TE Vwgh Erkenntnis 2018/4/11 Ra 2017/08/0141

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.04.2018
beobachten
merken

Index

19/05 Menschenrechte;
40/01 Verwaltungsverfahren;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

ASVG §44 ;
MRK Art6;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2017/08/0142 Ra 2017/08/0143 Serie (erledigt im gleichen Sinn):Ra 2018/08/0043 E 8. August 2018

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revisionen der PGmbH in G, vertreten durch Mag. Doris Braun, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Joanneumring 6, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom 3. November 2017, 1) Zl. G302 2014738-1/7E, 2) Zl. G302 2014737- 1/7E und 3) Zl. G302 2004441-1/9E, betreffend Beitragsnachverrechnung nach dem ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Steiermärkische Gebietskrankenkasse in 8010 Graz, Josef-Pongratz-Platz 1), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Steiermärkische Gebietskrankenkasse hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 3.319,20 binnen zwei Wochen zu ersetzen.

Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Mit den in Revision gezogenen Erkenntnissen wurde die revisionswerbende Partei gemäß § 44 Abs. 1, § 49 Abs. 1 und 2 und § 54 Abs. 1 ASVG verpflichtet, für den Prüfzeitraum ab 1. Jänner 2006 bzw. vom 1. Jänner 2010 bis 31. Dezember 2012 allgemeine Beiträge, Nebenumlagen, Sonderbeiträge und Zuschläge sowie Verzugszinsen in einzeln genannter Höhe zu entrichten.

2 Die revisionswerbende Partei betreibe ein Pflegeheim "Haus M." Es handle sich um eine Pflegeeinrichtung für Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer psychischen Behinderung einer umfassenden Pflege bedürften. In dem Pflegeheim würden Personen versorgt, die ständiger Pflege, jedoch bloß fallweiser ärztlicher Betreuung bedürften. Der Tätigkeitsschwerpunkt liege im Bereich der Erbringung von Pflege- und Betreuungsleistungen für psychisch Erkrankte.

3 Der "Kollektivvertrag für die DienstnehmerInnen der Privatkrankenanstalten Österreichs" (im Folgenden: PKA-KV), dessen Anwendbarkeit eine solche des (gesatzten) "Kollektivvertrags für ArbeitnehmerInnen, die bei Mitgliedern der Berufsvereinigung von Arbeitgebern für Gesundheits- und Sozialberufe" (in der Folge: BAGS-KV) beschäftigt seien, ausschließen würde, finde lediglich auf Dienstnehmer Anwendung, die bei Mitgliedern des Verbands der Privatkrankenanstalten Österreichs beschäftigt seien, welche Einrichtungen betreiben würden, in denen besondere Pflegeleistungen erbracht würden und bei denen der Tätigkeitsschwerpunkt der Leistungen auf der ärztlichen Betreuung liege. Diese Voraussetzungen seien beim gegenständlichen Pflegeheim nicht erfüllt. Es handle sich nicht um eine Krankenanstalt.

4 Mangels Mitgliedschaft der revisionswerbenden Partei bei der Berufsvereinigung von Arbeitgebern für Gesundheits- und Sozialberufe (BAGS) sei der BAGS-KV nicht unmittelbar anwendbar. Der BAGS-KV vom 17. Dezember 2003, Stand 1. Jänner 2006, sei mit Verordnung des Bundeseinigungsamts beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit vom 24. April 2006 (bzw. entsprechenden Nachfolgeverordnungen) zur Satzung erklärt worden. Jeder Dienstnehmer habe einmalig das Recht, sich innerhalb von sechs Monaten nach In-Kraft-Treten der Satzung zu entscheiden, ob er in die Bestimmungen des BAGS-KV optiere oder in seinen bisherigen Entgeltbestimmungen verbleibe (§ 41 Z 2/B BAGS-KV in der durch die Satzungserklärung modifizierten Form). Gebe der Dienstnehmer keine Optierungserklärung ab, so verbleibe er in seinen bisherigen Entgeltbestimmungen. Als Grundlage für die Optierungsentscheidung seien alle Dienstnehmer fiktiv in die Verwendungsgruppen und Gehaltsstufen nach den Bestimmungen des BAGS-KV einzustufen. Der Arbeitgeber sei verpflichtet, die Dienstnehmer binnen vier Monaten nach In-Kraft-Treten der Satzung schriftlich über die fiktive Einstufung, die Ist-Vergleichssumme und die Vergleichssumme nach den BAGS-KV zu informieren. Die revisionswerbende Partei habe ihren Dienstnehmern keine entsprechende Information ausgehändigt. Die Dienstnehmer hätten keine Optierungserklärung abgegeben.

