TE OGH 2018/7/17 10ObS62/18t

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Veröffentlicht am 17.07.2018
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martina Rosenmayr-Khoshideh (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Horst Nurschinger (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*****, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 19. April 2018, GZ 23 Rs 7/18b-24, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die 1947 geborene Klägerin ist Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina. Sie lebt seit 7. 12. 2016 dauerhaft mit ihrem Ehemann in Tirol. Sie verfügt über den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“, befristet von 5. 1. 2017 bis 5. 1. 2018. Im Revisionsverfahren nicht mehr strittig ist, dass sie einen Pflegebedarf von monatlich 67 Stunden entsprechend der Pflegestufe 1 hat.

Das Erstgericht sprach der Klägerin Pflegegeld der Stufe 1 „im gesetzlichen Ausmaß“ ab 1. 2. 2017 zu. Rechtlich ging es – soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich – davon aus, dass die Klägerin ihren Anspruch auf Pflegegeld mangels Anspruchs auf eine Grundleistung nicht auf § 3 BPGG stützen könne. Österreichische Staatsbürger ohne Grundleistung seien aber jenen Personen gleichgestellt, die über einen der in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG genannten Aufenthaltstitel („Blaue-Karte EU“, „Daueraufenthalt-EG“,„Daueraufenthalt-Familienangehöriger“ oder „Familien-angehöriger“) verfügen. Der Aufenthaltstitel der Klägerin („Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“) sei in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG nicht genannt. Gemäß § 3a Abs 2 Z 1 BPGG seien Fremde den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt, insoweit sich eine Gleichstellung aus Staatsverträgen oder Unionsrecht ergibt. Die Klägerin falle in den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Abkommens zwischen der Republik Österreich und Bosnien und Herzegowina über Soziale Sicherheit, BGBl III 2001/229. Dessen Art 4 Abs 1 stelle die Staatsangehörigen von Bosnien und Herzegowina den österreichischen Staatsangehörigen bei der Anwendung der Rechtsvorschriften, auf die sich das Abkommen bezieht, gleich. Die Klägerin sei daher aufgrund eines Staatsvertrags österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt und habe gemäß § 3a Abs 1 und Abs 2 Z 1 BPGG auch ohne Grundleistung Anspruch auf Pflegegeld.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts und ließ die Revision nicht zu.

Die außerordentliche Revision der beklagten Partei ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen:

In der Revision wird ausschließlich die Frage releviert, ob für den Anspruch auf Pflegegeld neben der sich aus Art 4 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und Bosnien und Herzegowina über Soziale Sicherheit, BGBl III 2001/229 ergebenden Gleichstellung kumulativ auch einer der in § 3 Abs 2 Z 4 BPGG genannten Aufenthaltstitel vorliegen müsse.

Die Revisionswerberin nimmt dazu den Standpunkt ein, eine Gleichstellung der Klägerin aufgrund des sozialrechtlichen Abkommens mit Bosnien und Herzegowina werde nicht bewirkt, weil dieses keine Regelung der aufenthaltsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen beinhalte. Der Pflegegeldanspruch der Klägerin wäre nur dann zu bejahen, wenn sie über einen der in § 3 Abs 2 Z 4 BPGG genannten Aufenthaltstitel verfügen würde.

Rechtliche Beurteilung

Mit diesem Vorbringen wird keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt:

1.1 § 3a. (1) BPGG lautet wie folgt:

„Anspruch auf Pflegegeld nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes besteht auch ohne Grundleistung gemäß § 3 Abs. 1 und 2 für österreichische Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, sofern nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ... nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist.

