Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden und durch die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Klaus Oblasser (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch den Sachwalter C*****, dieser vertreten durch Mag. Vinzenz Fröhlich, Dr. Maria Christina Kolar-Syrmas und Dr. Armin Karisch, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Februar 2018, GZ 7 Rs 56/17k-27, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der 1989 geborene Kläger war zum Unfallszeitpunkt (1. 7. 2015) als Monteur unselbständig beschäftigt. Sein Dienstbeginn war an diesem Tag um 6:00 Uhr. Der Arbeitsweg kann von seinem Wohnort in etwa 10 Minuten mit dem PKW zurückgelegt werden. Er lebt in einem Einfamilienhaus, dessen Eingangstür über eine Steinstiege mit sechs Stufen (beidseitig begrenzt durch Hauswand und Mauer) erreichbar ist.
Am 1. 7. 2015 um 6:44 Uhr bemerkten auf der Straße vorbeifahrende Radfahrer, dass der Kläger bewusstlos am Fuß der Steinstiege lag. Er war zu diesem Zeitpunkt mit einem T-Shirt, Jeans (diese nur bis zur Hälfte des Oberschenkels angezogen) und Socken bekleidet. Die Hauseingangstür war weit geöffnet. Die Schuhe des Klägers standen im Hausinneren etwa 1,5 m von der Tür entfernt, Richtung Wohnbereich zeigend. Der Kläger hatte durch einen Sturz einen Trümmerbruch der Schädelbasis und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Er hat an das Geschehen keinerlei Erinnerung und hat nun einen Sachwalter.
Nach den (aufgrund des medizinischen Sachverständigengutachtens) zum Unfallhergang getroffenen Feststellungen hatte sich der Kläger zwischen 5:30 und 5:45 Uhr in dem Bekleidungszustand, in dem er später aufgefunden wurde, beim Hauseingang befunden. Er war vom Podest im oberen Bereich der Stufen mit dem Gesicht zur Hauseingangstür befindlich rücklings die sechsstufige Treppe hinuntergestürzt und dabei auf einer Stiegenkante aufgeprallt. Im Zuge des Rückwärtsfallens hatte er sich überschlagen, sodass er mit dem Kopf auf der untersten Stufe und den Beinen vom Haus abgewandt zu liegen kam. Es konnte nicht festgestellt werden, dass er zum Unfallszeitpunkt die Absicht gehabt hätte, sich mit seinem (in der Nähe des Hauses geparkten) PKW zur Arbeitsstätte zu begeben. Den Vorabend des Unfalls hatte der Kläger mit Freunden zuerst in einem Lokal verbracht und dann ein weiteres Lokal aufgesucht. Gegen Mitternacht war er leicht alkoholisiert nach Hause zurückgekehrt. Der Vater des Klägers befand sich bei Eintreffen des Notarzts und der Polizei nach dem Unfall im Haus und gab an, nichts bemerkt zu haben. Es gibt keine Zeugen des Geschehens.
Die Vorinstanzen verneinten das Vorliegen eines Wegunfalls. Aufgrund der nicht vollständig angezogenen Kleidung, der fehlenden Schuhe sowie der weit offenstehenden Haustür bestehe konkret die Möglichkeit, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht am Weg zur Arbeit befunden habe. Der Anscheinsbeweis dürfe nicht dazu dienen, Lücken der Beweisführung durch bloße Vermutungen auszufüllen.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision des Klägers ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.
1.1 Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung besteht unter anderem bei Fahrten von der Wohnung zur Arbeitsstätte (§ 175 Abs 2 Z 1 ASVG). Der Versicherungsschutz setzt voraus, dass das unfallbringende Verhalten dem Weg zur Arbeitsstätte sachlich zugerechnet werden kann.
1.2 Bei der Feststellung einer sachlichen Verknüpfung zwischen einem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit bzw dem unter Versicherungsschutz stehenden Weg geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Diese vom Gesetz verlangte Wertentscheidung kann – insbesondere in Grenzfällen – nicht allein nach objektiven Gesichtspunkten getroffen werden. Es ist vielmehr erforderlich, sämtliche Gesichtspunkte und Überlegungen miteinzubeziehen und diese sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit zu werten. Erst daraus folgt entweder das Vorhandensein eines versicherten Verhaltens oder das Vorliegen privatwirtschaftlicher Verrichtungen (10 ObS 16/11t, SSV-NF 26/10 = DRdA 2013/21, 237 [Müller]).
2.1 So genannte Vorbereitungshandlungen (wie etwa das Auftanken eines Fahrzeugs) stehen im Allgemeinen der Betriebstätigkeit zu fern, als dass sie schon dem persönlichen Lebensbereich entzogen und der unter Versicherungsschutz stehenden betrieblichen Sphäre zuzurechnen wären. Dies gilt auch für vorbereitende Verrichtungen, durch die das Zurücklegen eines Arbeitswegs und damit die Wahrnehmung der aus dem Beschäftigungsverhältnis folgenden Pflichten ermöglicht wird (RIS-Justiz RS0084332).
2.2 Entscheidend ist in allen solchen Fällen, ob die Gesamtumstände dafür oder dagegen sprechen, das unfallbringende Verhalten dem geschützten Bereich oder der Privatsphäre des Versicherten zuzurechnen (10 ObS 48/13a, SSV-NF 27/31 mwN).
2.3 Damit ein vom Unfallversicherungsschutz umfasster Wegunfall vorliegt, ist demnach nicht allein ausreichend, dass sich der Versicherte in geografischer Hinsicht auf dem geschützten Weg befunden hat (bei der Fahrt vom Wohnort zum Arbeitsort ist diese Voraussetzung ab Verlassen der ins Freie führenden Haustüre gegeben), sondern auch, dass der Versicherte bereits die Absicht hatte, seinen Arbeitsort aufzusuchen, um dort der versicherten Tätigkeit nachzugehen (R. Müller in SV-Komm [167. Lfg] § 175 ASVG Rz 164).
3. Aufgrund der gegebenen (besonderen) Umstände sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, es sei nicht feststellbar, dass der Kläger zum Unfallszeitpunkt (bereits) die Absicht gehabt hätte, sich auf den Weg zu seiner Arbeitsstätte zu begeben. Nach Ansicht der Vorinstanzen geschah der Unfall somit bei Tätigkeiten, die in keinem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit oder dem Weg zur Arbeitsstätte stehen, sondern noch dem privaten Bereich zuzurechnen sind.
4.1 Dagegen wendet sich der Kläger insofern, als er einen rechtlichen Feststellungsmangel geltend macht, der darin liegen soll, dass sich das Berufungsgericht nicht mit der Wahrscheinlichkeit eines anderen Geschehensablaufs auseinandergesetzt habe, obwohl die Annahme eines Sturzes auf dem Arbeitsweg lebensnaher erscheine.
4.2 Sekundäre Feststellungsmängel liegen aber nur dann vor, wenn Tatsachen fehlen, die für die rechtliche Beurteilung wesentlich sind, und dies Umstände betrifft, die nach dem Vorbringen der Parteien und den Ergebnissen des Verfahrens zu prüfen waren (RIS-Justiz RS0053317). Werden zu einem bestimmten Thema (positive oder negative) Feststellungen ohnehin getroffen, mögen diese auch von den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers abweichen, kann ein rechtlicher Feststellungsmangel nicht erfolgreich geltend gemacht werden.
5. Wenngleich im Verfahren über einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch aus Arbeitsunfällen die Regeln des Anscheinsbeweises modifiziert anzuwenden sind (RIS-Justiz RS0110571), ist der Anscheinsbeweis generell dort ausgeschlossen, wo der Kausalablauf von einem individuellen Willensentschluss eines Menschen bestimmt werden kann (RIS-Justiz RS0040288 [T1]). Dies trifft hier zu, weil es allein vom Willen des Klägers abhing, aus welchem Grund er den zum Unfall führenden Weg zurückgelegt hat, zumal nach den Feststellungen konkret auch die Möglichkeit bestand, dass er noch private Tätigkeiten verrichtete. Der bloße Verdacht eines bestimmten Ablaufs, der auch andere Verursachungsmöglichkeiten offen lässt, erlaubt die Anwendung des Anscheinsbeweises nicht (RIS-Justiz RS0040288 [T3]). Unaufgeklärt bleibende Umstände gehen dann zu Lasten des Geschädigten (RIS-Justiz RS0040288 [T5]). Einen Grundsatz, dass im Zweifel zu Gunsten des Versicherten zu entscheiden ist, gibt es nicht (RIS-Justiz RS0110571 [T4]).
6. Die Ansicht der Vorinstanzen, nach den Umständen des Einzelfalls liege kein geschützter Wegunfall vor, hält sich somit im Rahmen der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.
Die außerordentliche Revision war daher zurückzuweisen.
Textnummer
E121927European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00038.18P.0523.000Im RIS seit
09.07.2018Zuletzt aktualisiert am
22.06.2020