Entscheidungsdatum
12.07.2018Norm
AsylG 2005 §54 Abs1 Z2Spruch
W182 1410743-3/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.03.2017, Zl. 791443608/1798710, gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 2 und Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, sowie XXXX gemäß § 54 Abs. 1 Z 2, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, eine "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz
(B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1.1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) ist Staatsangehörige der Russischen Föderation aus Grosny in Tschetschenien, gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an, ist moslemischen Glaubens, reiste im November 2009 illegal von Polen kommend ins Bundesgebiet ein und stellte am 19.11.2009 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
In einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 19.11.2009 sowie in einer Einvernahme beim Bundesasylamt am 04.12.2009 brachte die BF zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen vor, dass sie im Herkunftsstaat von unbekannten Männern nach dem Aufenthalt ihres vermissten Sohnes gefragt worden sei. Sie wolle bei ihrer im Bundesgebiet aufhältigen Tochter leben. Im Herkunftsstaat habe sie alles verkauft und sie sei dort alleine. Zwei verheiratete Töchter würden in der Russischen Föderation leben, ein Sohn sei verschollen.
Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 28.01.2010, Zl. S1 410.743-1/2009/6E, wurde die Zurückweisung dieses Antrages gemäß § 5 AsylG 2005 wegen der Zuständigkeit Polens durch das Bundesasylamt mit Bescheid vom 04.12.2009 gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005 behoben und aus humanitären Gründen und wegen der gesundheitlichen Situation der BF der Selbsteintritt Österreichs erklärt.
In einer Einvernahme beim Bundesasylamt am 26.05.2010 brachte die BF im Wesentlichen vor, dass ihr Mann Kämpfer unterstützt habe und nach dem offiziellen Kriegsende immer wieder von den Behörden mitgenommen und misshandelt worden sei. Dies habe seine Gesundheit zerstört und sei er vor fünf oder sechs Jahren verstorben. Glaublich vor ungefähr zwei Jahren sei ihr Sohn verschwunden, die Hintergründe dafür kenne sie nicht. Maskierte Soldaten hätten sich dann bei ihr wiederholt nach dem Aufenthalt ihres Sohnes erkundigt. Sie hätten überprüfen wollen, ob der Sohn nachhause komme. Wegen ihrer schlechten Gesundheit habe die BF beschlossen, zu ihrer Tochter in Österreich zu fahren. Zu ihren Töchtern in der Russischen Föderation habe sie den Kontakt verloren. Sie sei alleine und krank. Für den Fall einer Rückkehr wisse sie nicht, mit wem sie leben solle. Sie würde verrückt werden. Sie sehe im Traum fast jede Nacht, wie die Polizei sie abführe. Sie wisse nicht, wohin sie gehen solle.
Die BF legte mehrere medizinische Unterlagen über medizinische Behandlungen im Bundesgebiet vor. Auch legte sie Unterlagen über die Einnahme verschiedener Medikamente vor.
In einem Krankenhausbefund vom 07.04.2010 wurden bei der BF als Diagnosen "paroxysmales Vorhofflimmern (rezidivierend) arterielle Hypertonie, Hypothyreose" erhoben und eine medikamentöse Behandlung empfohlen. In einem psychiatrisch-neurologischen Gutachten vom 15.04.2010 wurden bei der BF eine "leichtgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom, Hinweise auf leichtgradige Hirnleistungsschwäche, rez. Vorhofflimmern, Hypertonie" diagnostiziert. Es wurde keine derart ausgeprägte psychische Störung festgestellt, welche einer Rückführung entgegenstünde.
Nach Aktendurchsicht übermittelte ein Polizeichefarzt einer Sicherheitsdirektion am 11.08.2010 ein Aktengutachten, wonach mit der Heimreise der BF in den Herkunftsstaat keine Gefahr für Leib und Leben für sie verbunden sei. Aus den vorliegenden Unterlagen sei vielmehr nicht ersichtlich, dass die BF die notwendige medizinische Behandlung bzw. Therapie nicht in ihrem Herkunftsstaat erhalten könne.