(2) Den österreichischen Staatsbürgern sind gleichgestellt:

1. Fremde, die nicht unter eine der folgenden Ziffern fallen, insoweit sich eine Gleichstellung aus Staatsverträgen oder Unionsrecht ergibt, oder

2. Fremde, denen gemäß § 3 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 38/2011, Asyl gewährt wurde, oder

3. Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht gemäß §§ 15a und 15b des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, oder gemäß §§ 51 bis 54a und 57 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, verfügen, oder

4. Personen, die über einen Aufenthaltstitel

a) 'Blaue Karte EU' gemäß § 42 NAG,

b) 'Daueraufenthalt-EG' gemäß § 45 NAG,

c) 'Daueraufenthalt-Familienangehöriger' gemäß § 48 NAG,

d) 'Familienangehöriger' gemäß § 47 Abs. 2 NAG oder

e) gemäß § 49 NAG verfügen.“

1.2 Nach § 3a Abs 2 BPGG werden somit bestimmte Personengruppen ohne österreichische Grundleistung und ohne österreichische Staatsbürgerschaft österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt, sodass sie auch ohne österreichische Staatsbürgerschaft und ohne Grundleistung Anspruch auf Bundespflegegeld haben.

1.3 Wie sich aus dem Gesetzeswortlaut des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG ergibt, sind Fremde den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt, insoweit sich die Gleichstellung aus einem Staatsvertrag ergibt (hier dem Abkommen zwischen der Republik Österreich und Bosnien und Herzegowina über Soziale Sicherheit, BGBl III 2001/229) oder sie über einen der in § 3a Abs 2 Z 4 lit a bis e BPGG genannten (privilegierten) Aufenthaltstitel verfügen.

2.1 Für eine Gleichstellung mit österreichischen Staatsbürgern müssen daher nach der Wortinterpretation und der logischen Auslegung die Voraussetzungen des § 3a Abs 2 Z 1 und des § 3a Abs 2 Z 4 BPGG nur alternativ („oder“) und nicht kumulativ erfüllt sein.

2.2 Dies ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien, nach denen die in § 3a Abs 2 bis 4 BPGG erfassten Fälle nur jene zusätzlichen Fälle betreffen, die nicht bereits durch unmittelbar anwendbares Staatsvertragsrecht bzw Unionsrecht erfasst werden (ErläutRV 1208 BlgNR 24. GP 9). Bei § 3a Abs 1 Z 1 BPGG handelt es sich somit gleichsam um einen Auffangtatbestand für jene Fälle, die nicht unter die Abs 2 bis 4 subsumiert werden können, aber grundsätzlich aufgrund von Staatsverträgen bzw Unionsrecht (insbesondere der VO [EG] 883/2004) gleichstellungsberechtigt sind (ErläutRV 1208 BlgNR 24. GP 9; 10 ObS 1/14s; 10 ObS 153/13t, SSV-NF 27/87; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 [2017] Rz 3.54).

3. Von dieser Rechtslage weicht die Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht ab, der Pflegegeldanspruch der – durch das zitierte Abkommen österreichischen Staatsbürgern gleichgestellten – Klägerin könne nicht an jenen zusätzlichen Voraussetzungen scheitern, die § 3a Abs 2 Z 4 BPGG an den Aufenthaltstitel von (anderen) Ausländern stellt. Dass die Klägerin nur über einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiss-Rot-Karte plus“ verfügt und über keinen der in § 3a Abs 2 Z 4 lit a–e BPGG genannten privilegierten Aufenthaltstitel, steht ihrem Anspruch auf Pflegegeld nicht entgegen.

4. Nach den Feststellungen hat die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland (§ 3 Abs 1 BPGG). Dieser ist aufgrund des ihr erteilten Aufenthaltstitels „Rot-Weiss-Rot-Karte plus“ (bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz) rechtmäßig. Sie erfüllt demnach auch die im Schrifttum für erforderlich erachtete Voraussetzung, dass auch bei nach § 3a Abs 2 Z 1 BPGG österreichischen Staatsbürgern gleichgestellten Pflegebedürftigen ein rechtmäßiger Aufenthalt gegeben sein muss (Greifeneder/Liebhart4, Pflegegeld Rz 3.57).

Die außerordentliche Revision ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

Textnummer

E122289

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00062.18T.0717.000

Im RIS seit

03.08.2018

Zuletzt aktualisiert am

18.04.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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