Entscheidungsdatum
14.06.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W235 2112303-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Maga. Sabine MEHLGARTEN-LINTNER als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.07.2015, Zl. 1023492501-14749648, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.04.2018 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 sowie § 8 Abs. 1 AsylG als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. wird stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist. XXXX wird eine "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten gemäß § 55 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Z 1 iVm § 54 Abs. 2 AsylG erteilt.
III. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1.1. Die nunmehrige Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation und Zugehörige der armenischen Volksgruppe, stellte nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 30.06.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Am Tag der Antragstellung wurde sie einer Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes unterzogen, wobei sie zunächst zu ihren persönlichen Daten angab, dass sie in Jerewan (Armenien) geboren und russische Staatsangehörige sei. Sie gehöre der armenischen Volksgruppe an und sei Christin. Von 1988 bis 1999 habe sie die Grundschule und von 2000 bis 2011 die Universität in Moskau besucht. Die Beschwerdeführerin sei verheiratet und lebe in Österreich bei ihrem Ehemann. Sie habe den Entschluss zur Ausreise im Mai 2014 gefasst, die Russische Föderation Ende Mai [2014] legal verlassen und sei mit einem Visum nach Barcelona geflogen. Am Flughafen in Barcelona habe sie sich ein Ticket nach Wien gekauft und sei anschließend - das sei am XXXX oder am XXXX 05.2014 gewesen - nach Wien geflogen, wo sie von ihrem Ehemann am Flughafen abgeholt worden sei. Danach seien sie in seine Wohnung gefahren, wo sich die Beschwerdeführerin bis zum heutigen Tag aufhalte.
Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die Beschwerdeführerin an, dass zum einen ihr Ehemann in Österreich lebe und sie mit ihm zusammenleben wolle. Zum anderen habe ihre Familie sie mit einem anderen Mann verheiraten wollen. Dieser Mann habe eine andere Herkunft und eine andere Religion - er sei Tschetschene - und habe ihr mehrmals mit dem Umbringen gedroht, wenn sie sich weigere, ihn zu heiraten. Als die Beschwerdeführerin im Jahr 2012 erstmals in Österreich gewesen sei, habe sie ihren nunmehrigen Ehemann heimlich kirchlich geheiratet. Letztes Jahr habe sie ihn ihrer Familie vorgestellt, die ihn jedoch nicht akzeptiert habe. Anschließend hätten sie heimlich standesamtlich geheiratet. Die Beschwerdeführerin habe Angst vor ihrer Familie und vor dem Tschetschenen, der beim Militär in Russland diene und sehr gefährlich sei. Aus Angst um ihr Leben sei sie zu ihrem Ehemann nach Österreich geflohen.
Im Zuge der Erstbefragung legte die Beschwerdeführerin ihren russischen Führerschein, ihren russischen Reisepass, ihre russische Heiratsurkunde vom XXXX 11.2013 sowie die Heiratsurkunde der armenisch apostolischen Kirchengemeinde in Österreich vom XXXX 07.2013 vor, der zu entnehmen ist, dass die Beschwerdeführerin am XXXX 09.2012 mit Herrn XXXX nach dem Ritus der armenisch apostolischen Kirchengemeinde getraut worden war (vgl. AS 37).
Sowohl der russische Reisepass (samt spanischen Schengen-Visum vom XXXX 05.2014, gültig bis zum XXXX 11.2014) als auch der russische Führerschein der Beschwerdeführerin sowie die Heiratsurkunde vom
XXXX 11.2013 wurden einer Dokumentenüberprüfung unterzogen, im Zuge derer keine Hinweise auf das Vorliegen von Verfälschungen festgestellt werden konnten (vgl. AS 17 und AS 53).
1.3. Am 08.10.2014 wurde die Beschwerdeführerin einer Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl unterzogen, in welcher sie zunächst angab, dass sie sich psychisch und physisch in der Lage fühle, die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Sie sei gesund, sei jedoch schwanger und sei der voraussichtliche Geburtstermin der XXXX 04.2015. In Österreich lebe die Beschwerdeführerin mit ihrem Mann und seiner Familie. Sie lerne selbstständig zu Hause Deutsch und wolle die Universität besuchen. In Russland habe sie das Studium der Rechtswissenschaften absolviert und wolle sich auch in Österreich als Juristin weiterbilden. Sie habe immer in Russland in der Stadt XXXX mit ihren Eltern, zwei Schwestern und einem Bruder gelebt. Die Beschwerdeführerin habe von ca. 2009 bis eine Woche vor ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation als Direktorin in einem Supermarkt gearbeitet. Sie habe gut verdient. Die letzte Woche vor der Ausreise sei sie zu Hause gewesen und habe sich um ihre Dokumente für die Ausreise gekümmert. Die Beschwerdeführerin gehöre der armenischen Volksgruppe an und sei armenisch-gregorianische Christin. Wegen ihrer Volkgruppen- bzw. Religionszugehörigkeit habe sie in ihrem Heimatland keine größeren Probleme gehabt; es seien nur Kleinigkeiten gewesen. Sie sei im Institut "gehänselt" worden.