Der Antrag auf internationalen Schutz der BF wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.09.2010, Zl. 09 14.436-BAW, bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberichtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Auch wurde ihr Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). In Spruchpunkt III. wurde die BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.11.2013 mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 12.03.2014, Zl. W189 1410743-2/14E, gemäß §§ 3 und 8 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen und das Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) zurückverwiesen. In der Begründung wurde ausgeführt, dass das Vorbringen zu den Fluchtgründen als nicht glaubwürdig erachtet werde bzw. eine aktuelle bzw. in Zukunft drohende Verfolgung vollkommen unwahrscheinlich sei und sich auch nicht ergeben habe, dass die BF als alleinstehende Witwe im fortgeschrittenen Alter bei einer Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten würde, deren Intensität asylrelevant wäre. Sie besitze ein Haus, habe eine Alterspension und auch medizinische Leistungen bezogen, sodass eine Behandlung möglich wäre und sie zudem über familiäre Anknüpfungspunkte im Heimatdorf verfüge.
Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 10.09.2014, Ra 2014/20/0016-11, wurde die dagegen erhobene Revision zurückgewiesen. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 18.09.2015, Zl. E 184/2014-17, wurde die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde abgelehnt.
1.2. Im Zuge einer niederschriftlichen Einvernahme beim Bundesamt am 04.02.2016 gab die BF ua. an, dass von ihren vier Kindern drei in der russischen Föderation und eines in Österreich lebten, sie habe zudem zwei Brüder im Herkunftsstaat. Sie habe zu ihren beiden Töchtern sowie ihren Brüdern im Herkunftsland keinen Kontakt mehr. In Österreich lebe sie bei ihrer Tochter und deren Kindern. Ihre Tochter kümmere sich um sie und achte, dass sie ihre Medikamente nehme. Die BF habe sich bereits in der Russischen Föderation wegen psychischer Probleme in Behandlung befunden.
Die BF legte ein Konvolut an ärztlichen Befunden von Jänner und Februar 2016 vor, aus denen sich im Wesentlichen ergibt, dass bei der BF eine chronifizierte PTSD, eine gegenwärtig schwere rezidivierende Depressio, somatoforme Schmerzstörungen, arterielle Hypertonie mit hypertonen Krisen sowie eine "Ovarialzyste" diagnostiziert wurden. Die BF erhalte eine medikamentöse Behandlung sowie eine Gesprächstherapie in einem psychosozialen Zentrum.
Im Rahmen des Parteiengehörs wurden der BF im April 2016 das Ergebnis einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 01.03.2016 sowie ein Fragenkatalog zu ihren persönlichen Verhältnissen in Österreich übermittelt. Der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation war im Wesentlichen zu entnehmen, dass die Medikamente, die der BF verschrieben wurden, in Grosny erhältlich, dort auch stationäre und ambulante Behandlungen, Psychiater und Psychologen für PTSD verfügbar und eine gynäkologische Behandlung möglich seien. Die psychiatrische und medizinische Behandlung sei kostenlos, Medikamente seien kostenpflichtig. Im Jänner 2017 wurden der BF aktuelle Feststellungen zur allgemeinen Situation im Herkunftsland zu Kenntnis gebracht.
