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23/01 Insolvenzordnung;Norm
ASVG §67 Abs10;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision der M D in E, vertreten durch Choc & Axmann Rechtsanwaltspartnerschaft in 8010 Graz, Kalchberggasse 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Jänner 2018, Zl. G312 2133205- 1/2E, betreffend Beitragshaftung nach § 67 Abs. 10 ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Steiermärkische Gebietskrankenkasse, vertreten durch Dr. Helmut Destaller, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Wastiangasse 7), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Die Steiermärkische Gebietskrankenkasse hat der Revisionswerberin Aufwendungen von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht ausgesprochen, dass die Revisionswerberin als Geschäftsführerin der als Primärschuldnerin fungierenden J. GmbH gemäß § 67 Abs. 10 ASVG verpflichtet sei, die bei dieser aushaftenden Sozialversicherungsbeiträge für Dezember 2011 bis Juni 2012 von EUR 75.483,78 zu bezahlen. Über das Vermögen der Primärschuldnerin sei am 20. Juli 2012 das Insolvenzverfahren eröffnet und am 4. April (richtig: Mai) 2015 mit einer Quote von 14,157 % beendet worden. Während des Verfahrens sei eine Quote bzw. eine ziffernmäßig feststellbare Uneinbringlichkeit der Beitragsforderungen nicht vorhersehbar gewesen.
2 Am 23. Oktober 2012 sei auch über das Vermögen der Revisionswerberin ein Schuldenregulierungsverfahren eröffnet worden. Die Frist zur Forderungsanmeldung habe am 4. Dezember 2012 geendet. Das Schuldenregulierungsverfahren sei am 17. Oktober 2013 mit einer Zahlungsplanquote von 10% beendet worden.
3 Am 26. Mai 2015 habe die belangte Behörde die Revisionswerberin mit Rückstandsausweis zur Zahlung von EUR 75.483,78 aufgefordert und schließlich den Haftungsbescheid vom 1. März 2016 erlassen. Dieser Ersatzanspruch sei weder Insolvenz- noch Masseforderung, weil sich der haftungsbegründende Sachverhalt (die Uneinbringlichkeit der Beitragsforderungen bei der Primärschuldnerin) erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen die Revisionswerberin ereignet habe. § 197 (und § 156 Abs. 4) IO komme nicht zur Anwendung. Die Revisionswerberin hafte für die Beiträge nicht nur in Höhe der sich aus dem Zahlungsplan ergebenden Quote, sondern zur Gänze.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten durch das Verwaltungsgericht und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch die belangte Behörde erwogen hat:
5 Die Revisionswerberin bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, die belangte Behörde habe die Haftungsforderung gegen sie trotz Kenntnis des Schuldenregulierungsverfahrens nicht angemeldet. Ein zumindest teilweiser Forderungsausfall sei evident gewesen. Die belangte Behörde hätte die Höhe der uneinbringlichen Beiträge schätzen und die Forderung vorsichtshalber zumindest bedingt anmelden müssen. Andernfalls würde § 197 IO umgangen bzw. würden jene Gläubiger benachteiligt, die ihre Forderungen angemeldet hätten. Es fehle an Rechtsprechung zur Frage, ob in einer Situation wie der vorliegenden § 197 IO anwendbar sei.
6 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
Die hier maßgeblichen Bestimmungen der Insolvenzordnung
lauten in der Fassung BGBl. I Nr. 29/2010:
"Unbestimmte und betagte Forderungen.
§ 14. (1) Forderungen, die nicht auf eine Geldleistung gerichtet sind oder deren Geldbetrag unbestimmt oder nicht in inländischer Währung festgesetzt ist, sind nach ihrem Schätzwert in inländischer Währung zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geltend zu machen.
(2) Betagte Forderungen gelten im Insolvenzverfahren als fällig.
(3) Betagte unverzinsliche Forderungen können nur in dem Betrage geltend gemacht werden, der mit Hinzurechnung der gesetzlichen Zinsen für die Zeit von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zur Fälligkeit dem vollen Betrage der Forderung gleichkommt."
"Bedingte Forderungen.
§ 16. (1) Wer eine bedingte Forderung hat, kann das Begehren auf Sicherstellung der Zahlung für den Fall des Eintrittes der aufschiebenden oder des Nichteintrittes der auflösenden Bedingung, wenn aber die Bedingung auflösend ist und wenn er für den Fall, dass die Bedingung eintritt, Sicherheit leistet, das Begehren auf Zahlung stellen."
"§ 137. (1) Die Schlußverteilung darf nicht deshalb aufgeschoben werden, weil noch nicht feststeht, ob und inwieweit Sicherstellungsbeträge zur Deckung von Forderungen an die Masse zurückfallen werden.
(2) Ist der Eintritt einer Bedingung so unwahrscheinlich, dass die bedingte Forderung gegenwärtig keinen Vermögenswert hat, so ist der auf die Forderung entfallende Betrag nicht gerichtlich zu erlegen.
(3) Gläubiger, die gemäß § 132, Absatz 4, nur mit dem Ausfalle ihrer Forderung zu befriedigen sind, werden bei der Schlußverteilung nur dann berücksichtigt, wenn die Höhe ihres Ausfalles dem Insolvenzverwalter vor Ablauf der für die Erinnerungen festgesetzten Frist nachgewiesen und vom Insolvenzgericht genehmigt worden ist."
"Rechtswirkungen des Sanierungsplans
§ 156. (1) Durch den rechtskräftig bestätigten Sanierungsplan wird der Schuldner von der Verbindlichkeit befreit, seinen Gläubigern den Ausfall, den sie erleiden, nachträglich zu ersetzen oder für die sonst gewährte Begünstigung nachträglich aufzukommen, gleichviel ob sie am Insolvenzverfahren oder an der Abstimmung über den Sanierungsplan teilgenommen oder gegen den Sanierungsplan gestimmt haben oder ob ihnen ein Stimmrecht überhaupt nicht gewährt worden ist.
(2) In gleicher Weise wird der Schuldner gegenüber den Bürgen und anderen Rückgriffsberechtigten befreit.
(3) Entgegenstehende Bestimmungen im Sanierungsplan sind nur soweit gültig, als sie den Erfordernissen des § 150 über die gleiche Behandlung der Gläubiger nicht widersprechen.
(4) Gläubiger, deren Forderungen nur aus Verschulden des Schuldners im Sanierungsplan unberücksichtigt geblieben sind, können nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens die Bezahlung ihrer Forderungen im vollen Betrag vom Schuldner verlangen.
(5) Die in § 58 Z 1 bezeichneten Forderungen können nach Abschluss des Sanierungsplans nicht mehr geltend gemacht werden. Die in § 58 Z 2 und 3 bezeichneten Forderungen werden durch den Sanierungsplan nicht berührt. (...)"
"Berücksichtigung nicht angemeldeter Forderungen
§ 197. (1) Insolvenzgläubiger, die ihre Forderungen bei Abstimmung über den Zahlungsplan nicht angemeldet haben, haben Anspruch auf die nach dem Zahlungsplan zu zahlende Quote nur insoweit, als diese der Einkommens- und Vermögenslage des Schuldners entspricht. § 156 Abs. 4 bleibt unberührt.
(2) Ob die zu zahlende Quote der nachträglich hervorgekommenen Forderung der Einkommens- und Vermögenslage des Schuldners entspricht, hat das Insolvenzgericht auf Antrag vorläufig zu entscheiden (§ 156b).
(3) Zu Gunsten eines Insolvenzgläubigers, der seine Forderung nicht angemeldet hat, kann die Exekution nur so weit stattfinden, als ein Beschluss nach Abs. 2 ergangen ist. Der Gläubiger hat dem Exekutionsantrag auch eine Ausfertigung des Beschlusses nach Abs. 2 samt Bestätigung der Vollstreckbarkeit anzuschließen oder darzulegen, dass er die Forderung angemeldet hat. Eine entgegen dem ersten Satz bewilligte Exekution ist von Amts wegen oder auf Antrag ohne Vernehmung der Parteien einzustellen."
7 Beitrags- (und Abgaben-)Forderungen, sind - wie ein Umkehrschluss aus § 46 Abs. 1 Z 2 IO ergibt - keine Masseforderungen, sondern Insolvenzforderungen iSd § 51 IO, wenn und soweit der die Beitrags- bzw. Abgabepflicht auslösende Sachverhalt vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirklicht wird.
8 Gemäß § 67 Abs. 10 ASVG haften die zur Vertretung juristischer Personen oder Personenhandelsgesellschaften (offene Gesellschaft, Kommanditgesellschaft) berufenen Personen und die gesetzlichen Vertreter natürlicher Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern für die von diesen zu entrichtenden Beiträge insoweit, als die Beiträge infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können.
9 Die Haftung des Geschäftsführers nach § 67 Abs. 10 ASVG ist ihrem Wesen nach eine dem Schadenersatzrecht nachgebildete Verschuldenshaftung, die den Geschäftsführer deshalb trifft, weil er seine gesetzliche Verpflichtung zur rechtzeitigen Entrichtung von Beiträgen schuldhaft (leichte Fahrlässigkeit genügt) verletzt hat. Eine solche Pflichtverletzung kann darin liegen, dass der Geschäftsführer die fälligen Beiträge (ohne rechtliche Grundlage) insoweit schlechter behandelt als sonstige Gesellschaftsschulden, als er diese bedient, jene aber unberichtigt lässt, bzw. - im Falle des Fehlens ausreichender Mittel - nicht für eine zumindest anteilige Befriedigung auch der Forderungen der Gebietskrankenkasse Sorge trägt. Der Geschäftsführer wäre nur dann exkulpiert, wenn er entweder nachweist, im fraglichen Zeitraum, in dem die Beiträge fällig geworden sind, insgesamt über keine Mittel verfügt und daher keine Zahlungen geleistet zu haben, oder zwar über Mittel verfügt zu haben, aber wegen der gebotenen Gleichbehandlung mit anderen Gläubigern die Beitragsschuldigkeiten - ebenso wie die Forderungen aller anderen Gläubiger - nicht oder nur zum Teil beglichen zu haben, die Beitragsschuldigkeiten also nicht in Benachteiligung der Gebietskrankenkasse in einem geringeren Ausmaß beglichen zu haben als die Forderungen anderer Gläubiger (VwGH 12.10.2017, Ra 2017/08/0070).
10 Voraussetzung für die Haftung eines Vertreters nach § 67 Abs. 10 ASVG ist die objektive, gänzliche oder zumindest teilweise Uneinbringlichkeit der betreffenden Beiträge beim Primärschuldner. Steht noch nicht einmal eine teilweise ziffernmäßig bestimmbare Uneinbringlichkeit fest, kommt eine Geltendmachung der Haftung noch nicht in Betracht (VwGH 24.1.2001, 98/08/0376).
11 Aus der Tatsache der Eröffnung des Konkurses über das Vermögen einer GmbH allein kann noch nicht zwingend auf die (gänzliche oder zumindest teilweise) Uneinbringlichkeit der gegenüber der Gesellschaft entstandenen Abgabenforderungen geschlossen werden. Andererseits bedarf es zur Beurteilung dieser Uneinbringlichkeit nicht notwendig der vollständigen Abwicklung (bis zur Aufhebung) des Konkurses; Uneinbringlichkeit ist vielmehr bereits anzunehmen, sobald im Lauf des Insolvenzverfahrens feststeht, dass die Beitragsforderung im Konkurs mangels ausreichenden Vermögens nicht oder zumindest nur zum Teil wird befriedigt werden können (vgl. in diesem Sinn VwGH 22.3.1994, 93/08/0210; 17.1.1995, 94/08/0248; 30.9.1997, 96/08/0372; 16.3.1999, 94/08/0276; 29.3.2000, 95/08/0140).
12 Jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem über das Vermögen der Primärschuldnerin das Insolvenzverfahren bereits eröffnet ist, ist bei Ersatzleistungen iSd § 67 Abs. 10 ASVG der "die Abgabepflicht auslösende Sachverhalt" (vgl. § 46 Z 2 IO) dem Grunde nach in Verbindung mit der Verletzung der in § 67 Abs. 10 ASVG genannten Pflichten verwirklicht, mag auch die ziffernmäßige Geltendmachung bzw. die bescheidmäßige Titulierung der Haftung des Vertreters wegen des noch nicht bekannten Ausmaßes der Uneinbringlichkeit der Beiträge beim Primärschuldner noch nicht möglich sein.
13 Die Verletzung der der Revisionswerberin auferlegten Pflichten iSd § 67 Abs. 10 ASVG erfolgte nach den verwaltungsgerichtlichen Feststellungen im Zeitraum vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Revisionswerberin am 23. Oktober 2012. Die (mit der Uneinbringlichkeit bei der Primärschuldnerin bedingte) Ersatzforderung ist Insolvenzforderung iSd § 51 IO (vgl. demgegenüber zu Fehlverhalten des Gemeinschuldners nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens OGH 16.2.2012, 6Ob231/11f; Derntl in Sonntag ASVG9, § 67 Rz 11b).
14 Die Ersatzforderung hätte grundsätzlich im Insolvenzverfahren als bedingte Insolvenzforderung (§ 16 IO) mit dem Schätzwert zur Zeit der Insolvenzeröffnung (§ 14 Abs. 1 IO) angemeldet werden können (vgl. zur Anmeldung bedingter Beitragsforderungen nach dem GSVG VwGH 9.9.2015, Ra 2015/08/0034; vgl. auch OGH 25.3.2009, 2 Ob 287/08g).
15 Das Verwaltungsgericht hat im Hinblick auf § 156 Abs. 4 IO nicht festgestellt, aus welchen allein von der Revisionswerberin zu vertretenden Gründen es der belangten Behörde ohne ihr Verschulden nicht möglich gewesen wäre, ihre in der angegebenen Weise bedingte Ersatzforderung in ungewisser Höhe im Zahlungsplan berücksichtigen zu lassen. Bei der Erlassung des gegenständlichen Leistungsbefehls, mit dem der Haftungsbetrag zur Zahlung vorgeschrieben wurde, hätte das Verwaltungsgericht sohin - auf der Basis seiner bisherigen Feststellungen - berücksichtigen müssen, dass der belangten Behörde gemäß § 197 IO nur die quotenmäßige Befriedigung ihrer Forderung zusteht, soweit dies der Einkommens- und Vermögenslage des Schuldners entspricht (vgl. nochmals VwGH 9.9.2015, Ra 2015/08/0034).
16 Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
17 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013. Ein Ersatz für Eingabengebühren war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit (vgl. § 110 ASVG) nicht zuzusprechen.
Wien, am 20. Juni 2018
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018080039.L00Im RIS seit
12.07.2018Zuletzt aktualisiert am
25.09.2018