch außerhalb Inguschetiens.
Die BF sind seit etwa 5 Jahren in Österreich aufhältig. Der BF1 konnte Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 nachweisen und hat Kenntnisse auf dem Niveau A2 erworben, die BF2 hat erst kürzlich mit einem Deutschkurs begonnen. Sie beziehen die staatliche Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Der BF1 hat bisher mit Unterbrechungen in Summe knapp 5 bis 6 Monate im Bundesgebiet gearbeitet, und geht offenbar seit 02.07. einer Halbtagsbeschäftigung (20 Stunden pro Woche) nach. Die BF2 ist bisher noch keiner Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nachgegangen. Die BF3 besucht den Kindergarten. Die BF sind strafrechtlich unbescholten.
Die BF2 ist schwanger, wobei ein errechneter Geburtstermin laut Mutter Kind Pass mit XXXX datiert wurde.
1.2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den, den BF im Rahmen des Beschwerdeverfahrens zur Kenntnis gebrachten Feststellungen zur Russischen Föderation ausgegangen. Die Situation im Herkunftsland hat sich seit dem Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung in den gegenständlich relevanten Punkten nicht entscheidungswesentlich verändert.
1. Politische Lage
Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).
Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).
Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).
Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,
http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017
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CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017
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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017
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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017
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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017
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Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,
https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017
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RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,
http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017
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Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,
http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017
2. Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).
Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).
Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS - v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom 2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei 220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000 militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau 12.2016).
Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - der Einsatz von Artillerie und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen Streitkräften in Latakia - hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch 10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300 Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet werden, dürften sie von der Eliteeinheit Speznas innerhalb der tschetschenischen Streitkräfte rekrutiert worden sein (FP 4.5.2017).
Für den Kreml hat der Einsatz der nordkaukasischen Brigaden mehrere Vorteile. Zum einen reagiert die russische Bevölkerung sehr sensibel auf Verluste der russischen Armee in Syrien. Verluste von Personen aus dem Nordkaukasus würden wohl weniger Kritik hervorrufen. Zum anderen ist der wohl noch größere Vorteil jener, dass sowohl Tschetschenen, als auch Inguscheten fast alle sunnitische Muslime sind und somit derselben islamischen Richtung angehören, wie ein Großteil der syrischen Bevölkerung. Die mehrheitlich sunnitischen Brigaden könnten bei der Bevölkerung besser ankommen, als ethnisch russische Soldaten. Außerdem ist nicht zu vernachlässigen, dass diese Einsatzkräfte schon über Erfahrung am Schlachtfeld verfügen, beispielsweise vom Kampf in der Ukraine (FP 4.5.2017).
Bis jetzt war der Einsatz der tschetschenischen und inguschetischen Bodentruppen auf Gebiete beschränkt, die für den Kreml von entscheidender Bedeutung waren. Obwohl es momentan eher unwahrscheinlich scheint, dass die Rolle der nordkaukasischen Einsatzkräfte bald ausgeweitet wird, agieren diese wohl weiterhin als die Speerspitze in Moskaus Strategie, seinen Einfluss in Syrien zu vergrößern (FP 4.5.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.7.2017b): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 21.7.2017
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FAZ (26.4.2017):"Erst der Anfang", http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/anschlag-in-st-petersburg-russland-steht-im-visier-von-terror-14989012.html, Zugriff 21.7.2017
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FP - Foreign Policy (4.5.2017): Putin has a new secret weapon in Syria: Chechens,
http://foreignpolicy.com/2017/05/04/putin-has-a-new-secret-weapon-in-syria-chechens/, Zugriff 21.7.2017
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ICG - International Crisis Group (14.3.2016): The North Caucasus Insurgency and Syria: An Exported Jihad?
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1458642687_238-the-north-caucasus-insurgency-and-syria-an-exported-jihad.pdf, S. 16-18, Zugriff 21.7.2017
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ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation
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Mena Watch (10.5.2017): Russland setzt auf sunnitische Soldaten in Syrien,
http://www.mena-watch.com/russland-setzt-auf-sunnitische-soldaten-in-syrien/, Zugriff 21.7.2017
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Standard (25.4.2017): Al-Kaida reklamiert Anschlag auf U-Bahn in St. Petersburg für sich,