TE Bvwg Erkenntnis 2018/7/13 W152 2153402-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.07.2018
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Entscheidungsdatum

13.07.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W152 2153402-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Walter KOPP über die Beschwerde der XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.03.2017, Zl. 1099148501-152004536, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.05.2018 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005) idgF, der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG idgF nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Die Beschwerdeführerin reiste unbekannten Datums in das Bundesgebiet ein und stellte am 13.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, worauf sie am 16.12.2015 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes und am 03.11.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen wurde, wobei bereits in der zuletzt genannten Einvernahme kein Anzeichen einer "muslimischen" Gesinnung zu bemerken war und sie auch ausführte, dass sie in Österreich einen Beruf als Köchin anstrebe.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, wies dann den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten mit Bescheid vom 28.03.2017, Zahl: 1099148501-152004536, gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde hiebei gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV). Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellte hiebei fest, dass die Beschwerdeführerin afghanische Staatsangehörige sei. Es drohe ihr jedoch keine asylrelevante Gefahr.

Gegen den oben genannten Bescheid erhob die Asylwerberin fristgerecht Beschwerde, wobei (auch) mangelhafte Erhebungen zu ihrer "westlichen" Orientierung releviert wurden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Feststellungen (Sachverhalt):

Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige von Afghanistan, stammt aus der Provinz Balkh in Afghanistan, verbrachte jedoch bereits ab dem 17. Lebensjahr ihr weiteres Leben außerhalb Afghanistans (Iran) und gehört der Volksgruppe der Hazara und der Religionsgemeinschaft der Schiiten an. Sie ist jedoch nicht strenggläubig, besucht sehr selten eine Moschee und erzieht ihre Kinder nicht religiös. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine junge Frau, die in ihrer Wertehaltung überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. So trat sie in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht "westlich" gekleidet auf, wobei sie kein Kopftuch trug und ihre Unterarme unbedeckt waren und sich ihr Kleidungsstil nicht von einer durchschnittlichen westlichen jungen Frau unterschied. Besonders auffällig waren jedoch die violett gefärbten Haare und rot lackierten Fingernägel der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin trug weiters "Make-up", wobei sie auch Wimperntusche und Lippenstift aufgetragen hatte, und Modeschmuck, und zwar Ohrgehänge, Halskette, Armband und Ring, wobei es bei ihrem Auftritt kein Anzeichen einer "muslimischen" Gesinnung gab. Die Beschwerdeführerin sprach sich ausdrücklich gegen die Zwangsverheiratung und insbesondere jene ihrer Tochter aus. Die Beschwerdeführerin möchte in der Öffentlichkeit auch ohne männliche Begleitung auftreten, wobei sie das Tragen einer Burka ablehnt, und tut dies auch in Österreich, wo sie z. B. selbstständig Einkäufe erledigt. Die Beschwerdeführerin möchte in Österreich auch einen Beruf ausüben, wobei sie eine Tätigkeit als Köchin anstrebt und hiefür bereits einen Deutschkurs besuchte. Schließlich spricht sie sich auch für die freie Berufswahl ihrer Kinder aus. Hinsichtlich ihrer "westlichen" Orientierung erfährt sie auch volle Unterstützung durch ihren Ehegatten, der - wie die zur Verhandlung mitgebrachten Kinder -einen "westlichen" Kleidungsstil aufwies.

Feststellungen zur Lage in Afghanistan:

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt weiterhin volatil. Sie weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF), die seit 2015 erstmals die volle Verantwortung für die Sicherheit des Landes übernehmen, haben es immerhin geschafft, das Patt mit der Insurgenz aufrechtzuerhalten. So gelang es der Insurgenz nicht, größere Provinz- und Distriktzentren einzunehmen und dauerhaft zu halten. Die Bereitschaft der großen RSM1 -Partnerstaaten, länger als ursprünglich geplant mit Truppen in Afghanistan präsent zu sein, soll mittelfristig zu einer Steigerung der Einsatzfähigkeit der ANDSF und somit langfristig zu einer Stabilisierung der Sicherheitslage beitragen.

Generell kann festgestellt werden, dass in Afghanistan keine vom Staat organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung ausgeübt wird. Im Gegenteil, die Regierung ist sich ihrer Schutzverantwortung für die eigene Bevölkerung bewusst, allerdings nicht immer in der Lage, diese auch effektiv umzusetzen.

Nach mehr als 30 Jahren Konflikt und 15 Jahre nach dem Ende der Taliban-Herrschaft befindet sich Afghanistan in einem langwierigen Wiederaufbauprozess. Anstrengungen, die zur Sicherung bisheriger Stabilisierungserfolge und zur Verbesserung der Zukunftsperspektiven der Bevölkerung beitragen, werden noch lange Zeit notwendig sein. Der UNAMA-Bericht von Juli 2016 über den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt verzeichnet im ersten Halbjahr 2016 einen leichten Anstieg von 4 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum bei den zivilen Opfern mit 1.601 getöteten und 3.565 verwundeten Zivilisten. Dies ist die höchste Zahl seit Beginn der Erfassungen im Jahr 2009.

Nach einem schwierigen Jahr 2015 haben die ANDSF 2016 einen besser koordinierten Ansatz gefunden, den immensen Herausforderungen zu begegnen. Mit der Ende 2014 vollzogenen Transition der Sicherheitsverantwortung begann zugleich das Jahrzehnt der Transformation (2015 - 2024), in dem Afghanistan sich bei weiterhin umfangreicher internationaler Unterstützung zu einem funktionsfähigen und fiskalisch lebensfähigen Staat im Dienst seiner Bürgerinnen und Bürger entwickeln soll. Dafür hat Afghanistan verstärkte eigene Anstrengungen zugesagt. Zukunftsängste und Unsicherheit hinsichtlich der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Entwicklung des Landes sind jedoch in der Bevölkerung weit verbreitet.