In einer Stellungnahme vom 28.04.2016 bzw. 27.01.2017 bemängelte die BF dazu, dass die zur Stellungnahme vorgelegten Informationen zwar die allgemeine medizinische Versorgung darstellen würden, jedoch nicht auf den konkreten Fall der BF eingehen würden. So sei die BF schon in Tschetschenien aufgrund ihrer psychischen Probleme in Behandlung gewesen, doch sei sie nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Behandlungstermine allein wahrzunehmen und hätte sie auch bei der Einnahme der Medikamente eine entsprechende Unterstützung benötigt. Ihre Nachbarn seien nicht in der Lage gewesen, sie in jener Weise dauerhaft zu betreuen. Ihre zwei in der Russischen Föderation aufhältigen Töchter seien mit tschetschenischen Männern verheiratet, welche es unter Verweis auf tschetschenische Traditionen abgelehnt hätten, die Schwiegermutter im gemeinsamen Haushalt aufzunehmen. Seit ihrem Aufenthalt in Österreich habe die BF keinen Kontakt mehr zu ihren in der Russischen Föderation aufhältigen Töchtern. Sie könne die notwendige Pflege und medizinische Versorgung nur bei ihrer nach Österreich geflüchteten Tochter erhalten. Als die BF nach Österreich gekommen sei, sei ihre Demenz schon weit fortgeschritten gewesen, durch die Pflege ihrer Tochter und die engmaschige medizinische Betreuung habe sich ihr Gesundheitszustand mittlerweile aber so stark gebessert, dass eine Demenz im Moment nicht mehr bestehe. Dazu wurde auf entsprechende Befunde aus dem Jahr 2011 bzw. 2012 und 2016 verwiesen. Ohne die Unterstützung ihrer in Österreich aufhältigen Tochter, mit der sie in gemeinsamen Haushalt lebe, würde sich ihr Gesundheitszustand wieder drastisch verschlechtern. Es bestehe zwischen der pflegebedürftigen BF und ihrer Tochter ein sehr enges Naheverhältnis. Zusätzlich habe sich eine kontrollbedürftige Zyste im Unterbauch gebildet, wobei dazu auf bereits vorgelegte Befunde verwiesen wurde.
1.2. Mit dem nunmehr angefochtenen, oben angeführten Bescheid des Bundesamtes wurde gemäß §§ 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt I.), wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG nach Russland zulässig sei (Spruchpunkt II.). Weiters wurde unter Spruchpunkt III. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Das Bundesamt ging davon aus, dass die Identität der BF mangels vorgelegter Personaldokumente nicht feststehe. Die verwitwete BF habe in der Russischen Föderation drei Kinder, in Österreich eine Tochter sowie deren Kinder und keine Sorgepflichten. Sie lebe mit ihrer Tochter in Österreich im gemeinsamen Haushalt, sozial sei die BF nicht integriert, sie sei auch beruflich nicht integriert und habe sich seit Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides ihres unsicheren Aufenthaltes bewusst sein müssen. Sie befinde sich seit nun 7 Jahren im Bundesgebiet und sei eine berufliche Integration nicht erkennbar, sie spreche nicht Deutsch und habe keine Kurse besucht. Sie habe auch keinen Freundeskreis in Österreich und bemühe sich nicht um Integration. Änderungen seit der Erlassung der letzten Entscheidung seien nicht eingetreten. Ihre Erkrankungen hätten bereits im Herkunftsstaat bestanden und seien dort auch behandelbar. Bindungen zum Herkunftsstaat seien ebenfalls noch vorhanden, welche sie aber leugne. Sie sei nicht selbsterhaltungsfähig. Das Bundesamt traf auch Feststellungen zur Lage in der Russischen Föderation und ging davon aus, dass seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.03.2014, Zl. W189 1410743-2/14E, keine relevante Sachverhaltsänderung eingetreten sei. Aufgrund der Antragstellung am 19.11.2009 und der Entscheidung am 12.09.2010 und 12.03.2014 könne auch nicht von einem überlangen Verfahren gesprochen werden, wobei die BF das Verfahren verzögert habe, indem sie auf Ladungen nicht reagiert habe. Da auch nicht von einem seitens der BF unverschuldeten Vorliegen eines überlangen Verfahrens auszugehen sei, gehe die Entscheidung gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zu Lasten der BF aus.
