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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Feststellung der Zuständigkeit Bulgariens sowie Anordnung der Außerlandesbringung infolge Unterlassens eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens zur Versorgungslage von Asylwerbern in Bulgarien; mangelnde Berücksichtigung der Berichte zum bulgarischen Asylsystem an sich und in Bezug auf vulnerable PersonenSpruch
I. Die Beschwerdeführerinnen sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführerinnen zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.877,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerinnen sind Staatsangehörige von Afghanistan. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin. Am 6. September 2016 stellte die Erstbeschwerdeführerin in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Ausweislich einer EURODAC-Registerauskunft war die Erstbeschwerdeführerin zuvor in Bulgarien und in Ungarn erkennungsdienstlich behandelt worden und hatte dort am 1. Juli 2016 und am 30. August 2016 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Am 15. September 2016 richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein auf Art18 Abs1 litb der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) gestütztes Ersuchen auf Wiederaufnahme der Erstbeschwerdeführerin an Bulgarien. Mit Schreiben vom 21. September 2016 erklärten sich die bulgarischen Behörden zur Wiederaufnahme bereit.
2. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde am 19. März 2017 in Österreich geboren und stellte am 28. März 2017 durch die Erstbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz.
3. Mit Bescheid vom 18. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz als unzulässig zurück und sprach aus, dass gemäß Art18 Abs1 litb Dublin III-VO Bulgarien zur Prüfung des Antrages zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung der Erstbeschwerdeführerin angeordnet und festgestellt, dass die Abschiebung nach Bulgarien zulässig sei. Mit Bescheid vom 31. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auch den Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz als unzulässig zurück und sprach aus, dass Bulgarien gemäß Art20 Abs3 Dublin III-VO zur Prüfung des Antrages zuständig sei. Auch hier wurde die Außerlandesbringung der Zweitbeschwerdeführerin angeordnet und festgestellt, dass die Abschiebung nach Bulgarien zulässig sei.
4. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden der Erst- und Zweitbeschwerdeführerin wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 20. Juni 2017 ab. Aus den – bereits in den Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl enthaltenen und auch im Erkenntnis abgedruckten – Feststellungen zur Lage in Bulgarien geht hinsichtlich der Unterbringung von Asylwerbern u.a. Folgendes hervor:
"Das bulgarische Asylgesetz definiert als vulnerable Gruppen: Kinder, Schwangere, Alte, alleinstehende Elternteile mit ihren Kindern, Behinderte und Opfer schwerer Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt (AIDA 10.2015).
Die Gesetze sehen keine spezifischen Identifikationsmechanismen für Vulnerable vor, weswegen sich NGOs besorgt über den Mangel an Verfahrensgarantien für Vulnerable zeigen. Medizinische Untersuchungen sind nur vorgeschrieben, wenn der Verdacht besteht, der Antragsteller sei psychisch krank. Gegebenenfalls wird ein Vormund bestellt (AIDA 10.2015).
[…]
Es gibt nur einen Bereich, in dem die Berücksichtigung der Vulnerabilität gesetzlich ausdrücklich vorgeschrieben ist: bei der Unterbringung. In der Praxis soll die Berücksichtigung ihrer speziellen Bedürfnisse aufgrund mangelnder Kapazitäten und Unterbringungsbedingungen jedoch kaum umgesetzt werden. Eigene Unterbringungszentren für Vulnerable/UMA existieren nicht. Familien werden nach Möglichkeit gemeinsam und in eigenen Räumen untergebracht. Sozialmediatoren des Roten Kreuzes unterstützen SAR dabei, dass Asylwerber mit speziellen Bedürfnissen entsprechend betreut werden. Spezifische Maßnahmen für Vulnerable umfassen Arrangements betreffend Medikation und Ernährung bei Vorliegen einiger chronischer Krankheiten (z. B. Diabetes, Epilepsie, usw.) (AIDA 10.2015; vgl. ECRE/ELENA 2.2016).
[…]
Die Unterbringungsbedingungen sind Berichten zufolge nicht zufriedenstellend, da sie sich nach Verbesserungen 2014 im Laufe des Jahres 2015 wieder verschlechtert haben. Es gibt in den Zentren zwei Mahlzeiten am Tag, außer für Kinder unter 18 Jahren, welche drei Mahlzeiten erhalten. Es gibt aber Kritik bezüglich Regelmäßigkeit und Qualität der Verpflegung (AIDA 10.2015; vgl. ECRE/ELENA 2.2016)."
Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Abweisung der Beschwerden insbesondere damit, dass nicht erkannt werden könne, dass auf Grund der bulgarischen Rechtslage und Vollziehungspraxis systematische Verletzungen von Rechten gemäß der EMRK erfolgen würden. Betreffend die Versorgungslage und die Vulnerabilität der beschwerdeführenden Parteien führt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes aus:
"Wie im angefochtenen Bescheid ausführlich und unter Heranziehung zahlreicher aktueller Berichte dargelegt wurde, ist in Bulgarien insbesondere auch die Versorgung der Asylwerber grundsätzlich gewährleistet. Nach den Länderberichten zu Bulgarien kann letztlich nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass ein Asylwerber im Fall einer Überstellung nach Bulgarien konkret Gefahr liefe, dort einer gegen das Folterverbot des Art3 EMRK verstoßenden Behandlung unterworfen zu werden. Insgesamt gesehen herrschen somit im Mitgliedstaat Bulgarien nach dem gegenwärtigen Informationsstand keineswegs derartige systemische Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen, die mit der Situation in Griechenland vergleichbar wären.