Die Innenpolitik ist seit der Einigung zwischen den Stichwahlkandidaten der Präsidentschaftswahl auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) im September 2014 von mühsamen Konsolidierungsbemühungen der Regierung geprägt. Nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern der Regierung unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah sind kurz vor dem Warschauer Nato-Gipfel im Juli schließlich alle Ministerämter besetzt worden. Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen werden wegen bisher ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden können. Aufgrund politischer und logistischer Erfordernisse werden die Parlamentswahlen voraussichtlich frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2017 stattfinden können. Währenddessen steigt der Druck auf die RNE durch Oppositionsgruppen, die eine Loya Dschirga fordern, um die Regierung abzulösen.

Trotz umfangreicher Reformvorhaben und aufwendiger Konsultationsmechanismen - oft unter direkter Federführung des Staatspräsidenten oder von ihm beauftragter Gremien - bleiben Qualität und Transparenz der Regierungsführung und der demokratischen Prozesse weiterhin mangelhaft. Die RNE startete im Mai 2016 eine neue Initiative zur Bekämpfung der Korruption, deren integraler Bestandteil das Anti Corruption Justice Center (ACJC) sein soll. Das ACJC soll Fällen erheblicher Korruption insbesondere auch unter hochrangigen Funktionären der afghanischen Regierung nachgehen, harrt aber noch seines offiziellen Startes.

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen.

Das Justizsystem funktioniert nur sehr eingeschränkt; der Zugang zur Justiz ist nicht umfassend gewährleistet. Trotz großer Fortschritte in der Gesetzgebung in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht). Verwaltung und Justiz sind nur eingeschränkt handlungsfähig; die Ausbildung von Justiz- und Vollzugsbeamten weist erhebliche Mängel auf.

Die humanitäre Situation bleibt schwierig. Neben der Versorgung von Hunderttausenden Rückkehrern und Binnenvertriebenen stellt v. a. die chronische Unterversorgung in Konfliktgebieten das Land vor große Herausforderungen. Die zeitweise Einnahme von Distrikten in verschiedenen Provinzen Afghanistans und nicht zuletzt der Angriff auf die Provinzhauptstadt Kunduz durch die Taliban im September 2015 haben die Zahl der Binnenflüchtlinge weiter erhöht.

Allgemeine politische Lage

Im zweiten Jahr der Transformationsdekade steht Afghanistan vor großen Herausforderungen in vielen wichtigen Politikfeldern. Die Sicherheitslage stellt unter ihnen die größte dar, weil Verbesserungen in fast allen anderen Bereichen von der unbeeinträchtigten Kontrolle des Staates über das Staatsgebiet abhängen.

Seit Anfang 2015 stehen die ANDSF offiziell in alleiniger Sicherheitsverantwortung über ganz Afghanistan, auch wenn eine Koalition von 40 Staaten im Rahmen von RSM weiterhin Ausbildung, Beratung und Unterstützung leistet. Darüber hinaus sind die USA auf der Grundlage des Bilateral Security Agreements mit einer Anti-Terror-Mission in Afghanistan präsent. Strategisches Ziel der regierungsfeindlichen Kräfte bleibt es, die Kontrolle über einzelne Gebiete nicht nur kurzfristig zu erlangen, sondern auch langfristig zu halten. Das ist ihnen mit Ausnahme einzelner Distrikte (Kreise) bisher nicht gelungen. Die Bevölkerungszentren und Hauptverkehrsstraßen werden von den ANDSF, abgesehen von kurzzeitigen Störungen durch die regierungsfeindlichen Kräfte, kontrolliert. Allerdings haben die ANDSF nach wie vor Defizite u. a. in der Führung, strategischer und taktischer Planungsfähigkeit, Aufklärung, Luftunterstützung und technischer Ausstattung.

Unzureichende personelle und administrative Kapazitäten der Regierung beeinträchtigen weiterhin vor allem die strategische Planung und Umsetzung von Politikvorhaben und Regierungsbudgets.

Fortschritte sind erkennbar: Präsident Ghani hat ehrgeizige Pläne zur Bewältigung dieser Herausforderungen; die Umsetzung verläuft jedoch angesichts einer schwierigen Haushaltslage sowie der heterogenen Zusammensetzung der Einheitsregierung schleppend.

Die Rolle des Zweikammern-Parlaments (Unterhaus "Wolesi Jirga", Oberhaus "Meshrano Jirga") bleibt trotz mitunter erheblichem Selbstbewusstsein der Parlamentarier begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit der kritischen Anhörung und auch Abänderung von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Regierungsarbeit destruktiv zu behindern, deren Personalvorschläge z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse teuer abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus spielt hier eine unrühmliche Rolle und hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern. Seit Mitte 2015 ist die Legislaturperiode des Parlamentes abgelaufen. Seine fortgesetzte Arbeit unter Ausbleiben von Neuwahlen sorgt für stetig wachsende Kritik.

Die afghanische Parteienlandschaft ist mit über 50 registrierten Parteien stark zersplittert. Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auch auf das Fehlen struktureller Elemente wie z.B. eines Parteienfinanzierungsgesetzes zurückzuführen, sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst.

Im afghanischen Friedens- und Versöhnungsprozess gibt es weiterhin keine greifbaren Fortschritte. Die von der RNE sofort nach Amtsantritt konsequent auf den Weg gebrachte Annäherung an Pakistan stagniert, seit die afghanische Regierung Pakistan der Mitwirkung an mehreren schweren Sicherheitsvorfällen in Afghanistan beschuldigte. Im Juli 2015 kam es erstmals zu direkten Vorgesprächen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban über einen Friedensprozess, die aber nach der Enthüllung des jahrelang verschleierten Todes des Taliban-Führers Mullah Omar bereits nach der ersten Runde wieder eingestellt wurden. Die Reintegration versöhnungswilliger Insurgenten bleibt weiter hinter den Erwartungen zurück, auch wenn bis heute angeblich ca. 10.000 ehemalige Taliban über das "Afghanistan Peace and Reintegration Program" in die Gesellschaft reintegriert wurden.

