Entscheidungsdatum
13.06.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W103 1301758-2/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gesetzlich vertreten durch XXXX , diese vertreten durch die XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.04.2018, Zl. 13-741658404-171356188, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 8 Abs. 4, 9 Abs. 2 Z 2 und Abs. 4, 57, 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, §§ 52 Abs. 2 Z 4 und Abs. 9, 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1, 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein minderjähriger Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste gemeinsam mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern illegal in das Bundesgebiet ein und beantragte durch seine gesetzliche Vertreterin am 17.08.2004 die Gewährung internationalen Schutzes. Im damaligen Verfahren wurden in Bezug auf die Person des minderjährigen Beschwerdeführers keine individuellen Fluchtgründe geltend gemacht.
2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.05.2006, Zl. 04 16.584 BAI, wurde der Asylantrag gemäß § 7 AsylG 1997 idF BGBL. I Nr. 101/2003 abgewiesen und unter einem festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des minderjährigen Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 zulässig sei. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997 wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
3. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 30.05.2008, Zl. 301.758-C1/3E-V/13/06, wurde die gegen den genannten Bescheid eingebrachte Berufung gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 iVm § 50 FPG wurde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation nicht zulässig ist und diesem gemäß §§ 8 Abs. 3 iVm 15 Abs. 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, welche in den Folgejahren regelmäßig verlängert wurde (zuletzt bis 08.04.2018).
Im Rahmen der Entscheidungsbegründung wurde insbesondere festgehalten, dass nicht festgestellt werden habe können, dass die Familie des Beschwerdeführers vor ihrer illegalen Ausreise aus welchen Gründen auch immer in das Blickfeld von Behörden oder Sicherheitskräften geraten wäre und die Eltern des Beschwerdeführers nicht politisch aktiv gewesen wären. Es habe weiters nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat verfolgt würde oder einer konkreten Gefährdung unterläge. Das Fluchtvorbringen der Eltern des Beschwerdeführers habe sich aufgrund einander auffallend widersprechender Ausführungen als unglaubhaft erwiesen, für den minderjährigen Beschwerdeführer seien seitens seiner gesetzlichen Vertreterin darüber hinaus keine eigenen Gründe geltend gemacht worden. Aus den Feststellungen zur allgemeinen Situation in der Russischen Föderation ergebe sich jedoch, dass der Beschwerdeführer keine hinreichende Basis einer ausreichenden Versorgungs- und Sicherheitslage innerhalb der tschetschenischen Republik erwarte, wodurch die Wahrung seiner vitalen Interessen gefährdet erscheine.
4. Die Behandlung einer gegen diese Entscheidung eingebrachten Beschwerde wurde durch den Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 28.05.2009, Zl. 2008/19/1213 bis 1218-9, abgelehnt.
5. Der minderjährige Beschwerdeführer wurde während seines Aufenthalts wiederholt straffällig (im Detail vgl. unten Punkt II.1.2.).
Mit Schreiben vom 08.02.2018 informierte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den minderjährigen Beschwerdeführer (im Wege seiner gesetzlichen Vertreterin) über das gegen seine Person gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 und 3 AsylG 2005 eingeleitete Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, unter einem wurde er im Rahmen des Parteiengehörs aufgefordert, seine private und familiäre Situation in Österreich darzulegen und allenfalls eine Stellungnahme zu dem ihm anbei übermittelten Länderinformationsmaterial zur aktuellen Lage in seinem Herkunftsstaat abzugeben.