Als sie das erste Mal Ende August 2012 in Österreich gewesen sei, habe sie sich nach einer armenischen Kirche erkundigt und habe dort ihren späteren Mann kennengelernt. Damals sei sie mit einem ungarischen Schengen-Visum in Österreich mit einer Freundin auf Urlaub gewesen. Gleich in den ersten Tagen habe sie ihren nunmehrigen Ehegatten getroffen und sei dann bis zum Ende der Gültigkeit des Visums in Österreich geblieben. Danach hätten sie über Telefon und Internet Kontakt gehabt. In Österreich hätten sie schon im Jahr 2012 in der armenischen Kirche geheiratet. Damals hätten sie sich zwei oder drei Monate gekannt und da sie sich ineinander verliebt hätten, hätten sie den Entschluss gefasst zu heiraten. Nach der Trauung hätten sie sich in Russland in der Stadt XXXX Anfang November 2013 wieder getroffen. Als die Beschwerdeführerin 2012 aus Österreich zurückgekommen sei, habe sie nur ihrer Mutter erzählt, dass sie geheiratet habe. Sie habe Angst gehabt, ihren Vater zu informieren. Als sie ihren Eltern ihren Mann habe vorstellen wollen, hätten sie ihn nicht einmal ins Haus gelassen. Das sei am XXXX oder am XXXX November 2013 zu Mittag gewesen. Ihre Eltern seien zu Hause gewesen; ihre Geschwister nicht. Als ihr Mann mit dem Taxi gekommen sei, habe sie ihrer Mutter gesagt, er sei jetzt da und sei hinausgegangen. Dann sei ihr Vater auch vor die Tür gekommen und habe ihrem Mann nicht einmal die Hand gegeben, sondern ihn nur gefragt, was er hier wolle. Die Beschwerdeführerin habe zu erklären versucht, es sei jedoch schlecht gelaufen. Es sei offensichtlich für sie gewesen, dass ihre Eltern ihren Mann nicht akzeptieren wollten. Ihr Vater habe dann zu ihrem Mann gesagt, dass er ihn nicht sehen wolle und er nicht mehr kommen solle. Ihr Mann sei dann zurück ins Hotel gefahren und sie hätten telefoniert. Daraufhin hätten sie beschlossen, die Verbindung "amtlich" zu machen und seien zum Standesamt gegangen. Dort hätten sie das Aufgebot bestellt und glaublich am XXXX sei die Eheschließung gewesen.
Dezidiert zu ihren Fluchtgründen befragt, brachte die Beschwerdeführerin vor, dass es in der tschetschenisch/muslimischen Tradition "Kerto Bashmo" gebe, was bedeute, dass die Eltern für die Kinder schon in frühen Jahren ein Eheversprechen abgeben würden. Obwohl es dies in der armenischen Kultur nicht gebe, habe ihr Vater mit einem tschetschenischen Freund schon vor langem - die Beschwerdeführerin sei ca. 13 oder 14 Jahre alt gewesen - vereinbart, dass ihre Kinder heiraten würden. Dieser Sohn des Freundes gefalle der Beschwerdeführerin nicht, da er gewaltbereit und muslimischen Glaubens sei. Die Beschwerdeführerin habe nichts gegen den Islam, aber es hätte ihr nicht gefallen, sich zu verhüllen und mit einem Menschen zu leben, der ihr widerwärtig sei. Er sei immer wieder mit seiner Familie zu Besuch gekommen und habe zur Beschwerdeführerin gesagt, sie werde ihn schon heiraten, da dies beschlossene Sache sei. Zum Jahreswechsel 2011 habe die Beschwerdeführerin bei einem Besuch dieser Familie gesagt, dass sie lieber sterbe als diesen Mann zu heiraten und daraufhin habe er ihr gesagt, wenn sie lieber sterbe, dann solle sie eben sterben. Die Beschwerdeführerin glaube, dass diese Familie Druck auf ihren Vater ausübe. Ihr Vater sei zwar streng, aber nicht grausam. Nachdem die Beschwerdeführerin 2013 standesamtlich geheiratet habe, habe sie ihre Dokumente vorbereiten wollen, um mit einer Rot-Weiß-Rot Karte nach Österreich zu gelangen. Dazu sei es jedoch nicht gekommen, da die tschetschenische Familie den Termin für die Hochzeit auf den XXXX oder XXXX Juni [2014] festgesetzt habe. Deshalb habe die Beschwerdeführerin keine andere Wahl mehr gehabt, als mit einem Touristenvisum das Land zu verlassen. Auf Vorhalt, es sei nicht glaubhaft, dass die tschetschenische Familie so lange warte, da es nach tschetschenischer Tradition üblich sei, dass eine Frau mit 16 Jahren heirate, gab die Beschwerdeführerin an, sie habe die Hochzeit immer verschoben, da sie studiert und gearbeitet und der Mann immer als Söldner gekämpft habe. Da sich die Familie als modern ansehe, hätten sie nicht darauf bestanden, dass die Beschwerdeführerin schon mit 16 heirate. Ihr Vater habe das so ausverhandelt. Auf Vorhalt, dass nicht glaubhaft sei, dass ein armenischer Vater seine Tochter einem muslimischen Mann verspreche, gab sie an, dass ihr Vater seinen Freund schon lange kenne und dieses Versprechen mit ca. 21 Jahren abgegeben habe. Der weitere Verlauf der Einvernahme gestaltete sich wie folgt:
"LA: Schildern Sie nun konkret, warum nun beschlossen worden war, die Hochzeitsfeierlichkeiten auf einmal durchzuführen und weshalb die Hochzeit nicht wieder hinausgeschoben wurde, wie schon jahrelang zuvor.
VP: Ich habe lange studiert. Dann war er nicht da, hatte etwas zu tun. Anfang 2013 sind sie dann gekommen und wieder gefahren. Als sie im März 2013 nein 2014 wieder gekommen sind, haben sie für den XXXX Juni die Hochzeit angesetzt.
LA: Warum geben Sie nun für die Hochzeit auf einmal ein anderes Datum an?
VP. Warum, ich habe gesagt, für den XXXX Juni wurde die Hochzeit angesetzt. Ich habe mich vielleicht versprochen.
LA: Warum haben Sie dann erst im Mai 2014 den Entschluss für die Ausreise gefasst?
VP: Ich habe schnell ein Touristenvisum beantragt und bin weggefahren. Nein, den Entschluss habe ich gefasst, als sie gekommen sind und den Termin fixiert haben.
LA: Warum gaben Sie dann in der ersten Einvernahme den Mai 2014 als Datum für Ihre Entschlussentscheidung an?
VP: Schauen Sie, im April kommen sie ....... nein im März kommen sie
und sie haben den Termin für die Hochzeit festgesetzt und das war für mich ein Schock und dann bin ich im Mai weggefahren. Ich musste ja auf das Visum warten."
Auf Vorhalt, dass einer Frau, die einem Tschetschenen versprochen sei, keinesfalls eine Urlaubsreise ins Ausland erlaubt würde, gab die Beschwerdeführerin an, dass sie moderne Menschen und Urlaubsreisen möglich seien. Ihr Vater habe immer gesagt, dass sich die Töchter unterordnen müssten solange sie zu Hause leben würden. Und wenn er es erlaube, gehe es in Ordnung. Die tschetschenische Familie habe lange in Russland gelebt und habe daher nicht die enge Sichtweise wie die Menschen in Tschetschenien. Nur die letzten vier oder fünf Jahre würden sie wieder in Tschetschenien leben. Auf die Frage, warum die Familie auf die Hochzeit bestanden habe, wenn sie nicht so eine enge Sichtweise habe, gab die Beschwerdeführerin an, dass es einfach solche Traditionen gebe, die bleiben würden. Ihr Vater habe auf die Verehelichung bestanden und habe ihre Ausreise nicht verhindert, da er darüber nicht Bescheid gewusst habe. Es stimme schon, dass er ihr den Reisepass hätte abnehmen können, aber sie habe ja ihren Namen am Standesamt [Anm.: durch die Heirat mit dem nunmehrigen Ehemann] ändern und sich einen neuen Reisepass ausstellen lassen. Ihr Vater sei auch kein Diktator. Sie habe eigentlich alles gesagt und wolle nur noch sagen, dass sie die Möglichkeit haben wolle, mit ihrem Mann hier leben zu können.
Auf die Frage, warum sie nicht angegeben habe, dass der tschetschenische Bräutigam sie mit dem Umbringen bedroht habe, gab die Beschwerdeführerin an, sie habe "damals" gesagt, dass sie lieber sterben würde als ihn zu heiraten und er gesagt habe, "wenn du das so willst, dann bringe ich dich um, dann stirb halt." Sie sei mehrmals mit dem Umbringen bedroht worden; nicht nur ein- oder zweimal. Es sei auch nicht ab dem Jahr 2011 gewesen, sondern schon vorher.
Im Zuge dieser Einvernahme legte die Beschwerdeführerin ein Diplom der staatlichen Universität für XXXX in Moskau vom XXXX 10.2012 sowie einen Auszug aus einem Mutter-Kind-Pass, dem der Geburtstermin XXXX 04.2015 zu entnehmen ist, vor.
1.4. Ebenso wurde der Ehemann der Beschwerdeführerin am 08.10.2014 als Zeuge vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen und gab dabei im Wesentlichen an, dass er im Jahr 2001 nach Österreich gekommen sei und nun eine Rot-Weiß-Rot Karte habe. Ende August 2012 habe er die Beschwerdeführerin in der Kirche kennengelernt. Dann sei sie wieder nach Russland gefahren. Er glaube, dass sie im September [2012] geheiratet hätten. Im September oder im November 2013 sei er dann nach Russland zur Beschwerdeführerin gefahren. Die Beschwerdeführerin habe ihn mit ihren Eltern bekannt machen wollen, aber diese hätten nicht mit ihm sprechen wollen. Er habe sich mit der Beschwerdeführerin abseits von ihrem Elternhaus getroffen und sei gemeinsam mit ihr dorthin gegangen. Die Mutter der Beschwerdeführerin habe die Tür aufgemacht und zu ihm gesagt, sie würden nicht mit ihm sprechen wollen. Die Beschwerdeführerin könne ihn nicht heiraten. Daher hätten sie beschlossen, ohne Zustimmung der Eltern zum Standesamt zu gehen.
1.5. Die Beschwerdeführerin wurde am 20.07.2015 neuerlich vom Bundesamt einvernommen, wobei sie eingangs angab, dass sie eine Totgeburt gehabt habe. Nach der Entbindung habe sie mit ihrer Mutter Kontakt gehabt und habe ihr ihre Mutter verziehen. In Österreich sei das Grab ihres Kindes; daher wolle sie nicht weg. Zu den vorab ausgefolgten Länderfeststellungen des Bundesamtes zur Lage in der Russischen Föderation wolle sie keine Stellungnahme abgeben.
Die Beschwerdeführerin legte zwei undatierte Hochzeitsfotos in Kopie sowie ein Geburtenprotokoll einer Totgeburt vom XXXX 01.2015 und die diesbezügliche Urkunde gemäß § 57 Abs. 2 PStG vom XXXX 01.2015 vor.
2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde der Antrag der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.
In seiner Begründung stellte das Bundesamt im Wesentlichen fest, dass die Beschwerdeführerin russische Staatsangehörige sei und der armenischen Volksgruppe sowie dem armenisch apostolischen Glauben angehöre. Die Beschwerdeführerin habe in Russland standesamtlich geheiratet und lebe ihr Gatte mit einer Rot-Weiß-Rot Karte in Österreich. Die Beschwerdeführerin habe keine Kinder und sei gesund. Die von ihr angegebene Zwangsheirat als Grund für das Verlassen des Heimatlandes sei nicht glaubhaft nachvollziehbar. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin einer Verfolgung oder Gefährdung im Herkunftsland ausgesetzt gewesen sei. Sie verfüge im Heimatland über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte und über eine Unterkunftsmöglichkeit in der Wohnung der Eltern. Weiters habe sie ein abgeschlossenes Studium der Rechtswissenschaften und sei aufgrund ihrer guten Ausbildung und ihrer Arbeitsfähigkeit ihr Lebensunterhalt in der Russischen Föderation gewährleistet. Sie habe ihren Gatten bei einem Österreichbesuch im Jahr 2012 kennen gelernt und nach religiösem Recht geheiratet. Mit ihrem Gatten wohne sie im gemeinsamen Haushalt. Die Beschwerdeführerin gehe keiner Arbeit nach, habe keine eigenen Einkünfte und besuche keinen Deutschkurs.
Das Bundesamt traf auf den Seiten 17 bis 32 des angefochtenen Bescheides Länderfeststellungen zur Lage in der Russischen Föderation.
In seiner Beweiswürdigung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass sich die Feststellungen zur Person sowie zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin einerseits aus den vorgelegten Dokumenten und andererseits aus ihren diesbezüglichen Angaben ergeben würden. Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates führte das Bundesamt mit näherer Begründung aus, dass die Beschwerdeführerin eine konkrete, gegen sie gerichtete Verfolgung oder Gefährdung nicht habe glaubhaft machen können. Ihre Angaben zur Zwangsheirat bzw. zur Verfolgungssituation seien zu vage gehalten. Obwohl das Heiratsversprechen den Angaben der Beschwerdeführerin zufolge mehr als "überfällig" gewesen sei, habe sie nicht glaubhaft angeben können, warum nach ihrem Studienabschluss im Jahr 2010 mit der Hochzeit zugewartet hätte werden sollen. Einerseits sei mit der Verehelichung zugewartet worden, andererseits sei die Beschwerdeführerin in jener Zeit mehrmals mit dem Umbringen bedroht worden. Das sei nicht nachvollziehbar. Ferner sei die Beschwerdeführerin auch nicht imstande gewesen, gleichlautende Angaben zu tätigen. Ebenso hätten sich Widersprüche zwischen den Angaben der Beschwerdeführerin und den Angaben ihres Ehegattens betreffend das Streitgespräch der Eltern der Beschwerdeführerin mit ihrem Ehegatten ergeben. Die Beschwerdeführerin verfüge im Heimatland über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte, sei gesund und arbeitsfähig und sei ihr Lebensunterhalt in der Russischen Föderation gewährleistet. Aus den Länderfeststellungen gehe hervor, dass die Grundversorgung in der Russischen Föderation gewährleistet sei. Die Feststellungen zum Herkunftsland würden sich aus den zitierten, unbedenklichen Quellen ergeben.
In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesamt zu Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides aus, dass die Beschwerdeführerin eine Verfolgung ihrer Person oder eine wohlbegründete Furcht vor einer Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Zu Spruchpunkt II. folgerte das Bundesamt, dass im Fall der Beschwerdeführerin von einer Gefährdungslage im Sinne des § 50 FPG nicht ausgegangen werden könne. Auch aus der allgemeinen Lage im Herkunftsland hätte sich eine solche Gefährdung nicht ergeben. Für sonstige Abschiebungshindernisse würden ebenfalls keine Anhaltspunkte vorliegen. Die Behörde sei somit zur Ansicht gelangt, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestünden, dass der Beschwerdeführerin im Fall einer Abschiebung in die Russische Föderation eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK drohe, womit festzustellen sei, dass ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen sei. In rechtlicher Hinsicht wurde zu Spruchpunkt III. ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG nicht gegeben seien. Die familiären Anknüpfungspunkte der Beschwerdeführerin würden sich auf ihren Gatten beschränken. Ihr Aufenthalt in Österreich sei von Anbeginn ungewiss gewesen und sie habe ihren Gatten zu einem Zeitpunkt standesamtlich geheiratet, zu dem sie über keinen Aufenthaltsstatus in Österreich verfügt habe. Sie lebe erst seit kurzem mit ihrem Gatten im gemeinsamen Haushalt und könne ein schützenswertes Familienleben nicht festgestellt werden. Die Verehelichung stelle keine Rechtsverpflichtung auf ein Aufenthaltsrecht dar, da dies einem kontrollierten Einwanderungsrecht entgegenstünde. Die Beschwerdeführerin befinde sich erst seit Juni 2014 in Österreich und könne daher von einer Bindung zu Österreich nicht ausgegangen werden. Daher könne ein ungerechtfertigter Eingriff in das Privatleben der Beschwerdeführerin ausgeschlossen werden und komme daher die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG nicht in Betracht. Da der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt werde, sei diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden. Da keine Gründe gemäß § 50 Abs. 1 bis Abs. 3 FPG ersichtlich seien, sei auszusprechen, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei. Letztlich wurde zu Spruchpunkt IV. in rechtlicher Hinsicht darauf verwiesen, dass die Beschwerdeführerin ab Rechtskraft dieser Rückkehrentscheidung binnen 14 Tagen zur freiwilligen Ausreise verpflichtet sei.
Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Beschwerdeführerin am 22.07.2015 amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
3. Gegen den oben angeführten Bescheid erhob die Beschwerdeführerin am 06.08.2015 fristgerecht Beschwerde wegen Verletzung des Parteiengehörs, unrichtiger Beweiswürdigung, Tatsachenfeststellung und rechtlicher Beurteilung. Begründend wurde ausgeführt, dass sie sich in ihrem Recht auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK verletzt sehe. Die Beschwerdeführerin sei seit 2012 mit ihrem Ehemann verheiratet und lebe mit ihm seit XXXX 05.2014 im gemeinsamen Haushalt. Ihr Ehemann sorge auch in finanzieller Hinsicht für sie. Sie sei schwanger gewesen und besuche ihr totes Kind oft am Friedhof. Außerdem sei sie im Heimatland diskriminiert gewesen und hätte aufgrund einer Zwangsheirat kein selbstbestimmtes Leben führen können.
4. Am 04.04.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Zuhilfenahme einer geeigneten Dolmetscherin für die Sprache Russisch statt, an der die Beschwerdeführerin in Begleitung ihres Ehegatten als Vertrauensperson teilnahm. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist nicht erschienen; das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat sich bereits mit Beschwerdevorlage für die Teilnahme an einer allfälligen Verhandlung entschuldigt und die Abweisung der Beschwerde beantragt. Bereits mit der Ladung wurden den Verfahrensparteien die Länderfeststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur aktuellen Situation in der Russischen Föderation zur Kenntnis gebracht.
Eingangs der Verhandlung gab die Beschwerdeführerin an, dass sie gesund und nicht schwanger sei. Die Beschwerdeführerin habe vor dem Bundesamt die Wahrheit gesagt, ihr seien die Niederschriften rückübersetzt worden und sie habe die jeweiligen Dolmetscher gut verstanden. Sie habe die Geburt ihrer Tochter am XXXX 10.2017 dem Bundesverwaltungsgericht nicht bekannt gegeben, da sie gedacht habe, diese Informationen würden automatisch weitergegeben. Die Geburt sei bei der Bezirkshauptmannschaft XXXX registriert worden. Sowohl die Tochter als auch der Ehegatte der Beschwerdeführerin seien in Besitz einer Rot-Weiß-Rot Karte. Der Ehegatte der Beschwerdeführerin sei unbefristet aufenthaltsberechtigt. Die Beschwerdeführerin sei russische Staatsangehörige, gehöre der armenischen Volksgruppe an und sei eine armenisch-orthodoxe Christin. Wegen ihrer Religion habe sie in der Russischen Föderation keine Probleme gehabt. Weil sie Armenierin sei, sei sie von den Leuten, mit denen sie gemeinsam ihre Ausbildung gemacht habe, beschimpft worden. Von staatlicher Seite sei sie zwar nicht beschimpft worden, man habe sie jedoch grob behandelt, was unangenehm gewesen sei. Zu den vorab übermittelten Länderfeststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes gab die Beschwerdeführerin an, dass sie hierzu keine Stellungnahme abgeben wolle.
Zu ihren Wohnorten, zu ihren Familienangehörigen und zu ihrem Leben in der Russischen Föderation gab die Beschwerdeführerin an, dass ihre Familie aus den Eltern, zwei Schwestern und einem Bruder bestehe. Die Beschwerdeführerin sei in Armenien geboren und habe dort eine Zeit lang gelebt. Als sie 17 oder 18 Jahre alt gewesen sei, sei die Familie in die Russische Föderation, nach XXXX im Gebiet XXXX , gezogen. Ihre Eltern würden immer noch dort in einem Eigentumshaus leben. Ihre beiden Schwestern seien in XXXX und ihr Bruder wohne in Moskau. Vor ca. drei oder vier Monaten habe sie zuletzt mit ihrer Mutter gesprochen. Sie habe nur selten Kontakt. In der Russischen Föderation habe die Beschwerdeführerin die Schule abgeschlossen, eine Berufsausbildung gemacht und gearbeitet. Sie sei Juristin. Ihre diesbezüglichen Diplome habe sie dem Bundesamt vorgelegt. In der Russischen Föderation habe sie drei oder vier Jahre als Direktorin eines großen Supermarktes gearbeitet und gut verdient. Vorher habe sie noch andere Jobs gemacht und zwar vorwiegend als Verkäuferin.
Zu ihrer Integration brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie in Österreich verheiratet sei und eine minderjährige Tochter habe. Sie lege ihre Heiratsurkunde samt beglaubigter Übersetzung vor (vgl. Beilage ./1). Die Beschwerdeführerin habe an der Universität Wien Deutschkurse bis zum Niveau B2 absolviert. Die Prüfung von B2 habe sie jedoch noch nicht gemacht. Vor der Geburt ihres Kindes habe sie öfter versucht, ihre Selbsterhaltungsfähigkeit herzustellen und sie habe auch immer wieder Jobangebote bekommen. Auch hätten ihre potenziellen Arbeitgeber beim AMS um eine Arbeitsbewilligung für die Beschwerdeführerin angesucht, was jedoch ohne Erfolg geblieben sei. Man hätte sie in einer Küche als Helferin genommen und sie habe auch einen Probemonat bei einer Versicherungsagentur gemacht. Auch diese Versicherungsagentur hätte die Beschwerdeführerin gerne eingestellt, was jedoch nicht gegangen sei, weil sie keine Aufenthaltsbewilligung habe. Sobald sie eine Betreuung für ihr Kind habe, würde sie sofort arbeiten gehen. Auch würde die Beschwerdeführerin gerne juristisch arbeiten. Aus diesem Grund habe sie auch sofort begonnen Deutsch an der Universität zu lernen, obwohl die Prüfungen dort vergleichsweise schwerer sind. Neben ihrer Schwiegerfamilie habe die Beschwerdeführerin viele Freunde in Österreich. Sie sei legal mit einem Schengen-Visum in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Es gefalle ihr in Österreich. Sie möge das Leben der Menschen hier und auch die Art, wie die Menschen miteinander leben. Auch sei ihr totgeborenes Kind in Österreich bestattet.