Entwicklungspolitisch macht Afghanistan nur langsame Fortschritte. Korruption, mangelnde administrative Kapazitäten, sinkende Staatseinnahmen auch wegen des Endes der SAFMission, geringes Bildungsniveau gepaart mit fehlenden Bildungsressourcen und historische Ausmaße im Drogenanbau machen deutlich, dass Afghanistan noch einen weiten Weg vor sich hat und noch lange auf internationale Hilfe angewiesen sein dürfte. Die internationale Gemeinschaft bleibt in allen diesen Bereichen weiterhin engagiert. Für eine nachhaltige Verbesserung seiner Entwicklungsbedingungen muss Afghanistan den politischen Willen aufbringen, die Probleme konsequent und langfristig anzugehen. Zeitweilige Rückschläge sind dabei weiterhin wahrscheinlich.

Politische Opposition

Der Zugang zu verantwortlichen Stellen in Regierung und Verwaltung bleibt trotz Bemühungen der neuen Regierung um mehr Transparenz und Leistungsorientierung häufig an Fragen der Netzwerk-, Ethnien- oder politischen Lagerzugehörigkeit geknüpft. Eignung, Befähigung und Leistung spielen nicht die wichtigste, oftmals sogar eine untergeordnete Rolle bei der Verteilung politischer bzw. administrativer Ämter. Entscheidungen über wichtige Personalien, auch in entlegenen Provinzen, werden regelmäßig auf Ebene der Zentralregierung in Kabul, häufig sogar durch den Präsidenten selbst, getroffen. Politische Allianzen werden in der Regel nach pragmatischen Gesichtspunkten geschmiedet. Dadurch kommt es zu für Außenstehende immer wieder überraschenden Koalitionswechseln und dem Herauslösen von Einzelpersonen aus bestehenden politischen Verbindungen unabhängig von Parteistrukturen. Die zuverlässige Abgrenzung einer "politischen Opposition" fällt in diesem Kontext schwer.

Die gewaltbereite Opposition lässt sich im Wesentlichen in drei große Gruppierungen einteilen: die Taliban, das Haqqani-Netzwerk und die Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG). Alle drei Gruppierungen sind - wenngleich in unterschiedlichem Maße - fragmentiert. Ihre Gewalttaten richten sich ohne Rücksicht auf Zivilisten sowohl gegen Staatsorgane als auch gegen Würdenträger, Stammesälteste, Religionsgelehrte und Vertreter der internationalen Gemeinschaft.

Ehemalige Kommunisten versuchen in der Regel, ihre Vergangenheit zu verbergen. Viele von ihnen sind allerdings weiterhin in der afghanischen Politik aktiv. Zu ihren Überzeugungen bekennen sie sich in der breiten Öffentlichkeit ebenso wenig wie säkular-demokratisch denkende Politiker. Im Parlament stellen säkulare Kräfte eine Minderheit dar.

Versammlungsfreiheit

Die Versammlungsfreiheit ist in Afghanistan grundsätzlich gewährleistet. Es gibt regelmäßig - genehmigte wie spontane - Demonstrationen, v. a. gegen soziale Missstände, gegen (geplante) Koranverbrennungen oder auch für die Gewährleistung von Frauenrechten. Die jüngste Demonstration der sog. Enlightenment-Bewegung für Zugang zur Stromversorgung vom 23. Juli 2016 wurde jedoch von einem Selbstmordanschlag überschattet, der zahlreiche Todesopfer forderte. Die Regierung gestand ein, trotz erheblicher Anstrengungen nicht in der Lage zu sein, bei Demonstrationen die Sicherheit der Teilnehmenden vollständig zu gewährleisten.

Vereinigungsfreiheit

Die afghanische Verfassung erlaubt in Art. 35 die Gründung von Vereinen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen. Gemäß entsprechendem Gesetz von 2009 müssen sich politische Parteien beim Justizministerium registrieren. Dafür müssen sie nachweisen, dass sie den Zielen und Werten des Islam und der Verfassung verpflichtet sind, und Organisationsstrukturen und Finanzen offenlegen. Militärische und paramilitärische Organisationen fallen nicht unter die Vereinigungsfreiheit. Ferner dürfen afghanische Parteien und Organisationen nicht von ausländischen Parteien oder ausländischer Finanzierung abhängen. In den letzten Jahren wurden die Anforderungen zur Registrierung erhöht: So muss eine Partei mindestens 10.000 Mitglieder vorweisen und lokale Büros in mindestens 20 Provinzen eröffnen. Dem Auswärtigen Amt sind jedoch keine Konsequenzen in Bezug auf Nichteinhaltung dieser Vorschriften bekannt.

Am 31. Mai 2016 hat das afghanische Wirtschaftsministerium unter Beteiligung von NROen eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die das NRO-Gesetz überarbeiten soll. Zudem anhängig ist ein Gesetz zu Stiftungen sowie zu ehrenamtlichen Tätigkeiten. Die Zahl der NROen steigt: Zwischenzeitlich gibt es l3.679 lokale und 416 ausländische Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan. Hinzu kommen ca. 5.789 Vereinigungen (Quelle: International Center for Notfor-Profit Law).

Meinungs- und Pressefreiheit

Die afghanische Verfassung garantiert in Art. 34 Meinungs- und Pressefreiheit. Die Freiheiten sind grundsätzlich im regionalen Vergleich in einem bemerkenswerten Maß verwirklicht.