5 Die revisionswerbende Partei habe ihre in § 41 des gesatzten BAGS-KV konkretisierte Informationspflicht verletzt und sei dafür nach allgemeinen schadenersatzrechtlichen Grundsätzen haftbar. Dass die revisionswerbende Partei "darüber nicht Bescheid wusste", sei weder behauptet worden noch durch etwaige Anhaltspunkte indiziert gewesen. Es wäre nach § 1298 ABGB Sache der revisionswerbenden Partei gewesen, ihr mangelndes Verschulden an der Verletzung der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht darzutun. Der erlittene Schaden sei mit jenen Entgeltdifferenzen gleichzusetzen, die den Dienstnehmern infolge der unterbliebenen Optierungserklärungen entgangen seien. Die revisionswerbende Partei habe nicht behauptet, es lägen besondere Umstände vor, die einzelne Dienstnehmer aus nachvollziehbaren Gründen veranlasst haben würden, trotz der entgeltmäßigen Besserstellung von einer Optierung Abstand zu nehmen. Die der Höhe nach nicht bestrittenen Entgeltdifferenzen seien der Berechnung der Beitragshöhe zu Grunde zu legen.

6 Gegen diese Erkenntnisse richten sich die Revisionen. Die belangte Behörde hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie die Abweisung der Revisionen beantragt.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die revisionswerbende Partei macht als Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG insbesondere geltend, dass das Verwaltungsgericht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen habe, obwohl die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 und 4 VwGVG nicht gegeben gewesen seien. Die Vertreter der revisionswerbenden Partei seien kein einziges Mal einvernommen worden. Den Dienstgeber treffe - trotz letztendlich anderer rechtlicher Beurteilung betreffend Zugehörigkeit zu einer Berufsvereinbarung und der Geltung dessen Kollektivvertrags - kein Verschulden, wenn aus begründeter ex ante Sicht eine andere rechtliche Beurteilung auf Grund damals herrschender Lehr- und Judikaturmeinung vertretbar gewesen sei.

9 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

10 Im vorliegenden Fall war die Frage des Verschuldens der Revisionswerberin bzw. ihrer Vertreter am Unterbleiben der Information ihrer Dienstnehmer (im Rahmen der Fürsorgepflicht als Dienstgeberin) bzw. in weiterer Folge am Unterbleiben der Optierungserklärung der Dienstnehmer strittig. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Revisionswerberin die in § 41 des gesatzten BAGS-KV konkretisierte Informationspflicht schuldhaft verletzt habe bzw. dass sie den Beweis ihres mangelnden Verschuldens iSd § 1298 ABGB nicht habe erbringen können.

11 Es gehört gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. etwa VwGH 12.1.2018, Ra 2017/08/0109, mwN).

12 Bei Beitragsleistungen nach dem ASVG handelt es sich um "civil rights" im Sinn des Art. 6 EMRK. Die Relevanz des Verfahrensmangels der Unterlassung der Durchführung einer Verhandlung war daher nicht zu prüfen (vgl. etwa VwGH 7.8.2017, Ra 2016/08/0171, mwN).

13 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

14 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am 11. April 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017080141.L00

Im RIS seit

03.07.2018

Zuletzt aktualisiert am

31.10.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten