Entscheidungsdatum
18.06.2018Norm
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1Spruch
G314 2196221-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, kosovarischer Staatsangehöriger, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung (Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 24.04.2018,Zl.
XXXX, zu Recht:
A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid
wie folgt abgeändert: "Dem Beschwerdeführer wird gemäß §§ 55 Abs 1 und 58 Abs 2 AsylG eine "Aufenthaltsberechtigung plus" iSd § 54 Abs 1 Z 1 AsylG erteilt."
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (BF) stellte am 02.01.2018 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK.
Mit dem oben genannten Bescheid wurde dieser Antrag vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gemäß § 55 AsylG abgewiesen und gemäß § 10 Abs 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 3 FPG erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Kosovo zulässig ist (Spruchpunkt II.) und gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt III.). Die Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der BF in Österreich kein schützenswertes Familienleben und lediglich ein typisch ausgeprägtes Privatleben habe. Sein privates Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet werde dadurch gemindert, dass er nach dem Ablauf seines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet verblieben sei und dadurch die österreichische Rechtsordnung ignoriert habe, was die öffentliche Ordnung gefährde.
Dagegen richtet sich die Beschwerde des BF mit den Anträgen, ihm in Stattgebung der Beschwerde einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG zu erteilen, die Rückkehrentscheidung ersatzlos zu beheben, in eventu, eine mündliche Verhandlung durchzuführen sowie den Bescheid zu beheben und die Angelegenheit an das BFA zurückverweisen. Begründend wurde ausgeführt, dass der BF von November 2008 bis 04.11.2017 im Besitz von Aufenthaltsbewilligungen "Studierender" gewesen sei. Er sei überdurchschnittlich gut integriert, spreche nahezu perfekt Deutsch und habe einen Arbeitsvorvertrag. Ihm fehlten nur wenige Prüfungen für den Studienabschluss und er lebe im Bundesgebiet in einer Lebensgemeinschaft mit XXXX.
Die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 24.05.2018 vorgelegt.
Feststellungen:
Der 1984 geborene BF ist kosovarischer Staatsangehöriger. Er ist ledig und kinderlos. Er wuchs im Kosovo auf und absolvierte dort die Schule. Zuletzt wohnte er dort bei seinen Eltern. Seine Eltern, eine Schwester, sein Bruder und seine Schwägerin leben nach wie vor im Kosovo. Eine Schwester des BF lebt in Brüssel. In Österreich hat der BF keine Verwandten.
Der BF kam im November 2008 nach Österreich, um die deutsche Sprache zu erlernen und an der XXXX zu studieren. Seither hält er sich - abgesehen von regelmäßigen Besuchen bei seiner Familie im Kosovo - kontinuierlich in Österreich auf.
Dem BF wurde erstmalig eine Aufenthaltsbewilligung für den Zweck des Studiums mit einer Gültigkeitsdauer von 03.11.2008 bis 31.05.2009 erteilt, die in der Folge mehrfach verlängert wurde, zuletzt bis 04.11.2017. Sein Verlängerungsantrag vom 31.10.2017 wurde mit Bescheid vom 04.12.2017 mangels eines entsprechenden Studienerfolgs abgewiesen.
Der BF verfügt über sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache. Am 28.10.2011 legte er die Ergänzungsprüfung für den Nachweis der Kenntnis der deutschen Sprache im Vorstudienlehrgang für ausländische Studierende (XXXX) als Voraussetzung für die Zulassung an der XXXX ab. Für die positive Absolvierung dieser Prüfung sind Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau C1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen ("Kompetente Sprachverwendung") erforderlich. Das Prüfungszeugnis legte er im Verfahren vor.
Der BF hat die allgemeine Universitätsreife. Er studiert an der XXXX Philosophie im Bachelorstudium. Seit 25.11.2008 verfügt er durchgehend über Hauptwohnsitzmeldungen im Bundesgebiet. Seit September 2016 lebt er mit der bosnischen Staatsangehörigen XXXX, die er seit 2011 kennt und mit der er seit 2014 liiert ist, in einem gemeinsamen Haushalt. XXXX studiert in Graz Kunstgeschichte und besitzt einen Aufenthaltstitel "Studierende"; daneben ist sie in der Garderobe eines Lokals geringfügig beschäftigt.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er bezog in Österreich nie Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe. Um für seinen Lebensunterhalt aufzukommen, war er immer wieder im Gastgewerbe beschäftigt. Zwischen Februar 2010 und Oktober 2015 war er ca. 30 Monate lang geringfügig beschäftigt. Ab September 2016 bestanden bis Dezember 2017 vollversicherte Beschäftigungsverhältnisse. Seither übt der BF keine Erwerbstätigkeit aus. Er hat eine Vollzeitbeschäftigung bei der XXXX OG als Mitarbeiter eines Imbisslokals in XXXX in Aussicht, wenn eine Berechtigung zur Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit vorliegt.
Während seines Aufenthalts im Bundesgebiet verfügte der BF von März bis November 2009 und von Oktober 2010 bis Februar 2011 über eine Krankenversicherung aufgrund einer Selbstversicherung gemäß § 16 Abs 2 ASVG. Zwischen März und September 2011, Jänner 2012 und Jänner 2013, Oktober und Dezember 2013, Mai und September 2014 und im Oktober 2015 war er aufgrund einer Selbstversicherung gemäß § 19a ASVG sozialversichert.
Der BF hat in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis. Er ist strafgerichtlich unbescholten.
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Akteninhalt. Der chronologische Ablauf ist auch im Fremdenregister nachvollziehbar.
Die Feststellungen basieren auf den vorliegenden Beweismitteln, insbesondere auf den plausiblen und schlüssigen Angaben des BF in seinem verfahrenseinleitenden Antrag und der Beschwerde sowie auf den von ihm vorgelegten Dokumenten. Es liegen keine entscheidungserheblichen Widersprüche vor.
Die Feststellungen zur Identität und zu den persönlichen und familiären Verhältnissen des BF beruhen auf seinen konsistenten Angaben dazu. Seine Identität wird auch durch den dem BFA vorgelegten Reisepass belegt. Eine Kopie des Reisepasses befindet sich im Akt. Der BF gab an, ledig zu sein und keine Sorgepflichten zu haben. Die Feststellungen zu familiären Anknüpfungspunkten in Österreich und im Kosovo basieren auf seinen Angaben gegenüber dem BFA.
Die Feststellung hinsichtlich der Einreise des BF ins Bundesgebiet ergibt sich aus seinen Angaben, den diesbezüglichen Feststellungen im Bescheid des Landeshauptmannes XXXX vom 04.12.2017 und dem beschwerdegegenständlichen Bescheid des BFA. Aus dem Bescheid vom 04.12.2017 ergibt sich im Einklang mit dem Fremdenregister, dass der BF seit der Erstantragsstellung im November 2008 aufgrund der Verlängerungsanträge bis zum 04.12.2017 jeweils einen Aufenthaltstitel "Studierender" besaß. Daraus ist zu schließen, dass der BF in diesem Zeitraum tatsächlich studiert und den Studienerfolg (die erforderlichen ECTS-Punkte) gegenüber der Niederlassungsbehörde nachgewiesen hat, da es ansonsten bereits früher zur Abweisung eines (Verlängerungs-) Antrages gekommen wäre.
Aus dem Umstand, dass der BF an der XXXX zum (ordentlichen) Studium zugelassen wurde, ergibt sich in Zusammenschau mit der abgelegten Ergänzungsprüfung für den Nachweis der deutschen Sprache im Vorstudienlehrgang, dass der BF die allgemeine Universitätsreife hat. Seine Deutschkenntnisse konnten aufgrund des vorgelegten Zeugnisses vom 28.10.2011 festgestellt werden. Der Umstand, dass die Ergänzungsprüfung Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau C1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen ("Kompetente Sprachverwendung") belegt, ergibt sich daraus, dass die Unterrichtssprache an der XXXX Deutsch ist und Deutschkenntnisse auf dem Niveau C1 deshalb Voraussetzung für die Zulassung ausländischer Studierender sind (siehe z.B. XXXX; Zugriff am 05.06.2018). Außerdem konnte die Einvernahme des BF vor dem BFA am 19.04.2018 problemlos auf Deutsch, ohne Beiziehung eines Dolmetschers, geführt werden.