In den vergangenen Jahren galt die afghanische Medienlandschaft als Vorzeigesektor: diversifiziert, unabhängig, im Wachstums- und Professionalisierungsprozess begriffen und von einem vergleichsweise liberalen rechtlichen Rahmenwerk gestützt. Dieses Bild muss differenziert werden. Während der Boomjahre 2007-2012 sind mehr Medien entstanden als der afghanische Markt erhalten kann, es gibt allein 75 TV- und über 200 Radio-Sender. Nur die größten Sender und die Kanäle lokaler Mäzene können dem wirtschaftlichen Druck standhalten. Sicherheitserwägungen, eine konservative Medienpolitik und religiöse Forderungen schränken die Medienfreiheit ein. Zugleich übernehmen afghanische Medienvertreter zunehmend politische Verantwortung und gehen bewusst Risiken ein, um Missstände anzuprangern.

Journalisten beklagen eine wachsende Kontrolle des Staates über die Berichterstattung. Zwar stieg AFG in der Rangliste der Pressefreiheit seit 2011 stetig, zwischenzeitlich auf Platz 122 von 180 ("Press Freedom Index" der Organisation "Reporter ohne Grenzen"), doch sind Einflussnahme und Drohungen durch Parlamentarier, Mitarbeiter der Ministerien und Sicherheitsorgane und lokale Machthaber an der Tagesordnung. "Reporter ohneGrenzen" berichtet, dass in mehreren Provinzen im Nordosten des Landes - darunter Badachschan, Nangarhar, Baghlan und Nuristan - praktisch keine unabhängige Berichterstattung mehr möglich sei. Wegen der heftigen Kämpfe sowie der Bedrohung durch Islamisten (u.a. Taliban) haben viele Journalisten dort ihre Arbeit völlig eingestellt. In Helmand im Süden und Chost im Osten Afghanistans ist die Lage für Medienschaffende schon länger äußerst schwierig. Das Afghan Journalists Safety Committee berichtet aber von einem Rückgang der Bedrohungen und Einschüchterungen von Journalistinnen und Journalisten im ersten Halbjahr 2015 um 43 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Von Januar bis Juli 2015 zählte es 39 Fälle von Gewalt gegen Journalisten, darunter einen Mord. Bessere Beziehungen zwischen den Journalisten und den die Medien unterstützenden Organisationen, aber auch die Unterstützung der Regierung für Journalisten und die Meinungsfreiheit sollen zu diesem Rückgang beigetragen haben.

Minderheiten

Der Anteil der Volksgruppen im Vielvölkerstaat Afghanistan wird in etwa wie folgt geschätzt (zuverlässige Zahlen liegen hierzu nicht vor): Paschtunen ca. 40 %, Tadschiken ca. 25 %, Hazara ca. 10 %, Usbeken ca. 6 % sowie zahlreiche kleinere ethnische Gruppen (Aimak, Turkmenen, Belutschen, Nuristani u. a.). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status dort eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser anderen Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri.

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung verankert. Fälle von Sippenhaft oder soziale Diskriminierung kommen jedoch vor allem in Dorfgemeinschaften auf dem Land häufig vor.

Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert. Ihre Zahl wird auf etwa 3 Millionen geschätzt. Sie sind in der öffentlichen Verwaltung jedoch nach wie vor unterrepräsentiert. Unklar ist, ob dies Folge der früheren Marginalisierung oder eine gezielte Benachteiligung neueren Datums ist. Auch gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben in lokal unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf. 2015 wurden 31 Angehörige der Hazara-Ethnie (knapp 90 % der Schiiten in Afghanistan) auf der Fernstraße zwischen Kabul und Kandahar entführt. Vier wurden zur Untermauerung von Forderungen enthauptet, die übrigen später wieder freigelassen. Zu der Tat bekannte sich eine Gruppe, die sich zum sog. Islamic State KhorasanProvince (ISKP) zählt. Dem folgten weitere Entführungen von Hazara in den Provinzen Ghazni und Farah, die vermutlich von anderen Tätergruppen ausgingen. Auch die o.g. Enlightenment-Bewegung setzt sich aus Hazara zusammen, die sich bei der Verlegung einer Stromtrasse durch das Land benachteiligt sehen.

Die ca. 1,5 Million Nomaden (Kutschi), die mehrheitlich Paschtunen sind, leiden in besonderem Maße unter den ungeklärten Boden- und Wasserrechten. De facto kommt es immer wieder zu Diskriminierungen dieser Gruppe, da sie auf Grund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter gelten. Nomaden werden öfter als andere Gruppen auf bloßen Verdacht hin einer Straftat bezichtigt und verhaftet, sind aber oft auch rasch wieder auf freiem Fuß. Angehörige der Nomadenstämme sind auf Grund bürokratischer Hindernisse dem Risiko der (faktischen) Staatenlosigkeit ausgesetzt. Die Verfassung sieht vor, dass der Staat Maßnahmen für die Verbesserung der Lebensgrundlagen von Nomaden ergreift. Einzelne Kutschi sind als Parlamentsabgeordnete oder durch politische und administrative Ämter Teil der Führungselite Afghanistans.

Zu den am stärksten marginalisierten Gruppen gehört die ethnische Minderheit der Jat, die die Gemeinschaften der Jogi, Chori Frosh und Gorbat umfasst. Es gibt unbestätigte Berichte, wonach Jogi keine Ausweisdokumente erhalten und damit nur beschränkten Zugang zu staatlichen Einrichtungen haben.

Religionsfreiheit

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Die Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind jedoch allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen. Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt.

Nicht-muslimische religiöse Minderheiten werden durch das geltende Recht diskriminiert. So gilt die sunnitische hanafitische-Rechtsprechung (eine der Rechtsschulen des sunnitischen Islams) für alle afghanischen Bürgerinnen und Bürger, unabhängig ihrer Religion.