Im Rahmen einer schriftlichen Eingabe vom 22.02.2018 führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, gemeinsam mit seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern in einer Wohnung zu leben und von seinen Eltern finanziell abhängig zu sein. Der Beschwerdeführer sei im Alter von zwei Jahren nach Österreich gelangt, habe hier Kindergarten, Volksschule, Neue Mittelschule und drei Monate lang ein Polytechnikum besucht. Aufgrund seiner im Jänner erfolgten strafgerichtlichen Verurteilung sei der Beschwerdeführer jedoch vom Polytechnikum verwiesen worden. Seine Alltagssprache sei Deutsch. Derzeit sei der Beschwerdeführer ohne Beschäftigung, stehe jedoch regelmäßig mit dem AMS in Kontakt und würde gerne eine Lehre als Einzelhandelskaufmann machen. Der Beschwerdeführer habe beinahe sein gesamtes Leben in Österreich verbracht, verfüge hier über einen Freundeskreis und sei in Sportvereinen aktiv gewesen. Entgegen der Argumentation des BFA stelle der Beschwerdeführer trotz seiner Verurteilungen keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Österreich dar. Alle seine Strafen seien bedingt nachgesehen worden und der Beschwerdeführer sei noch nie in Untersuchungshaft genommen worden. Bei allen Straftaten hätte es sich um Jugendstraftaten gehandelt. Der Beschwerdeführer wolle sein Handeln nicht rechtfertigen und bereue die von ihm gesetzten Delikte, wolle aber festhalten, dass er kein Sicherheitsrisiko für Österreich darstelle. Die gesamte Familie des Beschwerdeführers befinde sich in Österreich, wohingegen er zu seinem Heimatstaat keine Bindungen aufweisen würde, auch wenn er die Sprache beherrsche. Der Beschwerdeführer sei bei der Tatbegehung gerade 15 Jahre alt gewesen und ihm sei nicht bewusst gewesen, dass er dadurch seinen Aufenthalt in Österreich gefährden könnte bzw. dass die fremdenrechtlichen Konsequenzen so schwerwiegend sein könnten. Der Beschwerdeführer habe nun eingesehen, dass er seinen Weg ändern müsse und sei bereit, die ihm angebotene Unterstützung durch den XXXX und die Jugendwohlfahrt anzunehmen.
6. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.04.2018 wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 30.05.2008, Zl. 301.758-C1/3E-V/13/06, zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm die mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 30.05.2008, Zl. 301.758-C1/3E-V/13/06, erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Zugleich wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 5 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 4 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation gemäß § 9 Absatz 2 AsylG iVm § 52 Absatz 9 FPG unzulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.). Dessen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 09.03.2018 wurde gemäß § 8 Abs. 4 AsylG abgewiesen.
Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das BFA im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die Allgemeinheit und für die Sicherheit der Republik Österreich darstelle und mehrmals von einem inländischen Gericht rechtskräftig verurteilt worden wäre. Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände habe nicht festgestellt werden können, dass bei einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation für diesen die reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bestehen würde. Das Bundesamt habe aufgrund der Aberkennung nach § 9 Abs. 2 AsylG die Feststellung zu treffen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation unzulässig sei. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich über Familienbezug, sei mittellos und von Unterstützung abhängig. Dieser beherrsche die deutsche Sprache und habe die Hauptschule absolviert. Der Beschwerdeführer sei seit seiner Einreise ständig durch die Begehung von Straftaten in Erscheinung getreten. Zuletzt sei er durch ein Landesgericht mit Urteil vom XXXX wegen des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 und 2 StGB und des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu neun Monaten Haft verurteilt worden. Im Rahmen dieser Verurteilung seien das Zusammentreffen von zwei Verbrechen mit drei Vergehen, die mehrfachen einschlägigen Vorstrafen, der rasche