TE OGH 2018/7/4 7Ob45/18w

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Veröffentlicht am 04.07.2018
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der „Bewohnerin“ A***** D*****, geboren am ***** 1981, *****, vertreten durch den Verein VertretungsNetz, Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Bewohnervertreterin Mag. M*****), *****, vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Sachwalter Dr. F***** M*****, Einrichtungsleiter E***** L*****, vertreten durch Dr. Friedrich Schwarzinger, Rechtsanwalt in Wien, wegen Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung gemäß §§ 11, 19a HeimAufG, über den Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters gegen den Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis als Rekursgericht vom 17. Jänner 2018, GZ 14 R 9/18a-21, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Braunau am Inn vom 4. Dezember 2017, GZ 2 Ha 1/17g-9, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revisionsrekurs wird, soweit er sich gegen die Unzulässigerklärung des Versperrens der Zimmertüre, der Verabreichungen der Medikamente Nonzinan, Temesta, Dominal, Depakine, Seroquel, Trittico, Risperdal, Cirsordinol, Depot sowie der Bedarfsmedikation Temesta richtet, zurückgewiesen.

Betreffend die Unzulässigerklärung des Festhaltens am 29. Juni und 23. September 2017 werden aus Anlass des Revisionsrekurses die Beschlüsse der Vorinstanzen samt den insoweit durchgeführten Verfahren als nichtig aufgehoben und der Überprüfungsantrag wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die „Bewohnerin“ leidet seit dem Kleinkindalter an einer schweren Intelligenzminderung mit Verhaltensauffälligkeit, einer autistischen Psychopathie und einer Störung des Sozialverhaltens. Die „Bewohnerin“ wuchs zunächst bei Pflegeeltern auf, später wurde sie in einer Einrichtung betreut.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz zu 4 Hv 74/08d wurde die „Bewohnerin“ in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen, weil sie im Behindertenpflegeheim innerhalb weniger Tage mehrfach zwei Mitbewohner vorsätzlich attackiert und diesen schwere Verletzungen zugefügt hatte. Da von einer Unzurechnungsfähigkeit aufgrund ihrer psychischen Erkrankung zum Tatzeitpunkt ausgegangen wurde, sprach das Gericht die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher im Sinn des § 21 Abs 1 StGB aus.

Die „Bewohnerin“ befand sich vom 16. 4. 2008 an in der S*****-Klinik in *****, wo sie der dortigen Akut-Psychiatrie zum Maßnahmenvollzug zugewiesen war. Mit 8. 7. 2010 wurde sie an die forensisch-psychiatrische Abteilung des LKH M***** überstellt. Mit 21. 2. 2012 übernahm die Justizanstalt S***** den Maßnahmenvollzug bei der „Bewohnerin“, die aber weiterhin im Landesklinikum M***** betreut wurde.

Die „Bewohnerin“ hielt sich seit 16. 1. 2017 in der Einrichtung auf. Mit Beschluss vom 18. 5. 2017 bewilligte das Landesgericht St. Pölten zu 15 BE 197/17v über Antrag des Landesklinikums M***** eine Unterbrechung der Unterbringung bei der „Bewohnerin“ für die Dauer von einem Monat. Diese Unterbrechung stellte für die „Bewohnerin“ den nächsten sinnvollen Behandlungsschritt dar. Aufgrund des intensiv betreuten Settings nahm die Intensität der Impulsdurchbrüche bei der „Bewohnerin“ ab. Die Grunderkrankung pendelte sich auf einem gleichbleibenden Niveau ein. Nach dem Ende der bewilligten Unterbrechungsfrist erging kein neuerlicher Beschluss des Vollzugsgerichts. Die „Bewohnerin“ blieb aber weiter in der Einrichtung.

Die „Bewohnerin“ verbrachte den größten Teil ihres Tages und die Nacht in einem Zimmer, wobei von Seiten der Einrichtung die Zimmertüre versperrt blieb. Sie erhielt auf fachärztliche Anweisung des Landesklinikums M***** die Medikamente Nozinan, Temest, Dominal, Depakine, Seroquel, Trittico, Risperdal und Cisordinol, Depot sowie die Bedarfsmedikation Temesta. Sie wurde weiters am 29. 6. und 23. 9. 2017 nach Angriffen auf Betreuerinnen festgehalten. Die Einrichtung meldete die Freiheitsbeschränkungen bei der „Bewohnerin“ an deren Vertreter oder Vertrauenspersonen nicht. Ein ärztliches Dokument wurde nicht eingeholt. Die „Bewohnerin“ wurde über die Anordnung der Freiheitsbeschränkungen nicht aufgeklärt. Eine schriftliche Dokumentation der Freiheitsbeschränkungen wurde nicht angefertigt.

