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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 2005 §10 Abs3;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des J S in L, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Maria-Theresia-Straße 9, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15. Dezember 2017, W212 2172343-1/2E, betreffend Aufenthaltstitel und Rückkehrentscheidung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 7. September 2017 wurde der Antrag des Revisionswerbers, eines indischen Staatsangehörigen, vom 19. April 2017 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen. Weiters stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Indien gemäß § 46 FPG zulässig sei und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen fest.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 15. Dezember 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung -
als unbegründet ab und erklärte die ordentliche Revision für unzulässig.
Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung im Wesentlichen folgenden Sachverhalt zugrunde: Der Antrag des seit Mai 2012 in Österreich aufhältigen Revisionswerbers auf internationalen Schutz sei mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 23. November 2012 rechtskräftig abgewiesen worden. Der Revisionswerber lebe mit seiner Lebensgefährtin, einer über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" verfügenden indischen Staatsangehörigen, sowie der gemeinsamen, im Dezember 2016 geborenen Tochter im selben Haushalt. Er sei nicht selbsterhaltungsfähig und lebe von den Einkünften seiner Lebensgefährtin, verfüge aber über eine Arbeitsplatzzusage und ein Sprachzertifikat auf dem Niveau A2. Wegen der Verwendung von gefälschten, besonders geschützten Urkunden sei er zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden. Eine ausgeprägte entscheidungserhebliche Integration habe nicht festgestellt werden können.
Die vorliegend getroffene aufenthaltsbeendende Maßnahme habe - so das Verwaltungsgericht - die Trennung des Revisionswerbers von seiner Tochter und seiner Lebensgefährtin zur Folge und stelle daher einen Eingriff in das Recht auf Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK dar. Die Pflege und Erziehung der Tochter sei durch die Kindesmutter gesichert. Sowohl seine Lebensgefährtin als auch seine Tochter seien indische Staatsangehörige; Hinweise darauf, dass eine Weiterführung des Familienlebens in Indien nicht möglich sei, seien nicht aufgetreten. Im Ergebnis würden die öffentlichen Interessen schwerer wiegen als die privaten Interessen des Revisionswerbers.
3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
4 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
5 Zur Zulässigkeit bringt der Revisionswerber unter anderem vor, das Verwaltungsgericht hätte ihn zur Intensität der familiären Bindungen sowie dazu, wie sich seine Aufenthaltsbeendigung auf seine Lebensgefährtin und seine Tochter auswirken würde und ob eine Weiterführung des Familienlebens in Indien möglich sei, persönlich hören und seine Lebensgefährtin als Zeugin vernehmen müssen.
6 Die Revision ist im Hinblick darauf zulässig und auch berechtigt.
7 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.
8 Vorauszuschicken ist zunächst, dass das Unterbleiben der Durchführung der in der Beschwerde beantragten Verhandlung im angefochtenen Erkenntnis nicht begründet wurde (vgl. diesbezüglich - wenn auch im Zusammenhang mit § 24 VwGVG - VwGH 20.11.2014, Ra 2014/07/0052).
9 Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt (siehe VwGH 27.7.2017, Ra 2017/22/0007; 30.6.2016, Ra 2016/21/0165; 5.5.2015, Ra 2014/22/0035; jeweils mwN).
10 Da der Revisionswerber in der Beschwerde eine enge Bindung zu seiner - zum Entscheidungszeitpunkt etwa einjährigen - Tochter, die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung des Kontakts zu ihr im Fall seiner Ausreise und die Ungewissheit einer gemeinsamen Rückkehr mit seiner Familie nach Indien ins Treffen geführt hat, hätte sich das Verwaltungsgericht diesbezüglich einen persönlichen Eindruck verschaffen müssen (vgl. zur Einbindung in die Betreuung und zur Zumutbarkeit einer gemeinsamen Ausreise - wenn auch im Zusammenhang mit § 24 VwGVG - VwGH 25.10.2017, Ra 2017/22/0038, mwN). Es ist daher nicht zu ersehen, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung keine Klärung des Sachverhaltes dazu habe erwarten lassen und das Verwaltungsgericht diesbezüglich von einem geklärten Sachverhalt ausgehen durfte.
11 Im Hinblick auf die familiären Bindungen des Revisionswerbers kann vorliegend nicht von einem eindeutigen Fall ausgegangen werden, in dem bei Berücksichtigung aller zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten wäre, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen persönlichen Eindruck verschafft hätte (vgl. dazu VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289). Daran vermag fallbezogen die vom Verwaltungsgericht angesprochene Verurteilung des Revisionswerbers nichts zu ändern, weil jedenfalls im Hinblick auf das Strafmaß (eine nähere Darstellung der zugrunde liegenden strafbaren Handlungen findet sich im angefochtenen Erkenntnis nicht) nicht von einer derart massiven Delinquenz des Revisionswerbers auszugehen war, dass auch die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks zu keinem für den Revisionswerber günstigeren Ergebnis hätte führen können (vgl. zu einer derartigen Konstellation etwa VwGH 26.1.2017, Ra 2016/21/0233).
12 Das angefochtene Erkenntnis war daher (die Aussprüche über die Zulässigkeit der Abschiebung und die Frist für die freiwillige Ausreise können allein keinen Bestand haben) zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
13 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
14 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 21. Juni 2018
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018220035.L00.1Im RIS seit
17.07.2018Zuletzt aktualisiert am
19.07.2018