Die Feststellungen hinsichtlich der Wohnsitzmeldungen im Bundesgebiet konnten aufgrund der Angaben des BF in Zusammenschau mit der übereinstimmenden Auskunft aus dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem vorgelegten Mietvertrag getroffen werden.
Die Feststellungen bezüglich der Beziehung des BF und XXXX werden anhand seiner Angaben in der Beschwerde und bei der Einvernahme am 19.04.2018 sowie der Angaben der XXXX vor dem BFA am 19.04.2018 und in ihrem als Empfehlungsbrief titulierten Schreiben vom 20.12.2017 getroffen. Ihre übereinstimmende Darstellung wird auch durch den Mietvertrag untermauert.
Aus dem Versicherungsdatenauszug ergeben sich die Beschäftigungsverhältnisse des BF sowie die Zeiten der Selbstversicherung nach § 16 Abs 2 ASVG bzw. § 19a ASVG.
Es gibt keine Indizien für gesundheitliche Probleme des BF. Da er zwischen 2010 und 2017 immer wieder erwerbstätig war und auch jetzt eine Vollzeitbeschäftigung anstrebt, wie sich aus der vorgelegten Einstellungszusage der XXXX OG vom 20.12.2017 und seinem Vorbringen in der Beschwerde ergibt, ist davon auszugehen, dass seien Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt ist, zumal er in einem erwerbsfähigen Alter ist.
Der BF gab an, dass er seit der Abweisung seines letzten Verlängerungsantrags nicht mehr gearbeitet habe. Gegenteilige Beweisergebnisse sind im Verfahren nicht zu Tage gekommen.
Es gibt keine Anhaltspunkte für den Bezug von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe durch den BF. Dies geht insbesondere nicht aus dem Versicherungsdatenauszug hervor.
Die Feststellung, dass der BF Freunde und Bekannte in Österreich hat, basiert darauf, dass er mehrere konkrete Bezugspersonen nannte und entsprechende Unterstützungsschreiben vorlegte. Auch die Dauer seines Aufenthalts, das Studium und seine Beschäftigungsverhältnisse sprechen dafür, dass er hier mittlerweile soziale Kontakte geknüpft hat.
Aus dem aktuellen Strafregisterauszug ergibt sich, dass die BF strafrechtlich unbescholten ist.
Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt A):
Der BF ist Staatsangehöriger der Republik Kosovo und somit Drittstaatsangehöriger iSd § 2 Abs 4 Z 10 FPG.
Gemäß § 55 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des § 55 Abs 1 Z 1 AsylG vor, ist gemäß § 55 Abs 2 AsylG eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.
Gemäß § 9 Abs 4 Integrationsgesetz (IntG) ist das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 IntG (Z 1) oder einen gleichwertigen Nachweis (Z 2) vorlegt, über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs 1 UG oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3), einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte" gemäß § 41 Abs 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4) oder als Inhaber eines Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung - Künstler" gemäß § 43a NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter § 2 Abs 1 Z 1 bis 3 Kunstförderungsgesetz genannten Kunstsparte ausübt (Z 5). Mit der Integrationsprüfung gemäß § 11 IntG ist festzustellen, ob ein Drittstaatsangehöriger über vertiefte elementare Kenntnisse der deutschen Sprache zur Kommunikation und zum Lesen und Schreiben von Texten des Alltags auf dem Sprachniveau A2 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und über Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich verfügt.
Eine "Aufenthaltsberechtigung plus" berechtigt gemäß § 54 Abs 1 Z 1 AsylG zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG). Eine "Aufenthaltsberechtigung" berechtigt gemäß § 54 Abs 1 Z 2 AsylG zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist.
§ 58 AsylG regelt das Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß §§ 55 ff AsylG.
Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, durch die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen. Gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.
Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sind Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig anzusehen (VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325).
Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt ergibt Folgendes:
Der BF lebt seit November 2008, also seit mehr als neun Jahren, durchgehend in Österreich. Davon war sein Aufenthalt neun Jahre lang aufgrund der ihm erteilten Aufenthaltsbewilligungen rechtmäßig. Zuletzt hielt er sich ein knappes halbes Jahr lang nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Das Interesse des BF an einem Verbleib in Österreich wird zwar dadurch gemindert, dass er keine Veranlassung hatte, nach der Abweisung des Verlängerungsantrages mit Bescheid des Landeshauptmannes XXXX vom 04.12.2017 von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen und dass sein Privatleben im Bundesgebiet zu einem Zeitpunkt entstand, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war bzw. nur über einen befristeten Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügte. Dies hat aber vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während seines Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung führen kann (vgl VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325 mwN).
Dem BF sind außer diesem nicht rechtmäßigen Aufenthalt keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung anzulasten. Seine Beschäftigungsverhältnisse zwischen 2010 und 2017, das Betreiben eines Studiums, der Erwerb von Deutschkenntnissen auf dem Sprachniveau C1, die Möglichkeit einer künftigen legalen Berufstätigkeit, seine im Bundesgebiet wohnhafte Lebensgefährtin sowie sein Freundes- und Bekanntenkreis sprechen aber dafür, dass er die in Österreich verbrachte Zeit zur sozialen und beruflichen Integration genutzt hat. Der BF zeigt durch den Abschluss eines arbeitsrechtlichen Vorvertrags seinen Wunsch, in Zukunft (wieder) einer Beschäftigung nachzugehen. Er verfügt über eine gesicherte Unterkunft. Durch die Lebensgemeinschaft mit XXXX hat er ein schützenswertes Familienleben in Österreich.
Wenngleich noch starke Bindungen zum Herkunftsstaat des BF bestehen, weil er dort aufgewachsen ist, die Schule besucht hat, eine übliche Sprache spricht und seine Familie nach wie vor dort lebt, werden diese dadurch relativiert, dass er sich seit neun Jahren nur zu Besuchszwecken in seinem Herkunftsstaat aufgehalten hat.
Der Behörde anzulastende überlange Verzögerungen des gegenständlichen Verfahrens liegen nicht vor.
Der unrechtmäßige Aufenthalt des BF fällt vor dem Hintergrund seines langen und überwiegend rechtmäßigen Aufenthaltes in Zusammenschau mit seinen bisherigen Integrationsbemühungen nicht so schwer ins Gewicht, dass er die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigt. In strafrechtlicher Hinsicht hat sich der BF nichts zuschulden kommen lassen. Im Ergebnis überwiegt somit das Interesse des BF an einem Verbleib in Bundesgebiet das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.
Bei der vorzunehmenden Interessensabwägung wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch ist in diesem konkreten Einzelfall in einer Gesamtschau und in einer gewichteten Abwägung aller Umstände das Interesse an der Fortführung des Familien- und Privatlebens des BF in Österreich höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.
Da der BF derzeit keine (erlaubte) Erwerbstätigkeit ausübt, ist die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" nur dann möglich, wenn der BF gemäß § 55 Abs 1 Z 2 AsylG im Entscheidungszeitraum das Modul 1 der Integrationsvereinbarung bereits erfüllt hat. Diese Voraussetzung liegt hier vor, weil sich schon aus seinem Studium ergibt, dass er über einen Schulabschluss verfügt, der zum Besuch einer Universität berechtigt (§ 9 Abs 4 Z 3 IntG). Überdies hat der BF Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau C1 nachgewiesen.
Dem BF ist daher in Stattgebung der Beschwerde eine "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 54 Abs 1 Z 1 AsylG iVm § 55 Abs 1 AsylG zu erteilen. Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ist insoweit abzuändern, Spruchpunkt II. und III. haben als Folge dieser Entscheidung ersatzlos zu entfallen.
Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt werden konnte, unterbleibt eine Beschwerdeverhandlung gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG, zumal davon keine weitere Klärung dieser Angelegenheit zu erwarten ist.
Zu Spruchteil B):
Die Revision nach Art 133 Abs 4 B-VG war nicht zuzulassen, weil es sich bei der Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK um eine typische Einzelfallbeurteilung handelt. Es waren keine erheblichen, über den Einzelfall hinausreichenden Rechtsfragen zu lösen.
Schlagworte
Aufenthalt im Bundesgebiet, Aufenthaltsberechtigung plus,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2018:G314.2196221.1.00Zuletzt aktualisiert am
28.06.2018