TE Vwgh Erkenntnis 2018/6/28 Ra 2017/19/0579

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Veröffentlicht am 28.06.2018
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2017/19/0581 Ra 2017/19/0580

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision 1. der S Q, 2. des T Q, 3. des A R Q, alle vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17. Mai 2017, W193 2132457-1/10E, W193 2132458-1/12E und W193 2132456-1/9E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) abgewiesen wurden, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans. Die Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerber sind miteinander verheiratet und Eltern des minderjährigen Drittrevisionswerbers. Sie stellten am 9. April 2015 und 7. August 2015 Anträge auf internationalen Schutz. Zu ihren Fluchtgründen gaben sie an, die Schwester des Zweitrevisionswerbers habe sich geweigert, den Sohn eines "mächtigen Kommandanten" zu heiraten. Aufgrund dessen seien der Zweitrevisionswerber und seine Familie bedroht und verfolgt worden.

2 Mit Bescheiden vom 25. Juli 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005, erließ gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) Rückkehrentscheidungen, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der revisionswerbenden Parteien nach Afghanistan zulässig sei, und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise nach § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest.

3 Gegen diese Bescheide erhoben die revisionswerbenden Parteien Beschwerden. Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) brachte die Erstrevisionswerberin ergänzend vor, ihr drohe in Afghanistan auch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen Verfolgung. Sie sei eine moderne Frau, die die traditionell begründeten Einstellungen in ihrem Heimatland und die sich daraus für Frauen ergebenden Zwänge ablehne. In Österreich gehe sie nunmehr allein außer Haus, pflege Freizeitaktivitäten, mache eine Ausbildung und wolle in naher Zukunft einen Beruf - etwa als Modedesignerin - ausüben. Das alles sei in Afghanistan nicht möglich. Sie sei nicht bereit, sich erneut der Unterdrückung durch die afghanische Gesellschaft zu unterwerfen.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerden als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5 Das BVwG stellte - soweit im Revisionsverfahren noch von Bedeutung - fest, die revisionswerbenden Parteien seien in Kabul wohnhaft gewesen. Die Gefahr einer Verfolgung der revisionswerbenden Parteien aufgrund der Weigerung der Schwester des Zweitrevisionswerbers, den Sohn eines "mächtigen Kommandanten" zu heiraten, sei nicht glaubhaft. Eine "asylrelevante Diskriminierung" der Erstrevisionswerberin aufgrund einer "westlichen Orientierung" könne "nicht festgestellt" werden.

6 In der Beweiswürdigung hielt das BVwG fest, es sei nicht glaubhaft, dass die Erstrevisionswerberin in Afghanistan aufgrund einer "westlichen Orientierung" einer "Diskriminierung" ausgesetzt gewesen sei oder ihr eine solche gedroht habe. Die Erstrevisionswerberin habe im Verfahren vielmehr angegeben, in Afghanistan die Schule besucht zu haben, aus einer modernen Familie zu stammen und von ihren Eltern viel Unterstützung bekommen zu haben. Nach ihren Ausführungen habe sie ein unbeschwertes Leben geführt, allein eingekauft, sich auf der Straße "normal gekleidet" und nur ein Kopftuch getragen.

7 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, Voraussetzung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sei eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine solche Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat sei von den revisionswerbenden Parteien nicht glaubhaft gemacht worden. Auch "eine asylrelevante Diskriminierung" der Erstrevisionswerberin "aufgrund von westlicher Orientierung" sei nicht hervorgekommen. Das Verlassen des Herkunftsstaates aus persönlichen Gründen oder wegen dort vorherrschender prekärer Lebensbedingungen stelle keine asylrelevante Verfolgung dar.

8 Gegen dieses Erkenntnis erhoben die revisionswerbenden Parteien zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Mit Erkenntnis vom 21. September 2017, E 2130-2132/2017-14, sprach der Verfassungsgerichtshof aus, dass die revisionswerbenden Parteien durch das Erkenntnis des BVwG, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§ 57 AsylG 2005), gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und gegen die Festsetzung einer vierzehntätigen Frist zur freiwilligen Ausreise, abgewiesen worden sei, in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr. 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden seien. Unter einem hob der Verfassungsgerichtshof das angefochtene Erkenntnis des BVwG insoweit auf. Im Übrigen - somit hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten - lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab und trat mit Beschluss vom 3. November 2017, E 2130-2132/2017-16, die Beschwerde über nachträglichen Antrag der revisionswerbenden Parteien im Sinn des § 87 Abs. 3 VfGG gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG insoweit dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten erhobene außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:

10 Die revisionswerbenden Parteien bringen zur Zulässigkeit und zur Begründung ihrer Revision vor, das BVwG sei von (näher dargestellter) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es sich hinsichtlich des Vorbringens der Erstrevisionswerberin, ihr drohe aufgrund ihrer "westlichen Orientierung" in Afghanistan Verfolgung, lediglich mit ihrem bisherigen Verhalten in Afghanistan, nicht aber mit ihrer nunmehrigen Lebensweise in Österreich bzw. damit, ob der Erstrevisionswerberin aufgrund dieser nunmehr angenommenen westlichen Lebensweise bei einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung drohe, auseinandergesetzt habe.

11 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

12 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301 bis 0306, mwN).

13 Die Erstrevisionswerberin hat im vorliegenden Fall, die Annahme einer solchen "westlichen" Lebensweise durch sie, die sie so verinnerlicht habe, dass sie diese bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht unterdrücken könne, vorgebracht.

14 In der Beurteilung dieses Vorbringens hat das BVwG allein darauf abgestellt, dass die Erstrevisionswerberin in ihrem Herkunftsstaat in der Vergangenheit keine "Diskriminierung" erfahren habe. Damit hat das BVwG aber die Rechtslage verkannt. Es kommt nämlich nicht darauf an, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat einen "westlich" orientierten Lebensstil im genannten Sinn hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Fall der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste (vgl. VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018; 6.7.2011, 2008/19/0994 bis 1000; 23.1.2018, Ra 2017/18/0301 bis 0306).

15 Bei Vorliegen einer westlich orientierten Lebensweise im genannten Sinn hätte - auf der Grundlage aktueller Länderberichte -

eine Auseinandersetzung damit stattfinden müssen, ob und bejahendenfalls mit welchen staatlichen bzw. nicht-staatlichen Reaktionen die Asylwerberin aufgrund ihres gelebten selbstbestimmten westlichen Lebensstils rechnen müsste, ob diese Reaktionen nach ihrer Schwere als Verfolgung angesehen werden können und ob der Asylwerberin - im Falle von Privatverfolgung - staatlicher Schutz gewährt werden würde (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2014/18/0118 und 0119).

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Erstrevisionswerberin gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen prävalierender Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben. Dieser Umstand schlägt gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf den Zweitrevisionswerber und den Drittrevisionswerber als Familienmitglieder durch (vgl. VwGH 22.2.2018, Ra 2017/18/0357 bis 0362).

17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 28. Juni 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017190579.L00

Im RIS seit

18.07.2018

Zuletzt aktualisiert am

23.07.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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