Rückfall, die Tatbegehung mit einem Komplizen sowie die Tatbegehung während eines anhängigen Verfahrens als erschwerend gewertet worden. Aufgrund der Chronologie seiner Straftaten stelle der Beschwerdeführer eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit und die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Der Beschwerdeführer sei im Alter von 14 Jahren erstmals straffällig geworden und seien gegen diesen mittlerweile neunzehn Anzeigen erstattetet worden, welche immer wieder in Verurteilungen gemündet hätten. Die letzte Eintragung im kriminalpolizeilichen Aktenindex sei am 03.04.2018 erfolgt, demzufolge sei der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der geschlechtlichen Nötigung durch Gewaltanwendung aufgefallen. Der Beschwerdeführer befinde sich wegen des Verdachts des Verbrechens des Raubes sowie des schweren Raubes mit schwerer Körperverletzung im Rahmen einer kriminellen Vereinigung sowie unter Anwendung von Waffengewalt aktuell in Untersuchungshaft in einer Justizanstalt. Auffallend sei, dass sich die Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten im Laufe seines Aufenthalts in Österreich massiv gesteigert hätte und lasse die Häufigkeit und die Schwere seines Fehlverhaltens deutlich erkennen, dass dieser nicht gewillt wäre, die Rechtsvorschriften in erforderlicher Weise zu beachten und sich an die Gesetze Österreichs anzupassen. Eine positive Zukunftsprognose könne daher nicht gestellt werden. Aufgrund von Zeitraum, Motiv und Anzahl der Straftaten zeichne sich keinerlei Tendenz ab, dass die notorische kriminelle Neigung des Beschwerdeführers ein Ende fände und sei dieser aufgrund der mehrmaligen und einschlägigen Straffälligkeit als gemeingefährlicher Täter anzusehen. Der Beschwerdeführer sei gesund, könne am Erwerbsleben teilnehmen, beherrsche die tschetschenische Sprache und wäre diesem auch im Falle einer Rückkehr eine weitere Inanspruchnahme von finanzieller Unterstützung durch seine Eltern möglich. Der Beschwerdeführer sei in der Russischen Föderation keiner Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt gewesen und habe den Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen des Familienverfahrens zuerkannt bekommen. Dem Beschwerdeführer sei es zumutbar, im Falle einer Rückkehr selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufzukommen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass dieser seit seiner Einreise nach Österreich eine schützenswerte wirtschaftliche und soziale Existenz aufgebaut hätte. Im Rahmen einer Interessensabwägung seien die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung höher zu bewerten gewesen als die Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet. Das Bundesamt legte seiner Entscheidung einen Länderbericht zur Lage in der Russischen Föderation zugrunde. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet sei gemäß § 46a Abs. 1 Z 2 FPG geduldet. Dessen Ausreiseverpflichtung bleibe unberührt. Im Falle des Beschwerdeführers sei der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG als erfüllt anzusehen, wodurch das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit indiziert wäre. Beim Verbrechen des Raubes handle es sich um eine schwere und besonders verwerfliche strafbare Handlung gegen die körperliche Integrität einer anderen Person. Die kontinuierliche Straffälligkeit des Beschwerdeführers lasse auf eine entsprechende kriminelle Energie rückschließen und indiziere, dass dieser nicht gewillt wäre, sich an die in Österreich geltenden Gesetze zu halten.
7. Gegen den Bescheid der belangten Behörde erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 09.05.2018 unter gleichzeitiger Bekanntgabe des im Spruch bezeichneten gewillkürten Vollmachtsverhältnisses fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde im vollen Umfang. Begründend wurde im Wesentlichen vorgebracht, der Beschwerdeführer verfüge in seinem Herkunftsstaat, welchen er im Alter von zwei Jahren verlassen hätte, über keinerlei soziales Netzwerk. Der Beschwerdeführer beherrsche die russische Sprache nicht, hingegen spreche er fließend Deutsch, sei in Österreich stark integriert und derzeit auf Arbeitssuche. Die gesamte Familie des minderjährigen Beschwerdeführers sei legal in Österreich aufhältig. Normalerweise lebe er auch bei dieser, aktuell befände er sich in Untersuchungshaft. Die Feststellung im angefochtenen Bescheid, wonach der Integrationsstatus des Beschwerdeführers als gering einzustufen wäre, basiere auf einer mangelhaften Sachverhaltsermittlung und unschlüssigen Beweiswürdigung. Der Beschwerdeführer sei die letzten dreizehneinhalb Jahre voll in Österreich integriert gewesen, habe sein Heimatland seit seiner Flucht im Jahr 2004 nie wieder besucht und weise keine Kontakte zu Personen in der Russischen Föderation auf. Zwar sei der Beschwerdeführer zuletzt mit Urteil vom XXXX wegen der Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs. 1 und 2 StGB und nach §§ 12 2. Fall, 142 Abs. 1 und 2 StGB sowie des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Zusatzstrafe von neun Monaten verurteilt worden, doch sei zu beachten, dass diese bedingt ausgesprochen worden wäre und dass JGG zur Anwendung gelangt sei. Der Beschwerdeführer zeige sich überaus reuig und schuldeinsichtig. Insbesondere durch die derzeitige Untersuchungshaft sei ihm klar geworden, dass sein Handeln weitreichende Konsequenzen habe und sein Lebenswandel sich ändern müsse. Er arbeite intensiv mit seiner Bewährungshelferin zusammen, um sich nach seiner Entlassung in den Arbeitsmarkt zu integrieren und fortan ein rechtstreues Leben zu führen. § 5 Z 10 JGG besage, dass die in gesetzlichen Bestimmungen vorgesehenen Rechtsfolgen nicht eintreten würden, das bedeute, dass neben den strafrechtlichen Folgen einer Jugendstraftat keine weiteren Rechtsfolgen eintreten dürfen. Im vorliegenden Fall sei daher festzuhalten, dass unbeschadet der strafrechtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers, die grundsätzlich einen Aberkennungsgrund iSd § 9 Abs. 2 AsylG darstellen würden, dem Beschwerdeführer zufolge § 5 Z 10 JGG der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht aberkannt werden könne. Hinsichtlich der weiterhin vorliegenden Voraussetzungen des Anspruchs auf subsidiären Schutz dürfe auf die Länderberichte zur Sicherheitslage in der Russischen Föderation verwiesen werden, welche allesamt aufzeigen würden, dass eine Abschiebung jedenfalls eine Verletzung der Art. 2, 3 EMRK darstelle. Dies ergebe sich konkludent aus Spruchpunkt V. des bekämpften Bescheides, demzufolge sich eine Abschiebung in die Russische Föderation als unzulässig erweise sowie dem Bescheid bezüglich der Mutter des Beschwerdeführers vom 29.03.2018, mit welchem deren Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 verlängert worden wäre. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG sei auszuführen, dass gegen den Beschwerdeführer ein Strafverfahren eingeleitet worden wäre und er sich seit 24.03.2018 in Untersuchungshaft befände. Der Beschwerdeführer werde verdächtigt, das Verbrechen des Raubes sowie des Raubes mit schwerer Körperverletzung im Rahmen einer kriminellen Vereinigung sowie unter Anwendung von Waffengewalt verübt zu haben. Zeitgleich sei die Untersuchungshaft über weitere Personen wegen derselben Straftat verhängt worden, wobei vermutet werde, dass der Beschwerdeführer eventuell als Mittäter gehandelt haben könnte. Zur Gewährleistung der Strafverfolgung von dieser strafbaren Handlung werde es vonnöten sein, dass der Beschwerdeführer im Falle eines Prozesses als Zeuge aussagen müsste. Wie oben ausgeführt, sei es gemäß § 5 Z 10 JGG unerheblich, dass der Beschwerdeführer schon rechtskräftig wegen anderer Straftaten verurteilt worden wäre. Somit wäre es Aufgabe der Behörde gewesen, eine Stellungnahme der Landespolizeidirektion einzuholen und bei Vorliegen der Voraussetzungen (Notwendigkeit der Aussage im Verfahren) einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen. Da die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in rechtswidriger Weise erfolgt wäre, liege auch keine Grundlage für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor. Die nach dem FrÄG 2017 erlassene Änderung, wonach in diesem Fall eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zu erlassen wäre, stünde jedoch im Widerspruch zu den unionsrechtlichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Voraussetzung für den Erlass einer Rückkehrentscheidung wäre deren Durchsetzbarkeit, die Rückführungsrichtlinie enthalte demgegenüber keine Bestimmung, wie mit einer Unmöglichkeit der Durchsetzbarkeit umzugehen wäre. Lediglich in Art. 9 der Rückführungsrichtlinie wären Fälle aufgezählt, wonach eine Abschiebung aufzuschieben wäre. Im Falle, dass bereits beim Erlass einer Rückkehrentscheidung feststünde, dass die Durchsetzbarkeit eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots darstellen würde und die Abschiebung absehbar nicht möglich erscheine, stünde die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben. In den Fällen des § 8 Abs. 3a und § 9 Abs. 2 AsylG werde aber oftmals davon auszugehen sein, dass eine Abschiebung aus verfassungsrechtlichen Gründen zumindest langfristig nicht möglich sein werde, weshalb sich auch die Erlassung einer Rückkehrentscheidung als nicht zulässig erweise. Darüber hinaus würde bereits die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme - und somit der behördliche Befehl, in jenen Staat zurückzukehren, in dem eine Verletzung des Folterverbots drohe - eine Verletzung von Artikel 3 EMRK und Art. 19 Abs. 2 GRC bedeuten. Das Refoulement-Verbot des Art. 3 EMRK und Art. 19 Abs. 2 GRC verbiete nicht nur die Abschiebung von Fremden in den Verfolgerstaat, sondern bereits die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, wie vom EGMR in seiner Entscheidung Paposhvili gegen Belgien jüngst explizit bestätigt worden wäre. Durch eine Rückkehrentscheidung würde zudem in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers eingegriffen, zumal der Beschwerdeführer von klein auf im Inland aufgewachsenen wäre und bereits seit 14 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig wäre. Er lebe in einem gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern und Geschwistern; er lebe von Unterstützung seiner Eltern, welche ihn derzeit regelmäßig in der Justizanstalt besuchen würden und von welchen er aufgrund seiner Minderjährigkeit abhängig wäre. Eine Fortführung des Familienlebens sei lediglich in Österreich möglich. Es werde nicht verkannt, dass der Beschwerdeführer strafgerichtlich nicht unbescholten wäre, doch handle es sich hierbei um Jugendstraftaten und werde auf das anbei übermittelte Urteil verwiesen, welches indiziere, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf den tatsächlich verwirklichten Sachverhalt mitnichten eine derartige Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle, als dass das Interesse Österreichs an seiner Rückkehr höher zu bewerten wäre, als sein Interesse am Verbleib im Bundesgebiet. In Bezug auf das verhängte Einreiseverbot sei der Behörde zudem vorzuwerfen, dass sie keine ausreichende Beurteilung des Persönlichkeitsbildes des Beschwerdeführers vorgenommen und die vermeintlich vom Beschwerdeführer ausgehende Gefährdung nicht im ausreichenden Maße gewürdigt hätte. Auch habe sie den tatsächlichen Sachverhalt der vorliegenden Verurteilungen nicht ausreichend gewürdigt. Stattdessen habe sie sich in ihrer Würdigung auf weitere Anzeigen des Beschwerdeführers versteift, wegen derer er aber nicht rechtskräftig verurteilt worden wäre, wobei sie hierbei eines der Grundprinzipien unseres Rechtsstaats missachte. Die Verurteilungen des Beschwerdeführers seien für sich alleine nicht ausreichend für die Feststellung, dass der Beschwerdeführer auch in Zukunft nicht von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten werden könne, zumal es sich bei diesem um einen Minderjährigen handle, dessen Persönlichkeitsbild demnach noch nicht gefestigt wäre. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.
8. Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 15.05.2018 vorgelegt und die Abweisung der Beschwerde beantragt.
9. Mit Eingaben vom 24.05.2018 wurden drei Abschlussberichte einer Landespolizeidirektion vom 22.04.2018, vom 14.05.2018 sowie vom 18.05.2018 übermittelt. Aus letztgenanntem Bericht ergibt sich insbesondere, dass der Beschwerdeführer und weitere Jugendliche beschuldigt würden, im Zeitraum Juni/Juli 2017 zwei weibliche Jugendliche an einer Tankstelle vergewaltigt zu haben, diese Taten gefilmt und die Videos/Fotos mit ihren Mobiltelefonen an Dritte übermittelt zu haben.
Am 04.05.2018 erhob die Staatsanwaltschaft XXXX gegen den Beschwerdeführer und weitere Verdächtigte Anklage wegen des Verdachts, die Verbrechen des versuchten schweren Raubes nach §§ 15, 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB sowie des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB begangen zu haben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der minderjährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation. Der Beschwerdeführer ist somit Drittstaatsangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 20b AsylG 2005. Der Beschwerdeführer ist kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu.
Der Beschwerdeführer führt die im Spruch ersichtlichen Personalien und reiste im Jahr 2004 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern ins Bundesgebiet ein. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 30.05.2008, Zl. 301.758-C1/3E-V/13/06, wurde, unter gleichzeitiger Abweisung der Berufung im Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten, gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 iVm § 50 FPG festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation nicht zulässig ist und diesem gemäß §§ 8 Abs. 3 iVm 15 Abs. 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, welche in den Folgejahren regelmäßig verlängert wurde. Gleichlautende Entscheidungen ergingen im Hinblick auf dessen Eltern und Geschwister. Im Verfahren des Beschwerdeführers wurden seitens seiner gesetzlichen Vertreter keine individuellen Rückkehrbefürchtungen geltend gemacht und konnten solche auch von Amts wegen nicht erkannt werden.
In Österreich leben die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers als subsidiär Schutzberechtigte, mit denen der Beschwerdeführer bis März 2018 in einem gemeinsamen Haushalt lebte. Seit 24.03.2018 befindet sich der Beschwerdeführer in Untersuchungshaft. Der Beschwerdeführer spricht die deutsche Sprache, hat in Österreich die Neue Mittelschule absolviert und verfügt hier über einen Freundes- und Bekanntenkreis.
Der Beschwerdeführer leidet weder an einer schweren Krankheit, noch ist er längerfristig pflege- oder rehabilitationsbedürftig. Der Beschwerdeführer geht keiner Beschäftigung nach und ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Der Beschwerdeführer wurde in Österreich seit dem frühen Jugendalter kontinuierlich straffällig und weist aktuell die folgenden rechtskräftigen Verurteilungen auf:
1. BG KUFSTEIN 011 U 42/2017k vom 26.04.2017 RK 03.05.2017
Datum der (letzten) Tat 14.02.2017
Geldstrafe von 60 Tags zu je 4,00 EUR (240,00 EUR) im NEF 30 Tage
Ersatzfreiheitsstrafe, davon Geldstrafe von 30 Tags zu je 4,00 EUR (120,00
EUR) im NEF 15 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Jugendstraftat
...
XXXX
Datum der (letzten) Tat 29.04.2017
Geldstrafe von 120 Tags zu je 4,00 EUR (480,00 EUR) im NEF 60 Tage
Ersatzfreiheitsstrafe
Jugendstraftat
XXXX
§ 229 (1) StGB
§ 107 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 03.09.2017
Geldstrafe von 120 Tags zu je 4,00 EUR (480,00 EUR) im NEF 60 Tage
Ersatzfreiheitsstrafe, davon Geldstrafe von 60 Tags zu je 4,00 EUR (240,00
EUR) im NEF 30 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Jugendstraftat
XXXX
§§ 142 (1), 142 (2) StGB
§ 12 2. Fall StGB §§ 142 (1), 142 (2) StGB
Datum der (letzten) Tat 21.10.2017
Freiheitsstrafe 9 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe
...
Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers würde eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen.
Zur aktuellen Lage in der Russischen Föderation wird unter Heranziehung der im angefochtenen Bescheid ersichtlichen Berichte Folgendes festgestellt:
1. Politische Lage
Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).
Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).
Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).
Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).
1.1. Tschetschenien
Die Tschetschenische Republik ist eine der 21 Republiken der Russischen Föderation. Betreffend Fläche und Einwohnerzahl - 15.647 km2 und fast 1,3 Millionen Einwohner/innen (2010) - ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).
Den Föderationssubjekten stehen Gouverneure vor. Gouverneur von Tschetschenien ist Ramsan Kadyrow. Er gilt als willkürlich herrschend. Russlands Präsident Putin lässt ihn aber walten, da er Tschetschenien "ruhig" hält. Tschetschenien wird überwiegend von Geldern der Zentralregierung finanziert. So erfolgte der Wiederaufbau von Tschetscheniens Hauptstadt Grosny vor allem mit Geldern aus Moskau (BAMF 10.2013, vgl. RFE/RL 19.1.2015).
In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres System geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und größtenteils außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert. So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens zurücktreten, nachdem er von Kadyrow kritisiert worden war, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter in die föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen im September 2016, wenn auch das Republikoberhaupt gewählt wird, durchzuführen. Die Entscheidung erklärte man mit potentiellen Einsparungen durch das Zusammenlegen der beiden Wahlgänge, Experten gehen jedoch davon aus, dass Kadyrow einen Teil der Abgeordneten durch jüngere, aus seinem Umfeld stammende Politiker ersetzen möchte. Bei den Wahlen vom 18. September 2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Den offiziellen Angaben zufolge wurde Kadyrow mit über 97% der Stimmen im Amt des Oberhauptes der Republik bestätigt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld HRW über Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte (ÖB Moskau 12.2016). In Tschetschenien hat das Republikoberhaupt Ramsan Kadyrow ein auf seine Person zugeschnittenes repressives Regime etabliert. Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 24.1.2017).
Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird hart vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die darauf aus wären, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtlern, aber auch von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert. Im März ernannte Präsident Putin Kadyrow im Zusammenhang mit dessen im April auslaufender Amtszeit zum Interims-Oberhaupt der Republik und drückte seine Unterstützung für Kadyrows erneute Kandidatur aus. Bei den Wahlen im September 2016 wurde Kadyrow laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt, wohingegen unabhängige Medien von krassen Regelverstößen bei der Wahl berichteten (ÖB Moskau 12.2016). Im Vorfeld dieser Wahlen zielten lokale Behörden auf Kritiker und Personen, die als nicht loyal zu Kadyrow gelten ab, z.B. mittels Entführungen, Verschwindenlassen, Misshandlungen, Todesdrohungen und Androhung von Gewalt gegenüber Verwandten (HRW 12.1.2017).
2. Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).
Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).
Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS - v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom 2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei 220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000 militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau 12.2016).
Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - der Einsatz von Artillerie und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen Streitkräften in Latakia - hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch 10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300 Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet werden, dürften sie von der Eliteeinheit Speznas innerhalb der tschetschenischen Streitkräfte rekrutiert worden sein (FP 4.5.2017).
Für den Kreml hat der Einsatz der nordkaukasischen Brigaden mehrere Vorteile. Zum einen reagiert die russische Bevölkerung sehr sensibel auf Verluste der russischen Armee in Syrien. Verluste von Personen aus dem Nordkaukasus würden wohl weniger Kritik hervorrufen. Zum anderen ist der wohl noch größere Vorteil jener, dass sowohl Tschetschenen, als auch Inguscheten fast alle sunnitische Muslime sind und somit derselben islamischen Richtung angehören, wie ein Großteil der syrischen Bevölkerung. Die mehrheitlich sunnitischen Brigaden könnten bei der Bevölkerung besser ankommen, als ethnisch russische Soldaten. Außerdem ist nicht zu vernachlässigen, dass diese Einsatzkräfte schon über Erfahrung am Schlachtfeld verfügen, beispielsweise vom Kampf in der Ukraine (FP 4.5.2017).
Bis jetzt war der Einsatz der tschetschenischen und inguschetischen Bodentruppen auf Gebiete beschränkt, die für den Kreml von entscheidender Bedeutung waren. Obwohl es momentan eher unwahrscheinlich scheint, dass die Rolle der nordkaukasischen Einsatzkräfte bald ausgeweitet wird, agieren diese wohl weiterhin als die Speerspitze in Moskaus Strategie, seinen Einfluss in Syrien zu vergrößern (FP 4.5.2017).
2.1. Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, vor allem jedoch an der derzeit prominentesten und brutalsten Jihad-Front in Syrien und im Irak (SWP 4.2015).
