RS Vfgh 2018/6/15 G77/2018

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Veröffentlicht am 15.06.2018
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Index

41/03 Personenstandsrecht

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 litb
PersonenstandsG §2 Abs2 Z3
EMRK Art8

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit einer Regelung des PersonenstandsG betreffend die Eintragung des Geschlechts; Recht intersexueller Personen auf individuelle Geschlechtsidentität und eine ihrer Geschlechtlichkeit entsprechende Eintragung im Personenstandsregister angesichts der Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung der in Prüfung gezogenen Bestimmung in Verbindung mit den personenstandsrechtlichen Verfahrensvorschriften gewahrt

Rechtssatz

§2 Abs2 Z3 des BG über die Regelung des Personenstandswesens, BGBl I Nr 16/2013 (in der Folge: PersonenstandsG), wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Art8 EMRK stellt die menschliche Persönlichkeit in ihrer Identität, Individualität und Integrität unter Schutz und ist dabei auch auf den Schutz der unterschiedlichen Ausdrucksformen dieser menschlichen Persönlichkeit gerichtet. In den von Art8 EMRK geschützten persönlichen Bereich fällt auch die geschlechtliche Identität und Selbstbestimmung.

Dieses von Art8 Abs1 EMRK gewährleistete Recht auf individuelle Geschlechtsidentität umfasst auch, dass Menschen - nach Maßgabe des Abs2 dieser Verfassungsbestimmung - (nur) jene Geschlechtszuschreibungen durch staatliche Regelung akzeptieren müssen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen. Art8 EMRK räumt daher Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht ein, dass auf das Geschlecht abstellende Regelungen ihre Variante der Geschlechtsentwicklung als eigenständige geschlechtliche Identität anerkennen, und schützt insbesondere Menschen mit alternativer Geschlechtsidentität vor einer fremdbestimmten Geschlechtszuweisung.

Den Gesetzgeber trifft vor diesem Hintergrund aus Art8 EMRK eine Gewährleistungspflicht, zum Schutz von Menschen mit entsprechender Geschlechtsentwicklung, insbesondere von Kindern, rechtliche Vorkehrungen dahingehend zu treffen, dass diesen Menschen eine selbstbestimmte Festlegung ihrer Geschlechtsidentität auch tatsächlich möglich ist. Das erfordert unter anderem hinreichend flexible Regelungen, die es im Zusammenhang mit der Geschlechtsangabe in öffentlichen Registern ermöglichen, geschlechtliche Zuordnungen nicht nur zu ändern, sondern eine solche Zuordnung auch solange offen zu lassen, bis Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich eine solche selbstbestimmte Zuordnung ihrer Geschlechtsidentität möglich ist.

Der Gesetzgeber ist in der Gestaltung der staatlichen Personenstandsregister zwar grundsätzlich dahingehend frei, dass keine Verfassungsbestimmung die Aufnahme eines Hinweises auf das Geschlecht gebietet. Ordnet der Gesetzgeber aber an, dass Personenstandsregister das Geschlecht ausweisen, hat er dabei die Anforderungen aus Art8 EMRK zur Wahrung der individuellen Geschlechtsidentität zu beachten und sicherzustellen.

Unbestritten darf der Gesetzgeber auf das Geschlecht grundsätzlich als für den Personenstand relevantes Datum abstellen. Er darf dies insbesondere auch dahingehend, dass die zur Geschlechtsangabe zur Verfügung stehenden Bezeichnungen und Kategorien einen realen Bezugspunkt im sozialen Leben haben müssen und nicht frei erfunden sein dürfen. §2 Abs2 Z3 PersonenstandsG dient also einem der in Art8 Abs2 EMRK genannten legitimen Ziele, insbesondere dem der öffentlichen Ordnung.

Eine Verpflichtung zu einem und eine starre Beschränkung auf einen binären Geschlechtseintrag können jedoch den Anforderungen des Art8 Abs2 EMRK an die Verhältnismäßigkeit nicht gerecht werden. Es ist kein Grund von entsprechendem Gewicht zu erkennen, der eine solche Beschränkung des durch Art8 EMRK gewährleisteten Rechts auf individuelle Geschlechtsidentität rechtfertigt. Ob im Zusammenhang mit einzelnen materienspezifischen Regelungen, die am Geschlecht im personenstandsrechtlichen Sinn anknüpfen, Einschränkungen der durch Art8 EMRK gewährleisteten Rechte im Sinn des Abs2 dieser Verfassungsbestimmung notwendig in einer demokratischen Gesellschaft sind, ist für die jeweilige gesetzliche Regelung zu beurteilen.