Es liegen insbesondere auch keine Verurteilungen Bulgariens durch den EGMR oder EuGH vor, die eine Praxis systemischer Mängel des bulgarischen Asylwesens, insbesondere im Fall von Dublin-Rücküberstellten aus anderen EU-Staaten, erkennen ließen. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich außerdem, dass die Verletzung einzelner Bestimmungen von Richtlinien nicht schon per se mit einem systemischen Mangel gleichzusetzen ist (EuGH 21.12.2011, C-411/10 und C-493/10, N.S./Vereinigtes Königreich, Rn. 82 bis 85).
Im gegenständlichen Fall führte eine individuelle Prüfung der Situation der Beschwerdeführerinnen zu dem Ergebnis, dass diese keiner besonders schutzbedürftigen Personengruppe angehören. Die medizinische Versorgung einschließlich der psychologischen Unterstützung von Asylwerbern ist nach den aktuellen Länderberichten in Bulgarien jedenfalls unter den für bulgarische Staatsbürger geltenden Bedingungen gewährleistet. Die von den Beschwerdeführerinnen vorgebrachten Befürchtungen hinsichtlich eventueller Mängel bei der zukünftigen Versorgung in Bulgarien stellen sich letztlich in hohem Maße als spekulativ dar (vgl. zur Lage von Asylwerbern in Bulgarien VwGH 25.05.2016, Ra 2016/19/0069; 03.05.2016, Ra 2016/18/0053; 19.04.2016, Ra 2015/01/0205).
Auch sonst konnten die Beschwerdeführerinnen keine auf sich selbst bezogenen besonderen Gründe, die für eine reale Gefahr einer Verletzung des Art3 EMRK sprächen, glaubhaftmachen, weshalb die Rechtsvermutung des §5 Abs3 AsylG 2005 zur Anwendung kommt, wonach ein Asylwerber im zuständigen Mitgliedstaat Schutz vor Verfolgung findet."
5. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, gemäß Art144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Begründend führen die Beschwerdeführerinnen im Wesentlichen aus, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht auf ihre Vulnerabilität und das zur Beurteilung der Situation von Asylwerbern in Bulgarien herangezogene Berichtsmaterial eingegangen sei.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen und auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Die Entscheidung, einen Fremden auszuweisen oder in anderer Form außer Landes zu schaffen, kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK bzw. der GRC begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl. VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).
Dies gilt auch dann, wenn ein Antrag auf internationalen Schutz gemäß Dublin III-VO wegen Unzuständigkeit als unzulässig zurückgewiesen und die Außerlandesbringung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union für zulässig erklärt wurde. In einem solchen Fall muss geprüft werden, ob es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen. Zur Situation von vulnerablen Personen hat der Verfassungsgerichtshof bereits mehrfach die Bedeutung der zur Versorgungslage besonders schutzwürdiger Personen getroffenen Länderfeststellungen hervorgehoben (vgl. VfGH 10.12.2015, E709/2015 ua. und E1622/2015 ua. mwN).
3.2. Vor diesem Hintergrund hat es das Bundesverwaltungsgericht in entscheidungswesentlichen Punkten unterlassen, nähere Ermittlungen anzustellen und sich mit der aktuellen Versorgungslage von Asylwerbern in Bulgarien auseinanderzusetzen:
Das Bundesverwaltungsgericht führt in seiner Entscheidung aus, dass eine individuelle Prüfung der Situation der Beschwerdeführerinnen zum Ergebnis führe, dass "diese keiner besonders schutzbedürftigen Personengruppe angehören" würden.
Diese Annahme widerspricht dem Akteninhalt und der bestehenden Rechtslage. Die Erstbeschwerdeführerin wäre im Falle einer Außerlandesbringung alleinerziehende Mutter eines minderjährigen Kindes, nämlich der Zweitbeschwerdeführerin. Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern und Minderjährige werden etwa von Art21 der Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Bestimmungen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (EU-Aufnahmerichtlinie) als schutzbedürftige Personen angesehen.
4. Da es das Bundesverwaltungsgericht – vor dem Hintergrund, dass es sich bei den Beschwerdeführerinnen um eine alleinerziehende Mutter und ein minderjähriges Kind handelt – unterlassen hat, das zum Entscheidungszeitpunkt vorgelegene und entscheidungsrelevante Berichtsmaterial zum bulgarischen Asylsystem – auch in Bezug auf vulnerable Personen – in der rechtlichen Beurteilung der Entscheidung zu berücksichtigen, ist das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl. VfSlg 19.878/2014, 20.021/2015). Im fortgesetzten Verfahren wird das Bundesverwaltungsgericht außerdem zu prüfen haben, ob die Zuständigkeit Österreichs im vorliegenden Verfahren gemäß Art9 Dublin III-VO vorliegt.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerinnen sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Da die Beschwerdeführerinnen gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, war der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen Streitgenossenzuschlag von 10 vH des Pauschalsatzes, zuzusprechen (s. VfGH 26.6.1998, B259/96 ua.; ferner VfSlg 18.836/2009; VfGH 19.6.2013, B125/2011; 22.9.2014, B1244/2013; 3.12.2014, B1503/2013; 24.11.2016, E1085/2016 ua.). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 479,60 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführerinnen Verfahrenshilfe im vollen Umfang genießen.
Schlagworte
Asylrecht, Fremdenpolizei, Außerlandesbringung, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, EU-RechtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2018:E2418.2017Zuletzt aktualisiert am
02.07.2018