2016 gab es in Tschetschenien 43 Opfer des bewaffneten Konfliktes (2015: 30; 2014: 117), davon 27 Tote und 16 Verwundete (Caucasian Knot 2.2.2017).
Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) hat einen Anschlag auf einen russischen Militärstützpunkt in Tschetschenien für sich reklamiert. Sechs Angreifer hätten am Freitag, den 24.3.2017 eine Militärbasis der russischen Nationalgarde nahe dem Dorf Naurski im Nordwesten Grosnys in Tschetschenien gestürmt. Alle Angreifer seien bei den mehrstündigen Kämpfen auf dem Stützpunkt getötet worden (Zeit Online 24.3.2017). Nach Armeeangaben wurden bei dem Angriff auch sechs russische Nationalgardisten getötet. Die Nationalgarde erklärte, der Angriff sei in den frühen Morgenstunden bei dichtem Nebel erfolgt. Die Soldaten auf dem Stützpunkt hätten den Angriff zurückgeschlagen. Außer den Toten habe es auch Verletzte gegeben. Die im vergangenen Jahr gebildete Nationalgarde ist direkt dem russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstellt. Sie hat den Auftrag, Grenzen zu schützen und Extremisten zu bekämpfen (Focus Online 24.3.2017).
3. Rechtsschutz/Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassung, Zivil, Administrativ und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen. In Strafprozessen kommt es nur sehr selten (lt. Amnesty International in 0,5% der Fälle) zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen. 2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte. Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass wenn der EGMR von einer Konventionsauslegung ausgeht, die der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht, Russland in dieser Situation aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang sind. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings weiterhin um Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2016, vgl. AA 24.1.2017).
Am 7. Juli 2016 wurden die unter dem Begriff Yarovaya-Paket zusammengefassten Änderungen der Gesetze zur Bekämpfung des Extremismus in Kraft gesetzt. Die geänderten Rechtsvorschriften waren zu weiten Teilen unvereinbar mit Russlands internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte. So wurden alle missionarischen Aktivitäten außerhalb eigens dazu bestimmter religiöser Institutionen verboten und Provider dazu verpflichtet, den gesamten Nachrichtenverkehr sechs Monate lang und alle Metadaten drei Jahre lang zu speichern. Zudem wurde die Höchststrafe für extremistische Delikte von vier auf acht Jahre und für Anstiftung zur Beteiligung an Massenunruhen von fünf auf zehn Jahre Haft angehoben. Am 16. November 2016 kündigte Präsident Putin an, dass Russland nicht länger beabsichtige, Vertragsstaat des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs zu werden. Russland hatte das Statut im Jahr 2000 unterschrieben, jedoch nie ratifiziert (AI 22.2.2017).
Im November 2013 ist in Russland ein Gesetz verabschiedet worden, mit denen man die Bestrafung von Familien und Verwandten von Terrorverdächtigen erreichen wolle und die darauf abzielen würden, die "harte Form" des Kampfes gegen den Aufstand, die bereits in mehreren Republiken im Nordkaukasus praktiziert wird, zu legalisieren. Die Gesetzgebung erlaubt es den Behörden, die Vermögenswerte der Familien von Terrorverdächtigen zu beschlagnahmen und die Familien dazu zu verpflichten, für Schäden aufzukommen, die durch Handlungen der Terrorverdächtigen entstanden sind (CACI 11.12.2013, vgl. US DOS 3.3.2017).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Es gibt Bestrebungen zu einer weiteren Entkriminalisierung leichterer Straftaten, bislang allerdings ohne konkrete Ergebnisse. Bemerkenswert ist die unverändert extrem hohe Verurteilungsquote im Strafprozess. Für zu lebenslange Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Auch eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Immer wieder legen einzelne Strafprozesse in Russland den Schluss nahe, dass politische Gründe hinter der Verfolgung stehen. Trotz der Entlassung von Michail Chodorkowski und den Mitgliedern der Punk-Aktionsgruppe Pussy Riot aus der Haft - beze