Zu ihren Reisebewegungen und zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die Beschwerdeführerin zunächst an, sie sei im Mai 2014 mit einem Schengen-Visum nach Spanien und von dort aus weiter nach Österreich geflogen. Ferner brachte sie im Wesentlichen und zusammengefasst vor, dass ihr Vater entschieden habe, die Beschwerdeführerin zu verheiraten. Dieser Mann habe ihr nicht gefallen, aber sie habe sich der Entscheidung ihres Vaters nicht widersetzen wollen. Dann sei sie nach Österreich gekommen, habe ihren Mann kennengelernt und "spontan" geheiratet. Sie hätten sich im August kennengelernt und sich Ende September 2012 dazu entschlossen, in der Kirche zu heiraten. Sie habe sich gedacht, so könne sie sich der Entscheidung ihres Vaters widersetzen. Als sie im November 2012 nach Hause zurückgekehrt sei, habe sie "das" nur ihrer Mutter erzählt. Im November 2013 sei dann ihr Mann zu ihr in die Russische Föderation gefahren, um ihre Eltern kennenzulernen. Er sei auch zu ihr nach Hause gekommen, aber ihre Eltern hätten ihren Mann nicht empfangen wollen. Danach sei er zurück ins Hotel gefahren und sie hätten telefonisch vereinbart, "aufs Ganze" zu gehen. Am XXXX 11.2013 hätten sie dann am Standesamt ihrer Heimatstadt die Ehe registrieren lassen. Davon habe die Beschwerdeführerin niemandem etwas gesagt. Sie habe dann ihre Dokumente vorbereiten wollen, um eine Rot-Weiß-Rot Karte zu beantragen. Allerdings habe sie im März 2014 erfahren, dass sie keine Zeit mehr habe und habe daher nur die Dokumente für ein Touristenvisum eingereicht. Zwischen November 2013 und März 2014 habe sie in ihrem Elternhaus gewohnt. Ihr Mann sei nach der Hochzeit wieder zurück nach Österreich gefahren. Der Mann, mit dem sie ihr Vater habe verheiraten wollen, stamme aus einer sehr strengen Familie, die auf Traditionen achte. Diese Familie habe lange in Russland gelebt und sei im Jahr 2011 nach Tschetschenien gezogen. Dieser Mann sei Tschetschene, Söldner und sehr grob. Die beiden Väter seien gemeinsam in der Armee gewesen und hätten als junge Männer vereinbart, dass ihre Kinder heiraten würden, wenn sie einmal Kinder bekommen sollten. Die Väter seien auch nach Ende der Sowjetunion Freunde geblieben. Als die Beschwerdeführerin 13 oder 14 Jahre alt gewesen und die Hochzeit beschlossen worden sei, sei ihre Mutter dagegen gewesen. Sie habe es zunächst nicht ernst genommen. Aber dann seien alle einverstanden gewesen. Das sei ca. 1995 oder 1996 gewesen. Dann sei die Hochzeit konkret geplant und auch das Datum festgelegt worden. Dies sei bereits 2014 gewesen. "Die Leute" seien gekommen und hätten gesagt, dass alles für die Hochzeit vorbereitet sei. Auf Vorhalt, dass es unlogisch sei, dass die Hochzeit 1996 geplant werde und erst 18 Jahre später stattfinden solle, gab die Beschwerdeführerin an, sie sei "damals" dem Mann versprochen worden. Man habe nur geplant, dass die Hochzeit stattfinde. Voraussetzung sei nur, dass sie volljährig sei. Auf Vorhalt, sie sei im Jahr 2000 volljährig geworden, brachte die Beschwerdeführerin vor, dass es Probleme gegeben habe. Als sie für die Hochzeit bereit gewesen sei, sei er kämpfen gegangen. Sie hätten vereinbart, dass die Beschwerdeführerin in der Zwischenzeit eine Ausbildung mache. Danach - glaube sie - habe auch er nicht wirklich gewollt, weil er "es" auch so in die Länge gezogen habe. Dann habe ihre Familie finanzielle Probleme gehabt und habe aus diesem Grund auch ihre Ausbildung länger gedauert. Die Beschwerdeführerin glaube, dass er "es" auch nicht so wirklich gewollt habe, da die Familie einverstanden gewesen sei, als sie gesagt hätten, dass "es" jetzt nicht passe. Letztlich sei jedoch ein Termin für die Hochzeit festgelegt worden. Sie glaube, es wäre in der zweiten Junihälfte 2014 gewesen. Auf Vorhalt, dass sie damals schon verheiratet gewesen sei, gab die Beschwerdeführerin an, dass nur ihre Mutter gewusst habe, dass sie hier alleine in der Kirche geheiratet habe. Auf weiteren Vorhalt, sie habe am XXXX 11.2013 in ihrem Heimatort standesamtlich geheiratet, brachte die Beschwerdeführerin vor, das habe niemand gewusst. Auf weiteren Vorhalt, dass sie gar nicht hätte heiraten können, da sie ja schon verheiratet gewesen sei, gab sie an, sie habe deshalb heimlich die Ehe geschlossen. Sie habe sich gedacht, sie könne die Heiratsurkunde herzeigen, wenn man sie zur Ehe zwingen wolle. Sie habe die Heiratsurkunde auch ihren Eltern zeigen wollen, habe jedoch Angst vor ihrem Vater gehabt. Sie habe nicht gleich gesagt, dass sie schon verheiratet sei, weil sie Angst vor der Reaktion