Mit Verfahrensanordnung vom 16.03.2017 wurde der BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
1.3. Gegen diesen Bescheid erhob die BF binnen offener Frist Beschwerde. Darin wurde der gegenständliche Bescheid zur Gänze angefochten. Die BF sei auf Grund psychischer Probleme in Behandlung gewesen, jedoch nicht mehr dazu in der Lage gewesen, die Behandlungstermine alleine wahrzunehmen und habe auch bei der Medikamenteneinnahme Unterstützung benötigt. Mit Hilfe ihrer Nachbarn habe sie Arzttermine wahrnehmen können, auf Dauer wären die Nachbarn dazu jedoch nicht bereit gewesen. Zwar würden zwei weitere Töchter der BF in der Russischen Föderation leben, welche jedoch die BF auf Grund von tschetschenischen Traditionen nicht aufgenommen hätten. Seit ihrer Ankunft in Österreich habe sie keinen Kontakt mehr zu ihren Töchtern und weiteren Familienangehörigen im Herkunftsstaat und verfüge somit über keine Angehörigen in Tschetschenien, welche die notwendige Pflege der BF gewährleisten könnten, sodass ausschließlich ihre in Österreich aufhältige Tochter die BF pflegen könne. Die BF verfüge weder über Verwandte noch über die finanziellen Mittel, um ihren Unterhalt bzw. professionelle Pflege bestreiten zu können. Als die BF nach Österreich gekommen sei, sei ihre Demenz weit fortgeschritten gewesen. Dazu wurde auf Befunde verwiesen und die Einvernahme ihrer Tochter als Zeugin beantragt. Durch die Pflege ihrer Tochter und die medizinische Betreuung (in Österreich) bestehe eine Demenz bei der BF nicht mehr. Zur Aufrechterhaltung dieses Gesundheitszustandes müsse sie regelmäßig Medikamente einnehmen. Zusätzlich habe sich eine kontrollbedürftige Zyste im Unterbauch gebildet. Ferner wurden die Länderfeststellungen bemängelt. Es sei davon auszugehen, dass eine Rückkehr der BF zu einer unzumutbaren Destabilisierung und Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes führen würde, weil die Behandlung nicht fortgeführt werden könnte, und sie daher in eine Art. 3 EMRK widersprechende ausweglose Lage geraten würde. Zudem bestehe ein schützenswertes Familienleben der BF in Österreich, da sie auf die Pflege ihrer Tochter angewiesen sei und damit ein Abhängigkeitsverhältnis vorliege. Es wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
1.4. In der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 23.11.2017 beim Bundesverwaltungsgericht, zu der ein Vertreter des Bundesamtes entschuldigt nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme der BF und ihrer in Österreich aufhältigen Tochter als Zeugin in Anwesenheit der bevollmächtigten Rechtsberaterin und einer Dolmetscherin der russischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes, wobei das Bundesamt lediglich schriftlich die Abweisung der Beschwerde beantragte.
Die BF brachte im Wesentlichen wie bisher vor, dass sie nicht wisse, wo sich ihr Sohn und ihre beiden im Herkunftsland verbliebenen Töchter aufhalten. Ihr Sohn sei etwa ein Jahr vor ihrer Ausreise verschwunden. Nachdem ihr Sohn verschwunden sei, hätten sich die Nachbarn um die BF gekümmert. Ihre Brüder seien beide krank. Die BF wohne etwa seit 8 Jahren mit ihrer Tochter und den drei Enkelkindern im Alter von 1 1/2, 3, 5 und 7 Jahren zusammen. Sie habe eine sehr enge Bindung zu ihren Enkelkindern und könne sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Es sei so, als hätte für die BF ein neues Leben durch diese Kinder begonnen. Die BF gehe jeden Monat zur Psychotherapie, habe Schlafstörungen und nehme Medikamente. Sie sei seit etwa 7 bis 8 Jahren in Behandlung. Die BF habe zudem Herzprobleme und sei im Zusammenhang mit Blutdruckproblemen stationär behandelt worden. In Tschetschenien habe sie keine Psychotherapie erhalten. Die Medikamente habe sie selbst bezahlen müssen. Im Herkunftsland habe sie nichts mehr und habe sie Angst davor, alleine zu bleiben. Sie vergesse oft, ihre Medikamente einzunehmen. Ihre Tochter helfe ihr, unterstütze sie bei allem und komme auch für sie auf. Die BF habe zwar Deutschkurse besucht, aber keine Prüfungen absolviert. Wenn sie etwas benötige, könne sie sich auf Deutsch verständigen.
Die Tochter der BF gab als Zeugin befragt im Wesentlichen an, dass sie eine geschiedene Mutter mit vier Kindern sei. Ihr Ex-Gatte, ein afghanischer Staatsangehöriger, sei der Vater ihrer Kinder. Das Verhältnis zu ihm habe sich seit der Scheidung wieder gebessert, doch würden sie getrennt leben. Er arbeite und zahle Unterhalt. Die Zeugin sei seit 2003 oder 2004 in Österreich und habe den Status einer Asylberechtigten. Ihre Schwestern und ihren Bruder habe sie zuletzt 2001 gesehen. Sie habe versucht, vor etwa einem Jahr über eine Nachbarin mit ihnen Kontakt aufzunehmen, diese habe allerdings nichts über ihre Geschwister gewusst. Sie sei zuletzt im Streit mit ihren Schwestern gewesen, da diese mit ihren Männern weggezogen und die Familie im Stich gelassen hätten. Sie habe keinen Kontakt zu Familienangehörigen im Herkunftsland. Die BF wohne seit 2009 bei ihr. Die Zeugin kümmere sich rund um die Uhr um ihre Mutter, koche und wasche für sie, achte darauf, dass sie ihre Medikamente nehme und kümmere sich um alle Sachen, die sie benötige. Im Herkunftsland habe die BF niemanden, der auf sie aufpasse. Auch könne sie sich dort ihre Medikamente nicht leisten. Die Zeugin habe außer ihrer Mutter niemanden, keinen Bruder und keine Schwestern.
Zum Beweis des Gesundheitszustandes der BF wurden ärztliche Befunde aus dem Jahr 2016 und 2017 vorgelegt, darunter ein Befund eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 21.11.2017, der u.a. posttraumatische Belastungsstörung diagnostizierte.
Mit der BF und ihrer Vertretung wurden in der Verhandlung aktuelle Länderberichte zum Herkunftsstaat erörtert, wobei ihr die Möglichkeit eingeräumt wurde, binnen 3 Wochen eine schriftliche Stellungnahme dazu nachzureichen.
1.5. In einer Stellungnahme für die BF vom 30.11.2017 wurde angemerkt, dass die ausgehändigten Länderfeststellungen nicht ausreichend seien, um die medizinischen Versorgungsmöglichkeiten der BF in Tschetschenien unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse zu beurteilen. Bei ihr sei eine "posttraumatische Belastungsstörung, eine gegenwärtig schwere rezidivierende Depression sowie eine somatoforme Schmerzstörung" diagnostiziert worden. Daher werde hiezu auf den Themenbericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Tschetschenien, Gesundheitswesen und Behandlung psychischer Erkrankungen und Störungen vom September 2015 verwiesen. Diesem sei zu entnehmen, dass es in Tschetschenien einen Mangel an qualifizierten Fachkräften gebe und insgesamt von einer schlechten Qualität der Gesundheitsversorgung auszugehen sei und eine ambulante Behandlung ausschließlich in einem Krankenhaus in Grosny angeboten werde; die Behandlungsmethoden seien zudem sehr fragwürdig. Ferner könne nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden, dass die von der BF benötigten Medikamente in Tschetschenien verfügbar seien. Die BF wäre auf Grund ihres Gesundheitszustandes damit überfordert, sich um die Beschaffung der nötigen Dokumente für die Krankenversicherung zu kümmern. Die der BF fehlenden finanziellen Mittel würden die für eine medizinische Versorgung erforderlichen informellen Zahlungen nicht ermöglichen und die Behandlung der BF gefährden, da auch Medikamente nicht kostenlos seien. Im psychiatrischen Krankenhaus in Grosny gebe es eine einzige Psychotherapeutin und könne eine PTSD mangels genügend Fachkenntnissen in Tschetschenien praktisch nicht behandelt werden. Die BF sei von ihren Brüdern nicht unterstützt worden, da diese eigene Probleme gehabt hätten. Aus dem vorgelegten Befund eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 21.11.2017 ergebe sich für die BF ein hohes Risiko einer Verschlechterung im Sinne einer Retraumatisierung bei einer Rückkehr nach Tschetschenien. Die nur in Österreich erhältliche adäquate Behandlung der psychischen Leiden der BF stelle ein schützenswertes Privatleben der BF dar. Da diese Interessen der BF überwiegen würden, sei ihr ein Aufenthaltstitel zu erteilen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person und zum individuellen Vorbringen der BF:
Aufgrund der der Entscheidung zugrunde liegenden Akten des Bundesamtes samt Beschwerdeschrift sowie des Bundesverwaltungsgerichtes steht nachstehender entscheidungswesentlicher Sachverhalt als erwiesen fest:
Die BF ist Staatsangehörige der Russischen Föderation aus Tschetschenien, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und ist muslimischen Glaubens. Identitätsbezeugende Dokumente hat sie bisher nicht vorlegen können.
