TE OGH 2018/6/11 4Ob1/18b

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Veröffentlicht am 11.06.2018
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr.

 Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. Dr. Brenn, Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache des am ***** 2006 geborenen minderjährigen B***** W*****, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft *****, Vater: M***** P*****, vertreten durch Dr. Bernhard Fink und andere Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 31. Oktober 2017, GZ 3 R 154/17g-110, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Spittal an der Drau vom 1. September 2017, GZ 3 Pu 11/11k-105, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Der Vater war zuletzt aufgrund Einvernehmens der Eltern zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrags für den Minderjährigen in Höhe von 260 EUR verpflichtet (ON 32). Er beantragte im März 2016 eine Unterhaltsherabsetzung auf monatlich 160 EUR ab 1. 5. 2016, da er mit seinem Einkommen von 720 EUR netto den bisherigen Unterhaltsbetrag nicht leisten könne und für insgesamt zwei Kinder sorgepflichtig sei.

Der Minderjährige sprach sich gegen den Herabsetzungsantrag aus.

Das Erstgericht setzte den Unterhalt auf 210 EUR für den Zeitraum 1. 5. bis 31. 8. 2016 und auf 235 EUR ab 1. 9. 2016 herab und wies das darüber hinaus gehende Herabsetzungsbegehren (im zweiten Rechtsgang, vgl ON 72 iVm ON 105) ab. Es legte seiner Entscheidung ua folgende Feststellungen zugrunde:

Der Vater war ab dem Jahr 2002 2,5 Jahre als Installateurlehrling tätig, musste diesen Beruf aber wegen körperlicher Beschwerden aufgeben. In den folgenden Jahren absolvierte er einen Staplerkurs, Lagerhaltungskurs und Turmdrehkranführerkurs und war etwa 6,5 Jahre lang bei verschiedenen Dienstgebern als Lehrling, Küchenhilfe, Lagerarbeiter, Kommissionierer, Gebäudereiniger, Staplerfahrer, Fertigungsarbeiter und Hilfsarbeiter berufstätig. Nunmehr ist er seit längerem arbeitslos. Er leidet an chronifizierten Schmerzen der Lendenwirbelsäule samt Bandscheibenvorfall, was seine Hebebelastung auf 10 kg einschränkt, er kann allerdings acht Stunden täglich leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten. Er ist (auch durch das AMS) schwer vermittelbar, die Beschäftigungsmöglichkeiten am Wohnort sind eingeschränkt, die Mobilität ist durch Fehlen von Auto und Führerschein begrenzt. Trotzdem erschließen sich für den Vater bei Bereitschaft zum Wochen-, Monats- und Saisonpendeln reale Beschäftigungs-möglichkeiten und bei entsprechendem Engagement und Mobilität gute Chancen zur Aufnahme einer Beschäftigung innerhalb von vier Monaten im Tourismus in Kärnten, Salzburg und Tirol für rund sieben Monate jährlich.

Zuletzt hat er nach Abschluss einer vom AMS initiierten Ausbildung (bis 7. 2. 2017) im Mai 2017 die Turmdrehkranführerprüfung positiv abgeschlossen. Er lebt mit seiner (geringfügig beschäftigten) Lebensgefährtin und dem gemeinsamen (im November 2014 geborenen) Sohn, den er
– ebenso wie die väterliche Großmutter – (mit-)betreut.

Das erzielbare Netto-Jahreseinkommen unter Einbeziehung der prognostizierten Arbeitslosigkeit beträgt für sieben Monate Beschäftigung plus fünf Monate Bezug aus der Arbeitslosenversicherung 14.800 EUR, das ergibt rund 1.230 EUR monatlich.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, der Vater sei dem Anspannungsgrundsatz zu unterwerfen, sodass ein erzielbares Durchschnittseinkommen von monatlich zumindest 1.230 EUR anzusetzen sei. Als pflichtbewusster Familienvater habe er entsprechendes Engagement sowie geografische und berufliche Mobilität aufzubringen und auch Arbeiten im Tourismusbereich anzunehmen.

