TE Bvwg Erkenntnis 2018/6/27 W123 2174951-1

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Veröffentlicht am 27.06.2018
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Entscheidungsdatum

27.06.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §34 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W123 2174951-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , auch XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.09.2017, 1099774308-152031465/BMI-BFA_SBG_AST_01_KO, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2, 4 und 5 AsylG 2005 stattgegeben und XXXX der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige, stellte am 20.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 21.12.2015 erfolgten Erstbefragung brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie seit ihrem dritten Lebensjahr im Iran gelebt habe. In Afghanistan sei die Beschwerdeführerin nicht sicher, da dort die Taliban alle Schiiten ermorden würden.

3. Am 25.04.2017 fand vor der belangten Behörde eine Einvernahme statt.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 20.09.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).

5. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides wendet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Beschwerdeführerin mittlerweile die Scheidung eingereicht habe und getrennt von ihrem Ehemann lebe. Die Beschwerdeführerin sei eine Frau, die die westlichen Werte und Moralvorstellungen teile, bereits im Iran als Lehrerin selbstständig für ihren Lebensunterhalt habe sorgen können und dies künftig auch tun wolle.

6. Am 06.06.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentlich mündliche Verhandlung statt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

Die Beschwerdeführerin ist volljährig, nennt sich XXXX , ist Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Die Muttersprache der Beschwerdeführerin ist Dari. Sie wurde in Afghanistan in der Provinz Ghazni geboren und wuchs im Iran auf.

Die Beschwerdeführerin hält sich derzeit gemeinsam mit ihren Kindern in Österreich auf.

Die Beschwerdeführerin wuchs in einem traditionellen Umfeld in Afghanistan bzw. im Iran auf. In Afghanistan war es ihr verboten das Haus zu verlassen.

Die Beschwerdeführerin genoss im Iran eine universitäre Ausbildung und schloss dort das Studium der persischen Literatur ab. Sie war im Iran für mehrere Jahre als Lehrerin tätig.

Die Beschwerdeführerin ließ sich in Österreich von ihrem Ehemann scheiden und kümmert sich um ihre drei Kinder alleine. Sie ist Mitglied des österreichischen Vereins namens " XXXX ", welcher sich hauptsächlich mit allen Angelegenheiten der Frauen befasst.

Die Beschwerdeführerin kann sich in deutscher Sprache unterhalten und beabsichtigt ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen.

In Österreich ist die Beschwerdeführerin trotz der Betreuung ihrer beiden Kinder um Weiterbildung bemüht und möchte später Lehrerin werden. Sie organisiert ihren Alltag selbstständig. Die Hobbys der Beschwerdeführerin sind Musik hören, tanzen und unterrichten.

Die Beschwerdeführerin lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, neuerlich nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Sie selbst lebt in Österreich nicht nach dieser Tradition. Die Lebensweise der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder sowie die Erziehung ihrer Kinder in Österreich sind als "westlich" zu bezeichnen. Ihre Lebensumstände in Afghanistan stünden mit jenen, welche sich die Beschwerdeführerin aus freiem Willen zu gestalten wünscht, in unüberwindbarem Gegensatz.

Aufgrund ihrer "westlichen" Lebensweise und Erziehung droht der Beschwerdeführerin bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung.

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der Beschwerdeführerin vor dieser und dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes.

2.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Feststellungen zu Identität, Familienverhältnissen, Herkunft und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerin gründen sich auf ihre diesbezüglich gleichbleibenden und daher glaubhaften Angaben vor dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde, in dem Beschwerdeschriftsatz und in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin aufkommen lässt.

2.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

Einleitend ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin vorbrachte, aufgrund ihrer westlichen Orientierung in Afghanistan verfolgt zu werden (vgl. Seite 6 des Verhandlungsprotokolls).

Die Feststellungen in Bezug auf die Beschwerdeführerin als eine "westlich" orientierte Frau ergeben sich aus den glaubwürdigen Angaben der Beschwerdeführerin in der öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und dem persönlichen Eindruck, der von der Beschwerdeführerin in der Verhandlung gewonnen werden konnte. Die Beschwerdeführerin vermochte zu überzeugen, dass sie sich einer "westlichen" Wertehaltung und einem "westlichen" Frauen- und Gesellschaftsbild zuwandte und daran festzuhalten gewillt ist. Das Bundesverwaltungsgericht gewann bei der Einvernahme der Beschwerdeführerin den Eindruck, dass es sich bei dieser - auch ihrem äußeren Erscheinungsbild nach - um eine Person handelt, die das streng konservativ-afghanische Frauenbild ablehnt und ablegte und stattdessen "westliche" Werte verinnerlichte und auch danach lebt. Die Beschwerdeführerin ist nach ihrem Auftreten, ihren Anschauungen und ihrem Lebenswandel als "westlich" orientierte Frau anzusehen.

Die rasche Anpassung der Beschwerdeführerin an "westliche" Verhältnisse ist vor dem Hintergrund der glaubwürdigen Ausführungen der Beschwerdeführerin, dass die einschränkenden Regeln für Frauen und Mädchen in Afghanistan - etwa in Bezug auf Bewegungsfreiheit und den Aufenthalt an öffentlichen Orten - für diese gelten, Ausdruck des ausgeprägten Verlangens der Beschwerdeführerin nach Bildung und in weiterer Folge auch nach Berufstätigkeit sowie sich an einer "westlichen" Lebensweise zu orientieren.

Das Bundesverwaltungsgericht gelangt daher zum Ergebnis, dass davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführerin im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer allgemein als "westlich" zu bezeichnenden Lebensweise mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohen würde.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Das Verfahren der Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes) ist durch das VwGVG geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51/1991 idF BGBl. I Nr. 161/2013, mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (vgl. insbesondere § 1 BFA-VG).

§ 28 VwGVG ("Erkenntnisse") regelt die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte und lautet auszugsweise wie folgt:

"§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

[...]"

Zu Spruchpunkt A)

3.2. Gemäß § 3 Abs. 1 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg.cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Auch wenn in einem Staat allgemein schlechte Verhältnisse bzw. sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen sollten, so liegt in diesem Umstand für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK. Um asylrelevante Verfolgung erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.3. Die Beschwerdeführerin brachte als fluchtauslösendes Ereignis im Wesentlichen vor, dass sie als Frau in Afghanistan keine Rechte und Freiheiten habe (vgl. Seite 6 des Verhandlungsprotokolls).

Im konkreten Fall ist die vorgebrachte Verfolgung als eine "gegen die Frauen insgesamt oder gegen bestimmte Gruppen der weiblichen Bevölkerung" gerichtete Maßnahmen unter "dem Gesichtspunkt der drohenden Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu würdigen" (vgl. VwGH 26.02.2002, 98/20/0544; 31.01.2002, 99/20/0497).

In seinem Erkenntnis vom 23.01.2018, 2017/18/0301, sprach der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf afghanische Frauen, die "westliches" Verhalten oder "westliche" Lebensführung annahmen, ua Folgendes aus:

"[...]

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten ‚westlich' orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388, mit weiteren Nachweisen). Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 6.7.2011, 2008/19/0994-1000). [...]

Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, führt dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Aus diesem Grund ist etwa das Revisionsvorbringen, die Erstrevisionswerberin könne im Falle einer Rückkehr nach Kabul - ohne männliche Begleitung - nicht mehr den Freizeitsport Nordic Walking ausüben, für sich betrachtet jedenfalls kein Grund, ihr asylrechtlichen Schutz zu gewähren. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. idS VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388). In diesem Sinne ist auch die rechtliche Argumentation des BVwG zu verstehen, der Bruch mit den gesellschaftlichen Normen des Heimatlandes muss ‚deutlich und nachhaltig' erfolgt sein.

[...]"

3.4. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre die Beschwerdeführerin zunächst mit einer für sie prekären Sicherheitslage konfrontiert. Das bedeutet, dass für sie in fast allen Teilen Afghanistans ein erhöhtes Risiko besteht, Eingriffen in ihre physische Integrität und Sicherheit ausgesetzt zu sein. Gemäß den Länderfeststellungen ist dieses Risiko sowohl als generelle, die afghanischen Frauen betreffende Gefährdung zu sehen (Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs bzw. Verbrechens zu werden) als auch als spezifische Gefährdung, bei nonkonformem Verhalten (dh bei Verstößen gegen gesellschaftliche Normen, wie beispielsweise Bekleidungsvorschriften) einer "Bestrafung" ausgesetzt zu sein. Am Beispiel der die Frauen und Mädchen betreffenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit wird anschaulich, dass afghanische Frauen de facto einer Verletzung in grundlegenden Rechten ausgesetzt sind. Es bestehen nach wie vor gesellschaftliche Normen dahingehend, dass Frauen sich nur bei Vorliegen bestimmter Gründe alleine außerhalb ihres Wohnraumes bewegen sollen. Widrigenfalls haben Frauen mit Beschimpfungen und Bedrohungen zu rechnen bzw. sind der Gefahr willkürlicher Übergriffe ausgesetzt. Für die Beschwerdeführerin würde sich die derzeitige Situation in Afghanistan so auswirken, dass sie im Falle einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt, unmittelbaren Einschränkungen und aufgrund dieser Situation einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre.

Die Beschwerdeführerin allerdings wäre in Afghanistan zudem einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt, weil sie als Frau nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt, sondern sich eine "westliche" Lebensführung aneignete, gegensätzlich zu dem in der afghanischen Gesellschaft weiterhin vorherrschenden traditionell-konservativen Rollenbild der Frau. Der Einschätzung des UNHCR, der Indizwirkung zukommt (vgl. VwGH 16.01.2008, 2006/19/0182), zufolge sind Frauen/Mädchen besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben, beispielsweise solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind, werden nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen. Die Beschwerdeführerin würde dadurch gegenwärtig in Afghanistan als eine Frau wahrgenommen werden, die sich als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benimmt; sie ist insofern einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt (vgl. dazu EGMR, Case N. vs. Schweden, 20.07.2010, 23505/09, ebenfalls unter Hinweis auf

UNHCR).

Die der Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan drohende Situation ist daher in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität (vgl. zur Definition des Verfolgungsbegriffes und der erforderlichen Intensität Putzer, Leitfaden Asylrecht² [2011] Rz 53-57).

Es ist nach Lage des Falles zudem davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin vor dieser Bedrohung in Afghanistan nicht ausreichend geschützt werden kann. Zwar stellen diese Umstände keine Eingriffe von staatlicher Seite dar, dh sie sind von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet, jedoch ist es der Zentralregierung auch nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten der afghanischen Frauen Sorge zu tragen. Gegenwärtig besteht in Afghanistan kein funktionierender Polizei- und Justizapparat. Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden; ganz im Gegenteil liegt ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber. Für die Beschwerdeführerin ist damit nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren, dass sie angesichts des sie als Frau "westlicher" Orientierung betreffenden Risikos, Opfer von Misshandlungen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann.

Angesichts der dargestellten Umstände ist im Fall der Beschwerdeführerin daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin im Falle ihrer nunmehrigen Rückkehr nach Afghanistan als Frau dort mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer "westlichen" Lebenshaltung Eingriffe asylrelevanter Intensität mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat, sich sohin aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung iSd GFK außerhalb Afghanistans befindet und in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

3.5. Der Antrag auf internationalen Schutz ist gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offensteht. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bedarf es des asylrechtlichen Schutzes nicht, wenn dem Asylwerber die gefahrlose Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offensteht, in denen er frei von Furcht leben kann und dies ihm zumutbar ist (vgl. VwGH 25.11.1999, 98/20/0523; 08.09.1999, 98/01/0503). Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für die Beschwerdeführerin jedoch nicht, da im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan von einer Situation auszugehen ist, in der sie dem "westlich" orientierte Frauen betreffenden erhöhten Sicherheitsrisiko und den daraus resultierenden Einschränkungen ausgesetzt wäre.

Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (§ 6 AsylG 2005) oder eines Endigungsgrundes (Art. 1 Abschnitt C GFK) ist im Verfahren nicht hervorgekommen.

3.6. Der Beschwerde war daher stattzugeben und der Beschwerdeführerin gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Beschwerdeführerin damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

3.7. Die Beschwerdeführerin stellte ihren Antrag auf internationalen Schutz am 20.12.2015, wodurch insbesondere § 2 Abs. 1 Z 15 und § 3 Abs. 4 AsylG 2005 ("Asyl auf Zeit") gemäß § 75 Abs. 24 leg. cit. im konkreten Fall auf sie Anwendung findet; dementsprechend kommt der Beschwerdeführerin eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu, welche sich in eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung umändert, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.

Zu Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen (siehe dazu insbesondere die unter A) zitierte Judikatur). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Asylgewährung von Familienangehörigen, Familienverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W123.2174951.1.00

Zuletzt aktualisiert am

09.07.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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