Die 61-jährige BF verfügt über Schulbildung sowie Berufserfahrung in der Russischen Föderation. Sie leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer schweren rezidivierenden Depression samt somatoformen Schmerzstörungen, Herz- und Bluthochdruckproblemen sowie an einer kontrollbedürftigen Zyste im Unterbauch, wobei sie medikamentös sowie im Rahmen einer Psychotherapie behandelt wird.
Die BF hat im Herkunftsland eine Altersrente bezogen und war krankenversichert. Im Herkunftsland halten sich zwei Töchter sowie zwei Brüder der BF auf. Es besteht kein bzw. kaum Kontakt. Die BF verfügt in Tschetschenien über ein leerstehendes Haus in ihrem Heimatort.
Die unbescholtene BF hält sich aufgrund einer einmaligen Asylantragstellung bereits über 8 Jahre im Bundesgebiet auf. In Österreich lebt die BF seit 8 Jahren bei ihrer geschiedenen Tochter, der der Status einer Asylberechtigten zukommt, und ihren vier minderjährigen Kindern. Die Tochter bezieht Unterhaltsleistungen von ihrem geschiedenen afghanischen Ehemann, dem Vater ihrer Kinder, und versorgt und betreut die BF. Die BF bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Die BF hat zwar im Bundesgebiet Deutschkurse besucht, jedoch keine Deutschprüfung abgelegt und konnte lediglich bescheidene Deutschkenntnisse dartun.
Im Übrigen wird der unter Punkt I. wiedergegebene Verfahrensgang den Feststellungen zugrunde gelegt.
1.2. Zur Situation im Herkunftsland werden die nachfolgenden Feststellungen getroffen. Die Situation im Herkunftsland hat sich seit dem Zeitpunkt der Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht am 12.03.2014 in den gegenständlich relevanten Punkten nicht entscheidungswesentlich verändert.
1.2.1.Politische Lage
Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).
Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).
Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).
Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,
http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017
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CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017
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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017
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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017
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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017
-
Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,
https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017
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RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,
http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017
-
Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,
http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017
1.2.2. Tschetschenien
Die Tschetschenische Republik ist eine der 21 Republiken der Russischen Föderation. Betreffend Fläche und Einwohnerzahl - 15.647 km2 und fast 1,3 Millionen Einwohner/innen (2010) - ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).
Den Föderationssubjekten stehen Gouverneure vor. Gouverneur von Tschetschenien ist Ramsan Kadyrow. Er gilt als willkürlich herrschend. Russlands Präsident Putin lässt ihn aber walten, da er Tschetschenien "ruhig" hält. Tschetschenien wird überwiegend von Geldern der Zentralregierung finanziert. So erfolgte der Wiederaufbau von Tschetscheniens Hauptstadt Grosny vor allem mit Geldern aus Moskau (BAMF 10.2013, vgl. RFE/RL 19.1.2015).
In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres System geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und größtenteils außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert. So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens zurücktreten, nachdem er von Kadyrow kritisiert worden war, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter in die föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen im September 2016, wenn auch das Republikoberhaupt gewählt wird, durchzuführen. Die Entscheidung erklärte man mit potentiellen Einsparungen durch das Zusammenlegen der beiden Wahlgänge, Experten gehen jedoch davon aus, dass Kadyrow einen Teil der Abgeordneten durch jüngere, aus seinem Umfeld stammende Politiker ersetzen möchte. Bei den Wahlen vom 18. September 2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Den offiziellen Angaben zufolge wurde Kadyrow mit über 97% der Stimmen im Amt des Oberhauptes der Republik bestätigt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld HRW über Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte (ÖB Moskau 12.2016). In Tschetschenien hat das Republikoberhaupt Ramsan Kadyrow ein auf seine Person zugeschnittenes repressives Regime etabliert. Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 24.1.2017).
Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird hart vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die darauf aus wären, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtlern, aber auch von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert. Im März ernannte Präsident Putin Kadyrow im Zusammenhang mit dessen im April auslaufender Amtszeit zum Interims-Oberhaupt der Republik und drückte seine Unterstützung für Kadyrows erneute Kandidatur aus. Bei den Wahlen im September 2016 wurde Kadyrow laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt, wohingegen unabhängige Medien von krassen Regelverstößen bei der Wahl berichteten (ÖB Moskau 12.2016). Im Vorfeld dieser Wahlen zielten lokale Behörden auf Kritiker und Personen, die als nicht loyal zu Kadyrow gelten ab, z.B. mittels Entführungen, Verschwindenlassen, Misshandlungen, Todesdrohungen und Androhung von Gewalt gegenüber Verwandten (HRW 12.1.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):
Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg
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HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/334746/476500_de.html, Zugriff 28.6.2017)
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ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation
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RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (19.1.2015): The Unstoppable Rise Of Ramzan Kadyrov, http://www.rferl.org/content/profile-ramzan-kadyrov-chechnya-russia-putin/26802368.html, Zugriff 21.6.2017
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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,
http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 21.6.2017
1.2.3. Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).
Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).
Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS - v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom 2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei 220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000 militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau 12.2016).
Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - der Einsatz von Artillerie und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen Streitkräften in Latakia - hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch 10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300 Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet werden, dürften sie von der Eliteeinheit Speznas innerhalb der tschetschenischen Streitkräfte rekrutiert worden sein (FP 4.5.2017).
Für den Kreml hat der Einsatz der nordkaukasischen Brigaden mehrere Vorteile. Zum einen reagiert die russische Bevölkerung sehr sensibel auf Verluste der russischen Armee in Syrien. Verluste von Personen aus dem Nordkaukasus würden wohl weniger Kritik hervorrufen. Zum anderen ist der wohl noch größere Vorteil jener, dass sowohl Tschetschenen, als auch Inguscheten fast alle sunnitische Muslime sind und somit derselben islamischen Richtung angehören, wie ein Großteil der syrischen Bevölkerung. Die mehrheitlich sunnitischen Brigaden könnten bei der Bevölkerung besser ankommen, als ethnisch russische Soldaten. Außerdem ist nicht zu vernachlässigen, dass diese Einsatzkräfte schon über Erfahrung am Schlachtfeld verfügen, beispielsweise vom Kampf in der Ukraine (FP 4.5.2017).
Bis jetzt war der Einsatz der tschetschenischen und inguschetischen Bodentruppen auf Gebiete beschränkt, die für den Kreml von entscheidender Bedeutung waren. Obwohl es momentan eher unwahrscheinlich scheint, dass die Rolle der nordkaukasischen Einsatzkräfte bald ausgeweitet wird, agieren diese wohl weiterhin als die Speerspitze in Moskaus Strategie, seinen Einfluss in Syrien zu vergrößern (FP 4.5.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.7.2017b): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 21.7.2017
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FAZ (26.4.2017):"Erst der Anfang", http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/anschlag-in-st-petersburg-russland-steht-im-visier-von-terror-14989012.html, Zugriff 21.7.2017