Das Rekursgericht änderte diesen Beschluss dahin ab, dass es dem Unterhaltsherabsetzungsantrag des Vaters auf monatlich 160 EUR ab 1. 5. 2016 Folge gab. Der Gesundheitszustand des Vaters sei schlecht, damit seien maßgebliche Einschränkungen seines Leistungskalküls verbunden, sodass er objektiv an vielen Arbeitsbeschäftigungen gesundheitlich gehindert sei. Die fehlende Lenkerberechtigung begründe kein Verschulden an der Nichterzielung eines höheren Einkommens. Wegen der Betreuung seines jüngeren Kindes sei ihm nicht vorzuwerfen, dass er sich nur im Raum seiner Heimatstadt und nicht auch in anderen Bundesländern um einen Arbeitsplatz beworben habe. Es sei daher (nur) zu prüfen, ob der Vater alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternommen habe, um in Klagenfurt eine Arbeitsstelle zu finden, oder ob ihm unter Berücksichtigung seiner Fähigkeiten ein Verschulden daran anzulasten sei, dass er dies nicht erreicht habe. Der Vater habe 2016 laufend Bewerbungen abgeschickt, sodass ihn kein Vorwurf treffe, er habe sich nicht ausreichend um eine Arbeitsstelle bemüht. Unter Berücksichtigung des Arbeitsmarktes in Klagenfurt sowie der Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen wäre es unrealistisch anzunehmen, dass weitere Bewerbungen einerseits möglich gewesen wären und andererseits auch zum Erfolg geführt hätten. Für die Zeit vom Ende des Kurses zur Erlangung der Befähigung zum Turmkranführer am 7. 2. 2017 bis zur nächsten Bewerbung am 27. 5. 2017 habe der Vater keine Bewerbungen nachgewiesen, doch sei es unter den hier gegebenen persönlichen und arbeitsmarktpolitischen Voraussetzungen schlechthin unrealistisch, dass der Vater in diesen Monaten (außerhalb der Fremdenverkehrssaison) einen Arbeitsplatz hätte erlangen können. Mangels Voraussetzungen für die Anwendung der Anspannungstheorie sei dem Vater daher kein höheres Einkommen zuzurechnen, als er tatsächlich erziele, sodass sein Herabsetzungsantrag berechtigt sei.

Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mit der Begründung zu, dass es von der restriktiven Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu Fragen der Anspannungstheorie insofern abgegangen sei, als es einen Zeitraum von etwa vier Monaten, in denen der Unterhaltspflichtige (ohne nachgewiesenen Grund) keine Bewerbung abgegeben habe, als nicht verschuldensbegründend angesehen habe.

Der Minderjährige beantragt in seinem Revisionsrekurs, den Beschluss des Erstgerichts wiederherzustellen; in eventu wird die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses beantragt.

Der Vater beantragt in seiner Revisionsrekursbeantwortung, dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.

1.1. Der Anspannungsgrundsatz dient als eine Art Missbrauchsvorbehalt, wenn schuldhaft die zumutbare Erzielung deutlich höherer Einkünfte versäumt wird (RIS-Justiz RS0047495 [T4]). Die Anspannungspflicht wird verletzt, wenn Anzeichen dafür gegeben sind, dass der Unterhaltspflichtige weniger verdient als seiner Leistungsfähigkeit entsprechen würde oder wenn er grundlos keinem Erwerb nachgeht oder sich mit einem geringeren Einkommen begnügt als ihm möglich wäre (RIS-Justiz RS0047686 [T28] = 9 Ob 29/17f).

1.2. Der Unterhaltsschuldner hat alle Kräfte anzuspannen, um seiner Verpflichtung nachkommen zu können; er muss alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines Könnens so gut wie möglich einsetzen und zumutbare Bemühungen zur Erlangung öffentlich-rechtlicher Unterstützungsleistungen (vgl RIS-Justiz RS0047385) anstellen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit bzw Antragstellung hätte erzielen können (RIS-Justiz RS0047686 [T4]; vgl auch RS0047511), sofern den Unterhaltsschuldner ein Verschulden daran trifft, dass er keine Erwerbstätigkeit ausübt (RIS-Justiz RS0047495), wobei leicht fahrlässige Herbeiführung des Einkommensmangels durch Außerachtlassung pflichtgemäßer zumutbarer Einkommensbemühungen genügt (RIS-Justiz RS0047495 [T1 = T3, T2, T18, T24]).

Beurteilungsmaßstab für die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen ist das Verhalten eines pflichtgetreuen Elternteils. Es ist zu prüfen, wie sich ein solcher in der Situation des Unterhaltspflichtigen verhalten würde (RIS-Justiz RS0047421; vgl auch RS0113751). Der Unterhaltspflichtige muss neben den Vermittlungsversuchen der für ihn zuständigen Arbeitsvermittlungsstellen auch eigene Anstrengungen zur Erzielung eines angemessenen Einkommens entfalten (RIS-Justiz RS0108616 [T1]; vgl auch RS0047575).

2.1. Nach den insoweit unstrittigen Feststellungen kann der Vater acht Stunden täglich leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten, und es erschließen sich für ihn bei Bereitschaft zum Wochen-, Monats- und Saisonpendeln reale Beschäftigungsmöglichkeiten und bei entsprechendem Engagement und Mobilität gute Chancen zur Aufnahme einer Beschäftigung innerhalb von vier Monaten im Tourismus in Kärnten, Salzburg und Tirol für rund sieben Monate jährlich. Das dabei erzielbare Netto-Jahreseinkommen unter Einbeziehung der prognostizierten Arbeitslosigkeit beträgt für sieben Monate Beschäftigung plus fünf Monate Bezug aus der Arbeitslosenversicherung 14.800 EUR, das ergibt rund 1.230 EUR monatlich.

2.2. Bei dieser Ausgangslage ist dem Erstgericht zunächst darin beizupflichten, dass eine Anspannung des Vaters in dem von ihm vorgenommenen Sinn gerechtfertigt sein könnte. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Vater über keinen Pkw und über keinen Führerschein verfügt; es stünde ihm jedoch die Möglichkeit offen, zu einer Arbeitsstelle mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu pendeln.

2.3. An die Mobilität eines Unterhaltspflichtigen werden im Sinne des Anspannungsgrundsatzes strenge Anforderungen gestellt: So wurde in der Entscheidung 4 Ob 91/10a sogar bei einem im Ausland lebenden Unterhaltspflichtigen (wenn dort eine adäquate Erwerbsmöglichkeit fehlt, in Österreich aber eine solche bestünde) eine Pflicht zur Rückkehr ins Inland, allenfalls zum Pendeln, angenommen, wenn dem keine berücksichtigungswürdigen Umstände entgegenstehen (ähnlich bereits 6 Ob 311/05m = RIS-Justiz RS0047599 [T5]).

2.4. Derart berücksichtigungswürdige Umstände könnten im vorliegenden Fall nun allerdings darin gelegen sein, dass der Vater zumindest zeitweise neben der Mutter und der väterlichen Großmutter in die Kinderbetreuung für sein jüngeres Kind eingebunden ist. Die dazu getroffenen Feststellungen reichen aber zur endgültigen Beurteilung der Zumutbarkeit einer Vollzeit-Arbeitsaufnahme durch den Vater außerhalb seines Wohnorts nicht aus.

2.5. Es entspricht zwar ständiger Judikatur, dass der geldunterhaltspflichtige Elternteil, der seine (grundsätzlich gleichrangige: vgl RIS-Justiz RS0047387; RS0047370) Unterhaltspflicht für weitere Kinder dadurch erfüllt, dass er sie im eigenen Haushalt betreut, seine Lebensverhältnisse derart zu gestalten hat, dass er sowohl seiner Geldalimentationspflicht wie auch seiner Betreuungspflicht angemessen nachkommen kann (RIS-Justiz RS0047337; RS0047370 [T2]; vgl auch 1 Ob 75/12d, wonach der Einkommensausfall während einer Bildungskarenz, die auch dazu diente, mehr Zeit für den in seinem Haushalt betreuten Sohn aufbringen zu können, zur Anspannung führt).

Doch wurde in den Entscheidungen 1 Ob 83/15k, 1 Ob 159/13h, 10 Ob 40/09v; 1 Ob 43/00f; vgl auch RIS-Justiz RS0047612 [T3] ausgesprochen, dass eine Anspannung der Mutter auf das Einkommen aus einer (Teilzeit-)Berufstätigkeit nur dann zulässig ist, wenn die Versorgung des zuletzt geborenen Kindes sichergestellt ist. Da keine („natürliche“ oder gesetzliche) Rangfolge zwischen den Eltern besteht, sind diese Grundsätze auch auf den Vater anzuwenden.

3.1. Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob dem Vater angesichts der Betreuungssituation seines jüngeren Sohnes ein Auspendeln zur Arbeit zumutbar ist. Dazu fehlen aber Feststellungen, insbesondere inwieweit eine kurzfristige (auf die Abwesenheit der geringfügig beschäftigten Mutter beschränkte) Fremdunterbringung des Minderjährigen angesichts einer weiteren Betreuungskraft innerhalb der Familie (abgesehen vom Vater) notwendig, möglich und leistbar ist, und ob eine solche Betreuungsmöglichkeit auch für „Wickelkinder“ besteht.

3.2. Dem Revisionsrekurs ist daher Folge zu geben und die Entscheidungen der Vorinstanzen sind aufzuheben; die Rechtssache ist an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen. Das Erstgericht wird im weiteren Rechtsgang Feststellungen im aufgezeigten Sinn zu treffen und danach neuerlich zu beurteilen haben, ob der Vater auf den (bereits ausgemessenen) Unterhalt anzuspannen ist.

Textnummer

E122024

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:0040OB00001.18B.0611.000

Im RIS seit

16.07.2018

Zuletzt aktualisiert am

24.01.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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