Der von §2 Abs2 Z3 PersonenstandsG verwendete Begriff des Geschlechts ist so allgemein, dass er sich ohne Schwierigkeiten dahingehend verstehen lässt, dass er auch alternative Geschlechtsidentitäten miteinschließt. Einer entsprechend auf die Anforderungen des Art8 EMRK Bedacht nehmenden Auslegung des §2 Abs2 Z3 PersonenstandsG steht auch nicht entgegen, dass sich dieser Bestimmung (und auch sonst dem PersonenstandsG) keine andere Geschlechtsbezeichnung als männlich oder weiblich entnehmen lässt (und auch sonst in der Rechtsordnung, soweit zu sehen, eine begriffliche Festlegung des Gesetzgebers in einschlägigem Zusammenhang nicht auszumachen ist). Die Ermittlung einer hinreichend konkreten, abgrenzungsfähigen Begrifflichkeit ist aber unter Rückgriff auf den Sprachgebrauch möglich. Dabei ist von Bedeutung, dass sich zwar (noch) keine alleinige Bezeichnung als Ausdruck einer entsprechenden Geschlechtsvariation entwickelt, sich aber eine (überschaubare) Zahl von Begrifflichkeiten herausgebildet hat, die üblicherweise zur Bezeichnung des Geschlechts bzw zum Ausdruck der Geschlechtsidentität von Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich verwendet werden. So listet die Stellungnahme der Bioethikkommission insbesondere die Bezeichnungen "divers", "inter" oder eben "offen" als derartige Bezeichnungen auf.

Angesichts dessen ist §2 Abs2 Z3 PersonenstandsG vor dem Hintergrund der dargelegten Anforderungen aus Art8 EMRK so zu verstehen, dass er erstens Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich nicht dazu zwingt, personenstandsrechtlich, insbesondere bei Eintragungen im Zentralen Personenstandsregister, zur Bezeichnung des Geschlechts die Begriffe männlich oder weiblich zu verwenden. Zweitens ist diese Bestimmung damit auch so zu verstehen, dass die Personenstandsbehörden zur Bezeichnung des Geschlechts als allgemeines Personenstandsdatum eines Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich auf Antrag dieser Person eine der genannten oder diesen vergleichbaren Bezeichnungen einzutragen haben.

Die dargelegten Vorgaben des Art8 EMRK stehen einer konkreteren Festlegung (und begrifflichen Eingrenzung) der Bezeichnung des Geschlechts als allgemeines Personenstandsdatum für Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich durch den Gesetz- oder Verordnungsgeber nicht entgegen. Auch sind die Personenstandsbehörden nicht gehindert, die Adäquanz der von einer solchen Person beantragten Bezeichnung, das Gemeinte zum Ausdruck zu bringen, zu prüfen. Denn Art8 EMRK verlangt keine beliebige Wahl der begrifflichen Bezeichnung des eigenen Geschlechts.

Das PersonenstandsG sieht überdies Verfahren dafür vor, eine Eintragung zu berichtigen oder zu ändern, und ermöglicht des Weiteren, unbeschadet der Pflicht zur Eintragung der zu erfassenden Personenstandsfälle auch, eine Eintragung erforderlichenfalls (zunächst) unvollständig vorzunehmen und eine unvollständige Eintragung (später) nach Ermittlung des vollständigen Sachverhaltes zu ergänzen. Mit diesen Eintragungs-, Änderungs-, Ergänzungs- und Berichtigungsverfahren beinhaltet es durchaus hinreichend flexible Verfahrensvorschriften, die sich verfassungskonform dahingehend interpretieren lassen, dass es Personen möglich ist, ihr Geschlecht aus legitimen Gründen nicht anzugeben. Damit gestattet das PersonenstandsG einer Person insbesondere bei mangelnder Selbstbestimmungsfähigkeit, kein Geschlecht anzugeben oder eine einmal erfolgte Geschlechtsangabe ersatzlos zu löschen.

(Anlassfall E 2918/2016, E v 27.06.2018, Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Personenstandswesen, Privat- und Familienleben, Auslegung eines Gesetzes, Auslegung verfassungskonforme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:G77.2018

Zuletzt aktualisiert am

30.07.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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