ihrer Familie gehabt habe. Auch habe sie Angst gehabt, dass man sie zur Scheidung zwingen wolle. Sie habe auch nicht gewollt, dass die tschetschenische Seite "das" erfahre. Auf Vorhalt, spätestens am Standesamt hätte man gesehen, dass sie verheiratet sei, zumal sie den Namen ihres Mannes angenommen habe, brachte die Beschwerdeführerin vor, das habe niemand gewusst. Sie habe nicht vorgehabt, zum Standesamt zu gehen. Natürlich hätte sie hingehen und sagen können, dass sie bereits verheiratet sei, aber sie habe Angst gehabt, ihr Vater würde sie zusammenschlagen oder, dass man ihren Mann "dorthin zitieren" und eine Scheidung erzwingen wolle. Auf Vorhalt, dass ihr Mann in Österreich gewesen sei, gab die Beschwerdeführerin an, man hätte ihr sagen können, dass sie ihn "her zitieren" solle. Zur Polizei sei sie nicht gegangen, weil es nicht geholfen und sie Schande über ihre Familie gebracht hätte. Dass sie ausgereist sei, habe zwar auch "Schande" über ihre Familie gebracht, aber das sei sozusagen endgültig gewesen. Den Tschetschenen habe sie zwischen 1996 und 2004 "nicht so oft" gesehen. Manchmal hätten sich die Familien besucht. Die Frage nach unangenehmen Vorfällen verneinte die Beschwerdeführerin und führte aus, dass das Leben schwieriger geworden sei.
Am Ende der Verhandlung gab die Beschwerdeführerin an, dass sie überall leben könne. In Österreich seien jedoch ihr Mann und ihr Kind. Auch habe sie das Lebensniveau hier und bei sich zu Hause verglichen und wolle daher hierbleiben. Vielleicht könnte sie im zentralen Teil der Russischen Föderation leben. In anderen Gebieten sei das Leben noch schwieriger. Auf die Frage, ob die Beschwerdeführerin in Moskau oder in St. Petersburg leben könnte, gab sie an: "Ja, sicher. Ich weiß nicht, wie das jetzt mit der Arbeit dort ausschaut. Aber wenn jemand arbeiten will, findet er überall Arbeit." Sie wolle mit ihrem Mann und mit ihrem Kind ein ruhiges Leben führen.
5. Nach Aufforderung durch das Bundesverwaltungsgericht legte die Beschwerdeführerin mit E-Mail vom 20.04.2018 folgende Unterlagen vor:
* Zeugnis "A1/2 - A2/2 Semester Deutsch" des Innovationszentrums der Universität Wien vom XXXX 01.2016 mit der Note "Gut" und dem Vermerk, dass "Die in dieser/n Kursstufen erworbenen Kenntnisse entsprechen dem Niveau 'A2' des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen";
* Zeugnis "B1/1 - B2/1 Semester Deutsch" vom XXXX 06.2016, nicht benotet sowie
* Kursanmeldungen für "A1/2 - A2/2", für "B1/1 - B2/1", für "Grammatik B1-B2" und für "B2/2-Prüfungsvorbereitung"
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
1.1.1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, Zugehörige der armenischen Volksgruppe und armenisch-orthodoxe Christin. Sie wurde im - damals zur Sowjetunion gehörenden - heutigen Armenien geboren und ist im Alter von ca. 17 oder 18 Jahren mit ihrer Familie in die Russische Föderation nach XXXX im Gebiet XXXX gezogen, wo sie bis zu ihrer Ausreise in ihrem Elternhaus gelebt hat. Die Beschwerdeführerin hat die Russische Föderation im Mai 2014 verlassen und ist legal mit ihrem eigenen Auslandsreisepass mit einem spanischen Visum nach Barcelona und von dort aus weiter nach Wien geflogen. Sie stellte am 30.06.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Die Eltern der Beschwerdeführerin leben in ihrem eigenen Eigentumshaus in XXXX . Darüber hinaus leben noch ihre drei Geschwister - zwei Schwestern und ein Bruder - im Gebiet der Russischen Föderation und zwar in XXXX bzw. in Moskau. Mit ihrer Mutter steht die Beschwerdeführerin in sporadischem Kontakt.
1.1.2. Nicht als Sachverhalt zugrunde gelegt werden sämtliche Angaben der Beschwerdeführerin zur behaupteten Bedrohungssituation in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation. Insbesondere wird nicht festgestellt, dass die Beschwerdeführerin einer konkreten Verfolgung bzw. Bedrohung von Seiten einer tschetschenischen Familie bzw. von Seiten ihres Vaters ausgesetzt ist, die asylrelevante Intensität erreicht und gegen die sie vom russischen Staat nicht geschützt werden kann. In diesem Zusammenhang wird insbesondere nicht festgestellt, dass die Beschwerdeführerin einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt ist, weil sie sich durch die Eheschließung mit einem in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigten armenischen Staatsangehörigen einer drohenden Zwangsheirat mit dem Sohn eines Freundes ihres Vaters widersetzt hat. Die Beschwerdeführerin hat mit ihrem Vorbringen keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht.
