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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);Norm
AVG §3;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldner und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Bachler, Dr. Rigler und Dr. Pelant als Richter, im Beisein des Schriftführers DDDr. Jahn, über die Beschwerde des AS in O, vertreten durch Dr. Werner Schwarz, Rechtsanwalt in Oberpullendorf, Hauptplatz 9/7, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Oberpullendorf vom 11. Juni 1996, Zl. 19/01-883, betreffend erkennungsdienstliche Behandlung, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.770,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Spruchpunkt I. des Bescheides vom 11. Juni 1996 verpflichtete die belangte Behörde gemäß § 65 Abs. 1 und 4 in Verbindung mit § 77 Abs. 2 Sicherheitspolizeigesetz 1991 (SPG) den Beschwerdeführer, sich erkennungsdienstlich behandeln zu lassen und an den dafür erforderlichen Handlungen mitzuwirken. In Spruchpunkt II. wurde der Beschwerdeführer verpflichtet, sich zur erkennungsdienstlichen Behandlung zu einem näher angeführten Zeitpunkt beim Gendarmerieposten Oberpullendorf persönlich einzufinden, widrigenfalls seine zwangsweise Vorführung veranlasst werde. Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer stehe im Verdacht, einen gefährlichen Angriff im Sinne des § 16 Abs. 2 SPG begangen zu haben, weil er der Anzeige eines PKW-Lenkers zufolge anlässlich der Ankündigung, dieser werde ihn wegen einer seiner Ansicht nach begangenen Übertretung der Straßenverkehrsordnung 1960 anzeigen, mit der rechten Hand auf eine vom Beschwerdeführer mitgeführte Waffe gegriffen habe, wodurch sich der PKW-Lenker bedroht gefühlt habe. Auf Grund der Anzeige habe der Gendarmerieposten W. Vorerhebungen wegen des Verdachtes nach §§ 105, 107 StGB geführt, in deren Verlauf der Beschwerdeführer niederschriftlich einvernommen worden sei. Einer anlässlich dieser Einvernahme an den Beschwerdeführer gerichteten formlosen Aufforderung, sich einer erkennungsdienstlichen Behandlung zu unterziehen, habe er nicht Folge geleistet. Die Verpflichtung zur Mitwirkung an der erkennungsdienstlichen Behandlung sei daher bescheidmäßig aufzuerlegen gewesen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Der Beschwerdeführer macht im Rahmen der Verfahrensrüge geltend, die belangte Behörde sei zur Erlassung des angefochtenen Bescheides nicht zuständig gewesen. Hiezu ist zunächst festzuhalten, dass § 14 SPG - die gesonderten Zuständigkeitsbestimmungen für die erkennungsdienstliche Behandlung in § 76 leg. cit. enthalten für die amtswegige Vornahme dieser Maßnahme keine Regelung - die Ausübung der Sicherheitspolizei den Sicherheitsbehörden innerhalb ihres örtlichen Wirkungsbereiches überantwortet; die Zuordnung eines konkreten Vorfalles zu einem bestimmten Gebiet wird nicht geregelt. Daraus folgt, dass dann, wenn die Sicherheitsbehörden ein sicherheitspolizeiliches Verfahren, welches bescheidmäßig abzuschließen ist, durchführen - im Beschwerdefall handelt es sich weder um ein Verwaltungsstrafverfahren noch um ein über Auftrag eines Gerichtes oder der Staatsanwaltschaft durchgeführtes Verfahren -, für die örtliche Zuständigkeit die subsidiär heranzuziehenden Bestimmungen des § 3 AVG Platz greifen (vgl. Hauer-Keplinger, Handbuch zum Sicherheitspolizeigesetz, S 71f, Anm. 1).
Gemäß § 3 AVG in der im Beschwerdefall maßgeblichen Fassung richtet sich, soweit die in § 1 erwähnten Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nichts bestimmen, diese
1. in Sachen, die sich auf ein unbewegliches Gut beziehen:
nach der Lage des Gutes;
2. in Sachen, die sich auf den Betrieb einer Unternehmung oder sonstigen dauernden Tätigkeit beziehen: nach dem Ort, an dem das Unternehmen betrieben oder die Tätigkeit ausgeübt wird oder werden soll;
3. in sonstigen Sachen: zunächst nach dem Wohnsitz (Sitz) des Beteiligten, und zwar im Zweifelsfall des belangten oder verpflichteten Teiles, dann nach seinem Aufenthalt, schließlich nach seinem letzten Wohnsitz (Sitz) im Inland, wenn aber keiner dieser Zuständigkeitsgründe in Betracht kommen kann oder Gefahr im Verzug ist, nach dem Anlass zum Einschreiten; kann jedoch auch danach die Zuständigkeit nicht bestimmt werden, so ist die sachlich in Betracht kommende oberste Behörde zuständig.
Für den Beschwerdefall folgt daraus, dass die belangte Behörde, in deren Amtssprengel der Beschwerdeführer seinen Wohnsitz hat, unter Zugrundelegung des § 14 SPG in Verbindung mit § 3 Z 3 AVG zu Recht die Zuständigkeit zur Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung wahrgenommen hat.
Die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Vornahme einer erkennungsdienstlichen Behandlung maßgebenden Bestimmungen des Sicherheitspolizeigesetzes, BGBl. Nr. 566/1991 (SPG), haben folgenden Wortlaut:
"§ 16. ...
(2) Ein gefährlicher Angriff ist die Bedrohung eines Rechtsgutes durch die rechtswidrige Verwirklichung des Tatbestandes einer
1.
nach dem Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974, oder
2.
nach den §§ 12, 14 oder 14a des Suchtgiftgesetzes, BGBl. Nr. 234/1951, oder
3.
nach dem Verbotsgesetz, StGBl. Nr. 13/1945, strafbaren Handlung, die vorsätzlich begangen und nicht bloß auf Begehren eines Beteiligten verfolgt wird.
(3) Ein gefährlicher Angriff ist auch ein Verhalten, das darauf abzielt und geeignet ist, eine solche Bedrohung (Abs. 2) vorzubereiten, sofern dieses Verhalten in engem zeitlichen Zusammenhang mit der angestrebten Tatbestandsverwirklichung gesetzt wird.
§ 65. (1) Die Sicherheitsbehörden sind ermächtigt, Menschen, die im Verdacht stehen, einen gefährlichen Angriff begangen zu haben, erkennungsdienstlich zu behandeln. Hievon kann solange abgesehen werden, als nicht zu befürchten ist, der Betroffene werde weitere gefährliche Angriffe begehen.
(2) Die Sicherheitsbehörden sind ermächtigt, im Zusammenhang mit der Klärung der Umstände eines bestimmten gefährlichen Angriffes Menschen erkennungsdienstlich zu behandeln, wenn diese nicht im Verdacht stehen, den gefährlichen Angriff begangen zu haben, aber Gelegenheit hatten, Spuren zu hinterlassen, soweit dies zur Auswertung vorhandener Spuren notwendig ist.
(3) Die Sicherheitsbehörden sind ermächtigt, Menschen erkennungsdienstlich zu behandeln, deren Identität gemäß § 35 Abs. 1 Z. 3 festgestellt werden muss und die über ihre Identität keine ausreichenden Aussagen machen wollen oder können, sofern eine Anknüpfung an andere Umstände nicht möglich ist oder unverhältnismäßig wäre.
(4) Wer erkennungsdienstlich zu behandeln ist, hat an den dafür erforderlichen Handlungen mitzuwirken.
§ 77. (1) Die Behörde hat einen Menschen, den sie einer erkennungsdienstlichen Behandlung zu unterziehen hat, unter Bekanntgabe des maßgeblichen Grundes formlos hiezu aufzufordern.
(2) Kommt der Betroffene der Aufforderung gemäß Abs. 1 nicht nach, so ist ihm die Verpflichtung gemäß § 65 Abs. 4 bescheidmäßig aufzuerlegen; dagegen ist eine Berufung nicht zulässig. Eines Bescheides bedarf es dann nicht, wenn der Betroffene auch aus dem für die erkennungsdienstliche Behandlung maßgeblichen Grunde angehalten wird.
(3) Wurde wegen des für die erkennungsdienstliche Behandlung maßgeblichen Verdachtes eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft erstattet, so gelten die im Dienste der Strafjustiz geführten Erhebungen als Ermittlungsverfahren (§ 39 AVG) zur Erlassung des Bescheides. Dieser kann in solchen Fällen mit einer Ladung (§ 19 AVG) zur erkennungsdienstlichen Behandlung verbunden werden."
Gemäß § 3 SPG besteht die Sicherheitspolizei aus der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, ausgenommen die örtliche Sicherheitspolizei (Art. 10 Abs. 1 Z. 7 B-VG), und aus der ersten allgemeinen Hilfeleistungspflicht.
Die Aufgaben der Sicherheitspolizei wurden durch § 22 Abs. 3 SPG dahin konkretisiert, dass nach einem gefährlichen Angriff die Sicherheitsbehörden, unbeschadet ihrer Aufgaben nach der Strafprozessordnung 1975 (StPO), BGBl. Nr. 631/1975, die maßgebenden Umstände, einschließlich der Identität des dafür Verantwortlichen, zu klären haben, soweit dies zur Vorbeugung weiterer gefährlicher Angriffe erforderlich ist. Sobald ein bestimmter Mensch der strafbaren Handlung verdächtig ist, gelten ausschließlich die Bestimmungen der StPO; die §§ 57 und 58 sowie die Bestimmungen über den Erkennungsdienst bleiben jedoch unberührt.
Daraus ergibt sich die Anordnung, dass erkennungsdienstliche Maßnahmen - für diese gilt gemäß § 22 Abs. 3 letzter Satz SPG die Einschränkung auf die Vorbeugung gegen weitere gefährliche Angriffe nicht -, auch wenn sie der Ausforschung eines Täters dienen, selbst dann, wenn bereits ein Verdacht vorliegt, jedenfalls in den Fällen, die durch das SPG erfasst sind, in denen ein direkter Auftrag der Staatsanwaltschaft oder eines Gerichtes an die Organe der Sicherheitspolizei nicht vorliegt, als Maßnahme der Sicherheitspolizei anzusehen sind. Damit in Übereinstimmung steht auch die in den Erläuternden Bemerkungen zu § 65 SPG (148 Blg. NR 18. GP) dokumentierte Absicht, die erkennungsdienstliche Behandlung nur für sicherheitspolizeilich relevante Fälle vorzusehen und Fälle, in denen diese Behandlung ausschließlich zum Zweck der Strafjustiz erfolgen soll, einer strafprozessualen Regelung vorzubehalten.
Da die von der belangten Behörde bescheidmäßig verfügte erkennungsdienstliche Behandlung des Beschwerdeführers nicht von einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft angeordnet worden war und somit nicht als ausschließlich Zwecken der Strafjustiz dienend gewertet werden kann, erweist sich das Vorgehen der belangten Behörde insoweit - ausgehend vom dargelegten Verständnis - als dem Vollzugsbereich des SPG zuordenbar. Auch konnte die belangte Behörde entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers zufolge der Angaben des ihn anzeigenden Kraftfahrzeuglenkers davon ausgehen, dass hinsichtlich der Person des Beschwerdeführers der Verdacht, einen gefährlichen Angriff im Sinne des § 65 Abs. 1 erster Satz SPG begangen zu haben, vorlag.
Die Beschwerde, in der unter Hinweis auf die Bestimmungen des SPG die Unzulässigkeit der bescheidmäßigen Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung geltend gemacht wird, erweist sich im Ergebnis als berechtigt. Die Bestimmung des § 65 Abs. 1 SPG räumt der Behörde jedenfalls insoweit Ermessen ein, als sie trotz Vorliegens der Voraussetzungen hiefür von der erkennungsdienstlichen Behandlung absehen kann, wenn und solange nicht zu befürchten ist, der Betroffene werde weitere gefährliche Angriffe begehen. Der der Behörde eingeräumte Ermessensspielraum für die Anordnung oder das Absehen von erkennungsdienstlichen Maßnahmen ist dann gegeben, wenn nach den Umständen des Einzelfalles eine vergleichsweise nur geringe Gefahr der Begehung weiterer Angriffe besteht. Hiebei ist auch zu beachten, dass ein Absehen von der erkennungsdienstlichen Behandlung dann eher in Betracht kommt, wenn die Gefahr der Begehung weiterer Delikte eher hinsichtlich solcher Delikte gegeben ist, für deren Aufklärung aus erkennungsdienstlichen Daten nichts oder nur wenig gewonnen werden kann. Da § 65 Abs. 1 SPG auf den Verdacht der Begehung eines gefährlichen Angriffes abstellt, ist davon auszugehen, dass die gemäß dem zweiten Satz dieses Absatzes zu treffende Prognoseentscheidung hinsichtlich der Frage des Begehens weiterer gefährlicher Angriffe jedenfalls auch dann zu treffen ist, wenn lediglich der Verdacht der Begehung eines solchen Angriffes vorliegt. Auch in einem solchen Verdachtsfall müssen die genannten Ermessenskriterien - hiebei kommt insbesondere der Frage, ob sich aus der Art des vermutlich begangenen Deliktes eine Wiederholungsgefahr ergibt, besondere Bedeutung zu - von der Behörde geprüft werden, um entscheiden zu können, ob von der erkennungsdienstlichen Behandlung abgesehen werden kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. Februar 1999, Zl. 96/01/0276, mit weiteren Nachweisen).
Die belangte Behörde hat im angefochtenen Bescheid in keiner Weise dargetan, dass sie ein Absehen von der erkennungsdienstlichen Behandlung des Beschwerdeführers überhaupt in Erwägung gezogen hätte. Vielmehr ist der Begründung des angefochtenen Bescheides zu entnehmen, dass sie der Auffassung war, der Beschwerdeführer sei schon deshalb jedenfalls zur erkennungsdienstlichen Behandlung zu verpflichten gewesen, weil er im Verdacht stehe, einen gefährlichen Angriff begangen zu haben, und der formlosen Aufforderung zur Mitwirkung an der erkennungsdienstlichen Behandlung nicht nachgekommen sei. Damit hat die belangte Behörde die Rechtslage verkannt und ausgehend von dieser unzutreffenden Rechtsansicht die Prüfung der Frage, ob im Fall des Beschwerdeführers von der Durchführung der erkennungsdienstlichen Behandlung abgesehen werden könne, unterlassen bzw. keine Ausführungen zu den dargestellten Ermessenskriterien in die Begründung des angefochtenen Bescheides aufgenommen.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich im Rahmen des gestellten Begehrens auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am 16. Februar 2000
Schlagworte
ErmessenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2000:1996010595.X00Im RIS seit
05.04.2001Zuletzt aktualisiert am
17.09.2013