Das Erstgericht erklärte die an der „Bewohnerin“ vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen durch Versperren der Zimmertüre, Verabreichung der im Spruch bezeichneten Medikamente und das Festhalten am 29. 6. und 23. 9. 2017 für unzulässig. Es führte rechtlich aus, dass die Bestimmungen des HeimAufG nicht auf Einrichtungen anzuwenden seien, die während der Unterbrechung des Maßnahmenvollzugs als Zwischenphase vor der endgültigen bzw bedingten Entlassung damit betraut würden, den untergebrachten Rechtsbrecher auf das zukünftige Leben in Freiheit vorzubereiten. Allerdings seien Unterbrechungen der Unterbringung zeitlich auf einen Zeitraum bis zu einem Monat beschränkt und das Vollzugsgericht habe hier auch nur eine Unterbrechung für diese Dauer bewilligt. Seither lebe aber die „Bewohnerin“ weiterhin in der Einrichtung, obwohl sie sich nach Ablauf der bewilligten Frist nicht mehr im Maßnahmenvollzug und nicht mehr im Status der Unterbrechung der Unterbringung befunden habe. Da die Unterbrechung der Unterbringung nicht mehr aufrecht sei, bestehe auch keine durch das Vollzugsgericht wahrzunehmende Kontrolle mehr über die vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen, was zur Anwendung des HeimAufG führe. Mangels Dokumentation, Aufklärung und Verständigung über die vorgenommenen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen seien diese schon aus formellen Gründen für unzulässig zu erklären gewesen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Einrichtungsleiters nicht Folge. Es vertrat ebenfalls die Rechtsansicht, dass sich die „Bewohnerin“ seit Ablauf der Unterbrechungsfrist nicht mehr im Status der Unterbringung befunden habe, weshalb grundsätzlich die Bestimmungen des HeimAufG zur Anwendung gelangten. Die hier zu beurteilende Einrichtung falle in den Geltungsbereich des § 2 Abs 1 HeimAufG und die „Bewohnerin“ sei unter Verletzung der formellen Bestimmungen der §§ 5 bis 7 HeimAufG Freiheitsbeschränkungen unterzogen worden. Der Beschluss des Erstgerichts sei daher zu bestätigen gewesen.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung fehle, inwieweit den Bestimmungen des HeimAufG der Vorrang gegenüber der Unterbringung im Rahmen des Strafvollzugs und zwar in Einrichtungen, die im Gesetz (§ 158 StVG) keine ausdrückliche Erwähnung fänden, zukomme.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass der Überprüfungsantrag abgewiesen werde. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Bewohnervertretung erstattete eine Revisionsrekursbeantwortung mit dem Antrag, dem Revisionsrekurs keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist, soweit er sich gegen die zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung noch aufrechten Freiheitsbeschränkungen richtet, verspätet; soweit der Revisionsrekurs die nachträgliche Überprüfung des Festhaltens am 29. 6. und 23. 9. 2017 betrifft, war aus dessen Anlass die den Entscheidungen der Vorinstanzen sowie den insoweit durchgeführten Verfahren anhaftende Nichtigkeit, deren Vorliegen immer eine erhebliche Rechtsfrage begründet, aufzugreifen und die Unzulässigkeit des Zivilrechtswegs wahrzunehmen.

I. Zur Zurückweisung des Revisionsrekurses:

1. Das Erstgericht erklärte die Freiheitsbeschränkung der Bewohnerin durch das Versperren der Zimmertüre, durch Verabreichungen der Medikamente Nonzinan, Temesta, Dominal, Depakine, Seroquel, Trittico, Risperdal, Cirsordinol, Depot sowie der Bedarfsmedikation Temesta für unzulässig. In diesem Umfang hatte die Entscheidung des Erstgerichts die Überprüfung damals noch aufrechter freiheitsbeschränkender Maßnahmen zum Gegenstand.

2. Gemäß § 16 Abs 2 HeimAufG kann der Leiter der Einrichtung gegen den Beschluss, mit dem eine (noch aufrechte) Freiheitsbeschränkung für unzulässig erklärt wird, innerhalb von sieben Tagen ab Zustellung Rekurs erheben. Die 7-tägige Rechtsmittelfrist des § 16 Abs 2 HeimAufG gilt nach ständiger Rechtsprechung auch im Revisionsrekursverfahren (7 Ob 111/14w; 7 Ob 110/14y; RIS-Justiz RS0121356).

3. Den Beschluss des Rekursgerichts, mit dem der Beschluss des Erstgerichts bestätigt wurde, erhielt der Einrichtungsleiter am 30. 1. 2018 zugestellt. Der Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters wurde am 9. 2. 2018 im ERV eingebracht. Die dem Einrichtungsleiter offenstehende Rechtsmittelfrist endete daher am 6. 2. 2018. Der erst am 9. 2. 2018 elektronisch eingebrachte Revisionsrekurs ist daher verspätet und war deshalb, soweit er sich gegen die seinerzeit noch aufrechten Freiheitsbeschränkungen richtete, als verspätet zurückzuweisen.

II. Zur Zurückweisung des Überprüfungs-antrags:

1. Der Überprüfungsantrag betreffend das Festhalten der „Bewohnerin“ am 29. 6. und 23. 9. 2017 richtete sich gegen eine zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung bereits aufgehobene freiheitsbeschränkende Maßnahme. Es handelte sich insoweit um einen Überprüfungsantrag nach § 19a HeimAufG. In diesem Fall beträgt auch für den Leiter der Einrichtung die Rechtsmittelfrist 14 Tage (7 Ob 140/13h); insoweit ist der Revisionsrekurs rechtzeitig. In diesem Umfang war aus Anlass des Revisionsrekurses die den Entscheidungen der Vorinstanzen anhaftende Nichtigkeit und die Unzulässigkeit des Zivilrechtswegs wahrzunehmen.

2. Der Fachsenat hat sich bereits jüngst in der Entscheidung 7 Ob 19/17w mit der Abgrenzung zwischen dem Strafvollzug, namentlich für den Fall der Unterbrechung des Maßnahmenvollzugs, und der Anwendbarkeit des HeimAufG befasst. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach § 2 Abs 2 HeimAufG dieses Bundesgesetz ua nicht auf Anstalten für geistig abnorme und entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher anzuwenden ist. Die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ist ausschließlich nach den strafrechtlichen Bestimmungen zu beurteilen.

3. Die Unterbringung geistig abnormer Rechtsbrecher ist nach § 158 Abs 1 StVG in dafür besonders bestimmten Anstalten oder Außenstellen der Anstalten zu vollziehen. Nach § 158 Abs 4 StVG darf die Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB unter bestimmten Voraussetzungen auch durch Aufnahme in eine öffentliche Krankenanstalt für Psychiatrie vollzogen werden. Die Vollziehung der Unterbringung nach § 21 StGB ist aber ausschließlich in den in § 158 StVG genannten Einrichtungen zulässig (VwGH 2006/10/0221).

4. § 166 Z 2 StVG sieht allerdings entsprechend der Unterbrechung des Strafvollzugs die Unterbrechung des Vollzugs der Unterbringung vor, geht aber in Z 2 lit b darüber hinaus und lässt die Unterbrechung auch zu, soweit dies zur Behandlung des Zustands des Untergebrachten oder zur Vorbereitung auf das Leben in Freiheit notwendig oder zweckmäßig erscheint. In diesem Fall darf das zeitliche Ausmaß der Unterbrechung bis zu einem Monat betragen, wobei über eine Unterbrechung von mehr als 14 Tagen das Vollzugsgericht entscheidet.

5. Der Fachsenat ist in der bezeichneten Vorentscheidung zum Ergebnis gekommen, dass sich der Untergebrachte auch während der Unterbrechung der Unterbringung und seines daraus resultierenden Aufenthalts in der belangten Einrichtung zwar nicht im Maßnahmenvollzug befindet (7 Ob 19/17w; 10 ObS 214/97m = RIS-Justiz RS0108630; vgl auch VwGH 2006/10/0221), dieser aber insofern fortwirkt, als Verstöße gegen in seinem Rahmen erteilte Auflagen von der Strafvollzugsbehörde durch Widerruf der Unterbrechung geahndet werden können. Solche Verstöße fallen daher in den Bereich und die Zuständigkeit des Strafvollzugs, sodass insoweit trotz Unterbrechung das strafvollzugsrechtliche Kontrollregime aufrecht bleibt.

6. Der vorliegende Fall zeichnet sich im Gegensatz zur Vorentscheidung dadurch aus, dass die für die Unterbrechung der Unterbringung bewilligte Frist abgelaufen war und die Untergebrachte trotzdem weiterhin in der Einrichtung verblieb. Daraus folgt allerdings – entgegen der Ansicht der Vorinstanzen – nicht der Zivilrechtsweg mit dem Überprüfungsregime des HeimAufG:

Gemäß § 25 Abs 2 StGB kann eine vorbeugende Maßnahme nur durch das (Straf-)Gericht aufgehoben werden. Gemäß § 99 Abs 3 StVG hat der Verurteilte die Strafe spätestens mit Ablauf des Zeitraums, für den die Unterbrechung bewilligt worden ist, wieder anzutreten. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, so hat der Anstaltsleiter die Vorführung zu veranlassen (vgl Drexler/Weger StVG3 § 99 Rz 5). Diese Rechtslage gilt sinngemäß auch für die Unterbrechung der Unterbringung (§ 165 Abs 2, 166 Z 2 StVG). Nach Ablauf der zunächst für die Unterbrechung der Unterbringung bewilligten Frist hätten demnach die Strafvollzugsbehörden die „Bewohnerin“ wieder der Unterbringung zuführen oder allenfalls neuerlich eine Unterbrechung bewilligen müssen (vgl dazu auch Drexler/Weger StVG3 § 166 Rz 2). Allein die (vorläufige) Untätigkeit der Strafvollzugsbehörden beendet nicht das weiterhin aufrecht bleibende strafvollzugsrechtliche Eingriffs- und Kontrollregime, insbesondere den weiterhin möglichen Zugriff auf den Untergebrachten, und eröffnet daher nicht den Zivilrechtsweg samt Anwendbarkeit des HeimAufG. Der Überprüfungsantrag war daher, soweit es dabei um einen solchen nach § 19a HeimAufG handelte, mangels Zulässigkeit des Zivilrechtswegs zurückzuweisen.

Textnummer

E122282

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:0070OB00045.18W.0704.000

Im RIS seit

03.08.2018

Zuletzt aktualisiert am

11.02.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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