Nach offiziellen Schätzungen sind 80 % der Bevölkerung sunnitische und 19 % schiitische Muslime, einschließlich Ismailiten. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z. B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1 % der Bevölkerung aus. Es lebt offiziell noch ein Jude in Afghanistan, der sich um die verwaiste Synagoge kümmert.

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Sowohl im Rat der Religionsgelehrten (Ulema) als auch im Hohen Friedensrat sind auch Schiiten vertreten; beide Gremien betonen, dass die Glaubensausrichtung keinen Einfluss auf ihre Zusammenarbeit habe. Am 23. Juli 2016 wurde beim schwersten Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte die zweite Großdemonstration der Enlightenment-Bewegung durch den ISKP angegriffen. Es dabei starben über 85 Menschen, rund 240 wurden verletzt. Dieser Schlag richtete sich fast ausschließlich gegen Schiiten.

Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis

Eine Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis, die systematisch nach Merkmalen wie Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung diskriminiert, ist nicht erkennbar. Fälle von Sippenhaft kommen allerdings vor.

Verwaltung und Justiz sind nur eingeschränkt wirkmächtig. Hier zeigt sich auch der stete Drahtseilakt zwischen Islamvorbehalt in der Verfassung, tradierten Moralvorstellungen und ratifizierten internationalen Abkommen, deren Umsetzung ebenfalls in der Verfassung festgeschrieben ist. Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt. Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte und Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems.

Militärdienst

Afghanistan kennt keine Wehrpflicht. Das vorgeschriebene Mindestalter für die freiwillige Rekrutierung beträgt 18 Jahre. Mögliche Zwangsrekrutierungen bei der afghanischen Armee (oder Polizei) sind nicht auszuschließen. Da die Tätigkeit als Soldat oder Polizist für den großen Teil der jungen männlichen Bevölkerung eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten darstellt, erscheint die Notwendigkeit für Zwangsrekrutierungen jedoch eher unwahrscheinlich.

Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihre Familien kaum an die Öffentlichkeit.

Geschlechtsspezifische Verfolgung

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert hat, bleibt die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativislamischen afghanischen Gesellschaft schwierig. Die konkrete Situation von Frauen unterscheidet sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark.

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90 % innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord. Es trifft Frauen aber auch im Arbeitskontext: So sind z. B. Polizistinnen massiven Belästigungen und auch Gewalttaten durch Arbeitskollegen oder im direkten Umfeld ausgesetzt. Insbesondere durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, das "Eliminating Violence Against Women (EVAW) Gesetz, im Jahre 2009 wurde eine wichtige Grundlage geschaffen, Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt - unter Strafe zu stellen. Das durch Präsidialdekret erlassene Gesetz wird jedoch besonders außerhalb der Städte weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Eine Verabschiedung des EVAW-Gesetzes durch beide Parlamentskammern steht weiterhin aus und birgt die Gefahr, dass die Inhalte verwässert werden.

Im Juni 2015 hat die afghanische Regierung den Nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der VN-SR-Resolution 1325 auf den Weg gebracht.

Gleichzeitig führt aber eine erhöhte Sensibilisierung auf Seiten der afghanischen Polizei und Justiz zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung spezialisierter Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen. Anlässlich des dritten "Symposium on Afghan Women's Empowerment" im Mai 2016 in Kabul bekräftigte die afghanische Regierung auf höchster Ebene den Willen zur weiteren Umsetzung. Ob/inwieweit sich dies in das System an sich und bis in die Provinzen fortsetzt, ist zumindest fraglich.

Gleichzeitig ist es für viele Frauen immer noch sehr schwierig, außerhalb des Bildungs- und Gesundheitssektors Berufe zu ergreifen. Einflussreiche Positionen werden abhängig von Beziehungen und Vermögen vergeben. Oft scheitern Frauen schon an den schwierigen Transportmöglichkeiten und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung.

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Darüber hinaus geschieht es immer wieder, dass Frauen, die entweder eine Straftat zur Anzeige bringen oder aber von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, wegen sog. Sittenverbrechen wie z.B. "zina" (außerehelicher Geschlechtsverkehr) im Fall einer Vergewaltigung verhaftet oder wegen "Von-zu-Hause-Weglaufens" (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der zina gewertet) inhaftiert werden. Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter. Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet. Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht. Eine Erhebung des zuständigen Ministeriums von 2006 zeigt, dass über 50 % der Mädchen unter 16 Jahren verheiratet wurden und dass 60-80 % aller Ehen in Afghanistan unter Zwang zustande kamen.

Das Recht auf Familienplanung wird noch von recht wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden haben, so nutzen jedoch nur etwa 22 % (überwiegend in den Städten und gebildetere Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter.

In der Tradition des Paschtunwali (paschtunischer Ehrenkodex) werden Frauen als Objekt der Streitbeilegung ("baad" und "ba¿adal") missbraucht. Die Familie des Schädigers bietet der Familie des Geschädigten ein Mädchen oder eine Frau zur Begleichung der Schuld an, womit die Frau zugleich indirekt zum Symbol der Tat wird, oder Familien tauschen Frauen aus. Dies ist nach afghanischem Recht verboten, wird jedoch insbesondere auf dem Land weiterhin praktiziert.

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre. Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden.

Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich.

Repressionen Dritter

Die größte Bedrohung für die Bürger Afghanistans geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Es handelt sich meist um Anführer von Milizen, die zwar nicht mit staatlichen Befugnissen, aber mit faktischer Macht ausgestattet sind, die sie häufig missbrauchen. Die Zentralregierung hat auf viele dieser Personen kaum Einfluss und kann sie nur begrenzt kontrollieren bzw. ihre Taten untersuchen oder verurteilen. Wegen des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben diese Menschenrechtsverletzungen daher häufig ohne Sanktionen.

Es kommt in Afghanistan landesweit immer wieder zu Entführungen, die entweder politisch oder finanziell motiviert sind. In vielen Fällen enden gerade die finanziell motivierten Entführungslagen glimpflich, wenn sich die Familie des Opfers mit den Entführern auf die Summe des Lösegeldes einigen kann. Reiche Geschäftsleute leisten sich aufgrund dieser allgemeinen Gefährdung häufig die Begleitung durch private Sicherheitskräfte.

Neben medienwirksamen Anschlägen auf militärische wie zivile internationale Akteure verübt die Insurgenz vermehrt Anschläge gegen die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte. Im Zuge der Übernahme der Sicherheitsverantwortung in ganz Afghanistan stehen die ANDSF in der ersten Reihe und sind primäres Ziel der Insurgenz. Die Verlustzahlen für Januar bis August 2016 belaufen sich auf 6.920 Gefallene und 10.881 Verwundete. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stellt dies einen Anstieg um ca. 14 % bzw. 13 % dar, wobei die Armee allein einen Anstieg von ca. 58 % der Gefallenen zu beklagen hat.

Auf Grund ihrer besonderen Machtstellung gehören Provinz- und Distriktgouverneure zu den herausgehobenen Personen, auf die immer wieder Anschläge verübt werden. Auch gegen Mitarbeiter des afghanischen öffentlichen Dienstes wie Angehörige von Ministerien oder nachgeordneten Behörden einschließlich Richter und Staatsanwälte werden auf Grund ihrer Tätigkeit für den afghanischen Staat Anschläge verübt.

Hohe Opferzahlen erleidet auch die afghanische Zivilbevölkerung, insbesondere wird sie bei Anschlägen mittels improvisierter Sprengsätze (improvised explosive devices - IEDs) in Mitleidenschaft gezogen. Im ersten Halbjahr gab es nach Berichten von UNAMA einen Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Halbjahr 2015 um 4 % auf 1.601 getötete und 3.565 verletzte Zivilisten. Nach wie vor ist die Insurgenz für die meisten Opfer verantwortlich (circa 60 %). Demgegenüber gehen 23 % der Opfer auf das Konto der ANDSF, Pro-Regierungs-Milizen und internationaler Kräfte. Dies ist ein Anstieg von 47 % zum Vorjahreszeitraum, zurückzuführen auf intensivierte Bodenoperationen der immer selbstständiger agierenden Truppen. Generell besteht das Defizit fort, die Schuldigen für

Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen.

Fortgesetzt hat sich auch der Trend von Angriffen gegen Geistliche (Mullahs), insbesondere sofern diese die Regierung unterstützen, und auf religiöse Orte. Gezielte Angriffe auf Mullahs und religiöse Stätten sind 2015 gegenüber 2014 laut UNAMA insgesamt leicht zurückgegangen (56 Angriffe), wenngleich darunter mehr Todesopfer zu beklagen sind als in den Vorjahren.

Immer wieder kam es auch zu Anschlägen auf Kindergärten, Schulen, Lehrer oder Schüler, wobei nicht selten auch Personen verletzt oder getötet wurden. Die Angriffe fanden landesweit statt, verstärkt aber im Süden und Osten des Landes. Derartige Angriffe verletzen neben den Opfern auf Seiten der Zivilbevölkerung die Schule als staatliche Institution.

Folter

Laut afghanischer Verfassung ist Folter verboten (Art. 29). Fälle von Folter durch Angehörige der Polizei, des "National Directorate of Security" (NDS) und der militärischen Kräfte sind aber nachgewiesen und werden von den jeweiligen Behörden zumindest offiziell als Problem erkannt. Generell sind Frauen und Kinder in Polizeigewahrsam und Haftanstalten besonders in Gefahr, misshandelt zu werden. Aber auch in Bezug auf Häftlinge, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan festgenommen werden, wurden in der jüngeren Vergangenheit grobe Missstände aufgedeckt (UNAMA-Update on the Treatment of Conflict-Related Detainees in Afghan Custody: Accountability and Implementation of Presidential Decree 129, Februar 2015). Ursächlich für weitverbreitete Misshandlungen und Folter in den Haftanstalten sind laut diesem Bericht unterschiedliche Faktoren: Da die Abgrenzung zwischen polizeilicher und staatsanwaltlicher Arbeit nicht immer bekannt ist, werden Verdächtige oft lange über die gesetzliche Frist von 72 Stunden hinaus festgehalten, ohne einem Staatsanwalt oder Richter vorgeführt zu werden. Trotz gesetzlicher Regelung erhalten Inhaftierte zudem nur selten rechtlichen Beistand durch einen Strafverteidiger. Schließlich liegt ein zentrales Problem in der Tatsache begründet, dass afghanische Richter sich bei Verurteilungen fast ausschließlich auf Geständnisse der Angeklagten stützen. Das Geständnis als "Beweismittel" erlangt so überdurchschnittliche Bedeutung, wodurch sich der Druck auf NDS und Polizei erhöht, ein Geständnis zu erzwingen. Da die Kontrollmechanismen weder beim NDS noch bei der afghanischen Polizei durchsetzungsfähig sind, erfolgt eine Sanktionierung groben Fehlverhaltens durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden bisher nur selten ("almost total lack of accountability", Quelle: UNAMA-Update on the Treatment of Conflict-Related Detainees in Afghan Custody: Accountability and Implementation of Presidential Decree 129, Februar 2015). Allerdings scheint sich die Lage dieser Häftlinge insgesamt verbessert zu haben: Nur noch 35 % der Befragten gaben an, gefoltert worden zu sein (im Gegensatz zu 49 % im UNAMA-Bericht vom Januar 2013).

Todesstrafe

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen. Es gibt ein Präsidialdekret aus dem Jahre 1992, welches die Anwendung der Todesstrafe auf fünf Deliktarten einschränkt: (vorsätzlicher) Mord, Genozid, Sprengstoffattentate (i. V. m. Mord), Straßenräuberei (i. V. m. Mord) und Angriffe gegen die territoriale Integrität Afghanistans. Dieses Präsidialdekret wurde allerdings in jüngster Zeit nicht beachtet. Unter dem Einfluss der Scharia droht die Todesstrafe auch bei anderen "Delikten" (z. B. Blasphemie, Apostasie).

Die Entscheidung über die Todesstrafe wird vom Obersten Gericht getroffen bzw. bestätigt und kann nur mit Zustimmung des Präsidenten vollstreckt werden. Die Todesstrafe wird durch Erhängen vollstreckt.

In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig wahrgenommenen Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können.

Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hat und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, die die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, werden weiter Todesurteile vollstreckt.

Die jüngsten Hinrichtungen von sechs verurteilten Terroristen fanden am 8. Mai 2016 statt. Die Vollstreckung der bereits rechtskräftigen Todesurteile war Teil einer von StP Ghani angekündigten härteren Politik im Kampf gegen die Insurgenz und folgte als Reaktion auf öffentliche Vergeltungsrufe nach einem schweren Taliban-Anschlag. Zuvor wurden 2014 und 2012 sechs bzw. 16 Todesstrafen verurteilter Straftäter vollstreckt.

Sonstige menschenrechtswidrige Handlungen

Immer wieder kommt es zu Exekutionen durch nicht-staatliche Akteure vor allem auch durch Aufständische, die sich auf traditionelles Recht berufen und die Vollstreckung der Todesstrafe mit dem Islam legitimieren. So wurden im September 2015 ein Mann und eine Frau von den Taliban wegen "unsittlicher Kontakte" zu Tode gesteinigt. Die afghanische Regierung verurteilt diese Exekutionen.

Darüber hinaus kommt es immer wieder zu Angriffen gegen Zivilisten, die für die afghanische Regierung oder internationale Organisationen arbeiten. UNAMA (UN MR-Bericht Februar 2016) verzeichnet einen Anstieg um 27 % mit 1.422 Angriffen (850 Tote und 572 Verletzte) und damit 13 % aller Anschläge auf Zivile.

UNHCR berichtete auch von Zwangsrekrutierungen junger Männer durch die Taliban in Gebieten, die diese kontrollieren.

Regierungsfeindliche Kräfte nutzen die Abwesenheit oder das mangelnde Vertrauen in staatliche Justizstrukturen, um eigene parallele "Rechtsprechung" durchzusetzen. UNAMA berichtet für den Zeitraum von 1. Januar bis 30. Juni 2016 von 26 Vorfällen, in denen regierungsfeindliche Kräfte einschließlich der Taliban Strafmaßnahmen vollzogen haben. Bei den Strafen handelte es sich um Exekutionen, Auspeitschungen und Schläge, Haftstrafen sowie Strafzahlungen. Der Großteil der Strafmaßnahmen wurde aus den westlichen Provinzen, insbesondere Farah und Badghis berichtet. Die Maßnahmen hatten 24 Todesopfer und fünf Verletzte zur Folge, was einen Anstieg um 28 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bedeutet. "Parallele Rechtsprechung" ist nach dem afghanischen Recht zwar verboten, wird aber kaum bis gar nicht staatlich verfolgt.

Vereinzelt gibt es zudem Berichte von Körperstrafen nach islamischem Recht (Auspeitschungen, Steinigungen, Amputationen). Diese Strafen werden im ländlichen Raum eher verhängt als in den Städten, da die ländlichen Gebiete durch ihre Abgeschnittenheit und strukturelle Rückständigkeit eine Regulierung oder öffentliche Ordnung nur sehr begrenzt zulassen.

Rückkehrerfragen

Situation für Rückkehrer (und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen)

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2015 lediglich Platz 171 von 187 im Human Development Index.

Rund 36 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte fehlt es vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.

Das rapide Bevölkerungswachstum stellt eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen 2012 und 2015 wird das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4 % pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkommt. Die Möglichkeiten des afghanischen Staates, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, zur Verfügung zu stellen, geraten dadurch zusätzlich unter Druck.

Die afghanische Wirtschaft ringt in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000).

Die wirtschaftliche Entwicklung bleibt geprägt durch eine schwache Investitionstätigkeit, so dass nach Weltbank-Angaben auch das Jahr 2015 nur mit einem geringen Wirtschaftswachstum schließen wird. Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet weiter voran (in der ersten Jahreshälfte 2015 um über 5 %), bei gleichzeitiger Deflation. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum scheint kurzfristig nicht in Sicht.

Das Vertrauen von Investoren und Verbrauchern in Afghanistan ist im Vergleich zum Vorjahr laut Einschätzung der Asian Development Bank weiter gesunken; Ursachen hierfür sind neben der schwierigen Sicherheitslage vor allem in der schleppenden Regierungsbildung zu sehen, die auch viele Monate nach den Präsidentschaftswahlen noch zu politischer und wirtschaftlicher Lähmung geführt hat.

Laut der Afghanistan Investment Support Agency (AISA) sind ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30 % zurückgegangen. Die Rahmenbedingungen für Investoren haben sich in den vergangenen Jahren kaum verbessert. In einschlägigen Rankings schneidet Afghanistan nach wie vor schlecht ab, so u. a. mit Platz 183 von 189 im "Doing Business Report".

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes ist die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40 % gestiegen. Zudem ist das sogenannte "vulnerable employment" (z. B. unentgeltliche Tätigkeiten im Familienbetrieb) laut Informationen der International Labour Organization nach wie vor weit verbreitet. Schätzungen gehen von rund sechs Millionen Betroffenen aus, darunter zumeist Frauen.

Grundversorgung (auch allgemein)

Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Für Rückkehrer gilt dies naturgemäß verstärkt. Eine hohe Arbeitslosigkeit wird verstärkt durch vielfältige Naturkatastrophen. Das World Food Programme reagiert das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch. Gerade der Norden - eigentlich die "Kornkammer" des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt. Die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.

Medizinische Versorgung

Die Datenlage zur medizinischen Versorgung in Afghanistan bleibt äußerst lückenhaft. In vielen Bereichen liegen Daten nur unzuverlässig oder nur ältere statistische Erhebungen der afghanischen Regierung oder der Weltgesundheitsorganisation vor. Besonders betroffen von unzureichender Datenlage sind hierbei die südlichen und südwestlichen Provinzen.

Grundsätzlich hat sich die medizinische Versorgung, insbesondere im Bereich der Grundversorgung, in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert, fällt jedoch im regionalen Vergleich weiterhin drastisch zurück. Aktuell liegt die Lebenserwartung in Afghanistan noch bei ca. 50 Jahren. Die Lebenserwartung bei Geburt liegt nunmehr bei 64 Jahren, gegenüber 68 Jahren im regionalen Vergleich, was für Afghanistan einen Anstieg um 22 Jahre über das letzte Jahrzehnt bedeutet. Über den gleichen Zeitraum sind auch die Verbesserungen in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit erheblich. Lag die Müttersterblichkeit früher bei 1.600 Todesfällen auf 100.000 Geburten, beläuft sie sich im Jahre 2015 auf 324 Todesfälle von 100.000 Geburten. Die Kindersterblichkeit liegt nach statistischen Angaben von 2013 bei 91 von 1.000 lebend Geborenen, die nicht das fünfte Lebensjahr erreichen. Trotz der Fortschritte liegen diese Zahlen jedoch weiterhin über dem regionalen Durchschnitt.

Die medizinische Versorgung leidet trotz der erkennbaren und erheblichen Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken, insbesondere aber an fehlenden Ärzten und Ärztinnen sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal (v. a. Hebammen). Im Jahr 2013 stand 10.000 Einwohnern Afghanistans statistisch gesehen eine medizinisch qualifizierte Person gegenüber. Auch hier gibt es bedeutende regionale Unterschiede innerhalb des Landes, wobei die Situation in den Nord- und Zentralprovinzen um ein Vielfaches besser ist als in den Süd- und Ostprovinzen.

Durch die gute ärztliche Versorgung im "French Medical Institute" und dem Deutschen Diagnostischen Zentrum in Kabul können Patienten einschließlich Kinder auch mit komplizierteren Krankheiten in Kabul behandelt werden. Afghanische Staatsangehörige mit guten Kontakten zum ausländischen Militär oder Botschaften können sich unter bestimmten Umständen auch in Militärkrankenhäusern der ausländischen Truppen behandeln lassen.

Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Pilotprojekten, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Gleichzeitig leiden viele Afghaninnen und Afghanen unter psychischen Symptomen der Depression, Angststörungen oder posttraumatischer Belastungsstörung (Bericht des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016).

Feststellungen zur Lage der Frauen in Afghanistan, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen:

Frauen sind besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird.

Afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben, beispielsweise solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind, werden nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen. Als Folge können sie Opfer von häuslicher Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte "Schande" reichen. Tatsächliche oder vermeintliche Überschreitungen der sozialen Verhaltensnormen umfassen nicht nur das Verhalten in im familiären oder gemeinschaftlichen Kontext, sondern auch die sexuelle Orientierung, das Verfolgen einer beruflichen Laufbahn und auch bloße Unstimmigkeiten über Art des Auslebens des Familienlebens (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Zusammenfassende Übersetzung vom 10.11.2009).

Trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, sind Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Frauen ohne Unterstützung und Schutz durch Männer wie etwa Witwen sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Erwerbsmöglichkeiten, sind sie kaum in der Lage zu überleben.

Inhaftierungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia betreffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, einschließlich Inhaftierung aufgrund "moralischer Vergehen", wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat und "Weglaufen von Zuhause" (einschließlich in Situationen von häuslicher Gewalt). Mehr als die Hälfte der in Afghanistan inhaftierten Mädchen und Frauen wurden "moralische Vergehen" zur Last gelegt. Da Anklagen aufgrund von Ehebruch und anderen "moralischen Vergehen" Anlass zu Ehrenmorden geben können, versuchen die Behörden in einigen Fällen die Inhaftierung von Frauen als Schutzmaßnahmen zu rechtfertigen.

In Gebieten, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte befinden, besteht für Frauen und Männer, die unmoralischer Verhaltensweisen bezichtigt werden, das Risiko, über die parallelen Justizstrukturen dieser regierungsfeindlichen Kräfte zu harten Strafen, einschließlich zu Auspeitschung und zum Tod, verurteilt zu werden (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016).

Frauen sind Gewalttaten in besonderer Weise ausgesetzt. UNAMA dokumentierte 2016 insgesamt 64 Fälle (26 Tote, 38 Verletzte), in denen Zivilistinnen Opfer gezielt gegen sie gerichteter Gewalt durch regierungsfeindliche Gruppen wurden. Hintergrund ist häufig die soziale Ablehnung von weiblichen Rollen außerhalb der traditionellen Normen. So berichtet UNAMA etwa von der gezielten Tötung von fünf Mitarbeiterinnen einer Sicherheitsfirma in Kandahar am 17.12.2016, die einer beruflichen Tätigkeit außerhalb ihres Hauses nachgingen (Ergänzender Bericht des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland zu Afghanistan vom 28.07.2017).

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahmen in den Verwaltungsakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, in das dem Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich Afghanistan vorliegende Dokumentationsmaterial und durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 29.05.2018.

Die Feststellungen zur Person der Asylwerberin ergeben sich insbesondere aus dem im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung erstatteten glaubwürdigen Vorbringen und dem hiebei gezeigten Erscheinungsbild, wobei betont wird, dass die Asylwerberin auch bereits in der vor dem Bundesamt vorgenommenen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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