Nicht festgestellt wird, dass die Beschwerdeführerin im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation aus Gründen ihrer Zugehörigkeit zur armenischen Volksgruppe und/oder aus Gründen ihres armenisch-orthodoxen christlichen Glaubens einer asylrelevanten Gefährdung ausgesetzt wäre. Ebenso wenig wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr in die Russische Föderation aus sonstigen, in ihrer Person gelegenen Gründen (etwa wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Gesinnung) einer asylrelevanten Gefährdung ausgesetzt wäre. Auch eine drohende asylrelevante Verfolgung aus anderen Gründen ist nicht hervorgekommen und zwar weder aufgrund des Vorbringens der Beschwerdeführerin noch aus amtswegiger Wahrnehmung.
1.1.3. Die Beschwerdeführerin ist gesund bzw. steht aktuell nicht in medizinischer Behandlung.
Die Beschwerdeführerin verfügt über eine gesicherte Existenzgrundlage in der Russischen Föderation. In ihrer Heimatstadt XXXX leben noch ihre Eltern in einem Eigentumshaus. Darüber hinaus leben noch ihre drei Geschwister (zwei Schwestern, ein Bruder) auf dem Gebiet der Russischen Föderation. Die Beschwerdeführerin hat von 1988 bis 1999 die Schule und von 2000 bis 2011 die Universität in Moskau besucht. Sie ist Juristin und hat in der Russischen Föderation zuletzt ca. drei oder vier Jahre als Direktorin eines großen Supermarktes gearbeitet. Bevor sie mit dieser Tätigkeit begonnen hat, war sie ebenfalls berufstätig und zwar in erster Linie als Verkäuferin. Festgestellt wird sohin, dass die Beschwerdeführerin über eine abgeschlossene Berufsausbildung sowie berufliche Erfahrung verfügt und arbeitsfähig ist sowie, dass sie im Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation ein familiäres- bzw. soziales Netz vorfinden und sohin nicht in eine existenzgefährdende Lage geraten würde.
Nicht festgestellt wird, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für die Beschwerdeführerin als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.
1.1.4. Die Beschwerdeführerin lernte bei einem Urlaub in Österreich im Sommer 2012 den armenischen Staatsangehörigen XXXX kennen und begann mit ihm eine partnerschaftliche Beziehung. Herr XXXX lebt bereits seit dem Jahr 2001 in Österreich, ist hier dauerhaft aufenthaltsberechtigt und in Besitz einer Rot-Weiß-Rot Karte plus. Noch während ihres ersten Aufenthalts in Österreich wurden die Beschwerdeführerin und Herr XXXX am XXXX 09.2012 nach dem Ritus der armenisch apostolischen Kirchengemeinde getraut. Die staatliche Eheschließung erfolgte am XXXX 11.2013 am Standesamt in XXXX . Die Beschwerdeführerin lebt seit ihrer zweiten Einreise in das österreichische Bundesgebiet mit ihrem Ehegatten im gemeinsamen Haushalt. Am XXXX 10.2017 wurde in Österreich die gemeinsame Tochter der Beschwerdeführerin und ihres Ehegatten geboren, die ebenfalls in Besitz einer Rot-Weiß-Rot Karte plus dauerhaft im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt ist. Festgestellt wird, dass die Beschwerdeführerin mit ihrem Ehegatten und ihrer Tochter ein aufrechtes Familienleben führt und auch einen sehr guten Kontakt zu ihrer Schwiegerfamilie hat. Weiters verfügt die Beschwerdeführerin über Freunde und Bekannte im Bundesgebiet. Die Beschwerdeführerin spricht sehr gut Deutsch, kann sich im Alltag sowohl schriftlich als auch mündlich problemlos verständigen und hat jedenfalls die Niveaustufe A2 in Deutsch erlangt. Derzeit ist die Beschwerdeführerin zwar nicht selbsterhaltungsfähig, hat jedoch vor der Geburt ihrer Tochter mehrfach versucht, ihre Selbsterhaltungsfähigkeit zu erlangen. Sie hat bereits mehrere Arbeitsangebote erhalten und auch ein Probemonat bei einer Versicherungsagentur gemacht. Die Beschwerdeführerin ist strafrechtlich unbescholten.
Weiters wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gegen die Beschwerdeführerin aufgrund ihres bestehenden, aufrechten Familienlebens zu ihrem in Österreich aufenthaltsberechtigten Ehemann und der gemeinsamen, ebenfalls in Österreich aufenthaltsberechtigten Tochter sowie aufgrund der von ihr gesetzten Integrationsbemühungen einen ungerechtfertigten Eingriff in ihr Familien- und Privatleben darstellt. Darüber hinaus wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin die Voraussetzungen für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" erfüllt.
1.2. Zur Situation in der Russischen Föderation wird festgestellt:
1.2.1. Politische Lage:
Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).
Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).
Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).
Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,
http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE /Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017;
* CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017;
EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_ easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017;
* GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c 24819, Zugriff 21.6.2017;
* GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017;
* Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,
https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017;
* RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,
http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017 und
* Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,
http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017
1.2.2. Sicherheitslage:
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).
Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).
Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS - v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund