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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AVG §17Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn und die Hofrätin Dr. Büsser sowie die Hofräte MMag. Maislinger, Mag. Novak und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Tiefenböck, über die Revision des Finanzamts Feldkirch in 6800 Feldkirch, Reichsstraße 154, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 15. März 2017, Zl. RV/1100662/2016, betreffend Antrag auf Akteneinsicht (mitbeteiligte Partei: M AG in R/L, vertreten durch Dr. Wilhelm Klagian, Rechtsanwalt in FL-9491 Ruggell, Industriering 3), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Die Mitbeteiligte ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz im Fürstentum Liechtenstein. Sie ist (durch Verschmelzung) Rechtsnachfolgerin einer österreichischen GmbH (in der Folge als X GmbH bezeichnet). A war sowohl Gesellschafter als auch Geschäftsführer der X GmbH (und auch Mitglied des Verwaltungsrates der Mitbeteiligten). Steuerliche Konsequenzen aus (behaupteten) Leistungen zwischen der X FL und der X GmbH sind strittig; zum Sachverhalt und zu den Rechtsfragen wird auf das Erkenntnis vom 19. April 2018, Ra 2017/15/0041 (betreffend Körperschaftsteuer 2005 bis 2008), verwiesen.
2 Mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2014 beantragten die X GmbH und A Akteneinsicht. Sie führten dazu insbesondere aus, seit der letzten Akteneinsicht am 26. Mai 2014 sei fast ein halbes Jahr verstrichen; der im Akt erliegende Entwurf einer Beschwerdevorentscheidung vom 31. März 2014 sei bislang nicht versandt worden. Geltend gemacht wurde, dass Einsicht insbesondere auch in den Schriftverkehr der Behörde "intern und mit anderen Dienststellen" zu gewähren sei, soweit ein abgabenrechtlich bedeutsamer Inhalt vorliege, wovon jedenfalls dann auszugehen sei, wenn diese Schriftstücke Rückschluss auf das Vorliegen finanzstrafrechtlich relevanten Verschuldens zuließen oder daraus eine Befangenheit von Organwaltern abzuleiten wäre.
3 Am 4. Februar 2015 wurde am Finanzamt eine Niederschrift aufgenommen. Demnach sei der Vertreter der X GmbH und des A in Angelegenheit der Akteneinsicht erschienen. Der Vertreter der X GmbH und des A habe eine Erklärung zur Akteneinsicht übergeben (die zum Bestandteil der Niederschrift erklärt werde). Nach Ansicht des Finanzamts seien folgende (sodann im Einzelnen aufgezählte) Aktenteile von der Akteneinsicht ausgenommen: mehrere E-Mails zwischen Amtsvorstand und Fachvorstand betreffend Ausarbeitung einer Beschwerdevorentscheidung in Sachen X GmbH und A; mehrere E-Mails zwischen Fachvorstand und Organen der Großbetriebsprüfung - welche in die Außenprüfung der genannten Abgabepflichtigen involviert gewesen seien - betreffend die abgabenrechtliche Beurteilung der relevanten Sachverhalte und Klärung der Frage, inwieweit eine Verjährung eingetreten sei; E-Mail-Verkehr zwischen Amtsvorstand und bundesweitem Fachbereich ESt/KöSt und dem BMF betreffend Ausarbeitung der Beschwerdevorentscheidungen in Sachen X GmbH und A. Bei diesen Unterlagen handle es sich um innerbehördliche Amtsvorgänge; ein abgabenrechtliches Interesse des Abgabepflichtigen am Inhalt dieser Schriftstücke sei nicht erkennbar.
4 Mit Bescheid vom 30. September 2016 wies das Finanzamt den Antrag der Mitbeteiligten betreffend Akteneinsicht ab. Begründend führte das Finanzamt aus, nach der Rechtsprechung des unabhängigen Finanzsenats seien Schriftstücke, mit denen innerbehördliche Amtsvorgänge aufgezeichnet und festgehalten würden, nach § 90 Abs. 2 BAO von der Einsicht- und Abschriftnahme unbedingt ausgeschlossen. Dieser Ausschluss gelte ohne Rücksicht auf ihren Inhalt und ohne Rücksicht darauf, ob durch die Kenntnisnahme öffentliche Interessen oder Interessen privater Dritter berührt oder beeinträchtigt werden könnten oder nicht. Amtsvorträge seien Berichte an vorgesetzte Organwalter innerhalb des Amtes oder Berichte an übergeordnete Behörden. Das Finanzamt schließe sich dieser Rechtsansicht an. Von der Akteneinsicht ausgenommen seien daher die anlässlich der Niederschrift vom 4. Februar 2015 angeführten Aktenteile.
5 Die Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. 6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde Folge und hob den Bescheid des Finanzamts ersatzlos auf. Das Bundesfinanzgericht sprach aus, dem Antrag vom 2. Dezember 2014 sei zu entsprechen. Die von der Akteneinsicht ausgenommenen, auf Seite 5 des angefochtenen Bescheides angeführten Aktenstücke seien für eine Akteneinsicht freizugeben.
7 Das Bundesfinanzgericht erklärte eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig.
8 Begründend führte das Bundesfinanzgericht im Wesentlichen aus, § 90 BAO solle zumindest nach Beendigung des Abgabenverfahrens einem Abgabepflichtigen die Möglichkeit bieten, alle Bezug habenden Aktenteile einzusehen und im Hinblick auf deren Relevanz (somit auch im Hinblick auf deren Irrelevanz) für ein Amtshaftungsverfahren zu prüfen. Dieses Anliegen habe die Mitbeteiligte mehrfach vorgetragen. Ein Zusammenhang zwischen "Verfahrensverzögerungen" und Amtshaftungsansprüchen sei grundsätzlich möglich. Dies müsse umso mehr auch für alle inhaltlichen amtlichen Verfahrensbeeinflussungen gelten. Das Begehren könne deshalb nicht zuletzt im Hinblick auf den auch im Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 21. Februar 2017 (vgl. hiezu VwGH 19.4.2018, Ra 2017/15/0041) dargestellten Verfahrensgang nicht als von Vornherein abwegig bezeichnet werden. Aus diesen Gründen komme dem Antrag der Mitbeteiligten auf Akteneinsicht Berechtigung zu.
9 Zum Umfang des Rechtes auf Akteneinsicht gemäß § 90 BAO gebe es keine höchstgerichtliche Judikatur, die auf die Novellierung des Art. 20 Abs. 3 B-VG Bezug nehme. Der Standpunkt des Finanzamts könne sich auf nach der Novellierung von Art. 20 Abs. 3 B-VG durch BGBl. Nr. 285/1987 ergangene höchstgerichtliche Judikatur (Hinweis auf VwGH 25.6.1992, 91/16/0057) sowie auf Literaturmeinungen stützen. Im Hinblick darauf könne der Rechtsfrage eine grundsätzliche Bedeutung nicht abgesprochen werden.
10 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision des Finanzamts. Die Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung eingebracht.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
12 Die Revision ist aus den im angefochtenen Erkenntnis angeführten Gründen zulässig, sie ist auch begründet.
13 § 90 BAO lautete in der Stammfassung (BGBl. Nr. 194/1961):
"§ 90. (1) Die Abgabenbehörde hat den Parteien die Einsicht und Abschriftnahme der Akten oder Aktenteile zu gestatten, deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer abgabenrechtlichen Interessen oder zur Erfüllung abgabenrechtlicher Pflichten erforderlich ist.
(2) Von der Akteneinsicht ausgenommen sind Beratungsprotokolle, Amtsvorträge, Erledigungsentwürfe und sonstige Schriftstücke (Mitteilungen anderer Behörden Meldungen, Berichte und dergleichen), deren Einsichtnahme eine Schädigung berechtigter Interessen dritter Personen herbeiführen würde.
(3) Gegen die Verweigerung der Akteneinsicht ist ein abgesondertes Rechtsmittel nicht zulässig."
14 In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur Stammfassung der BAO (228 BlgNR 9. GP 59) wurde hiezu ausgeführt, diese Bestimmung entspreche jener des AVG (die in der Regierungsvorlage - abweichend von § 17 AVG - noch vorgesehene Einschränkung der Akteneinsicht auf das Rechtsmittelverfahren entfiel in den Beratungen im Finanz- und Budgetausschuss, vgl. 456 BlgNR 9. GP 6).
15 Mit BGBl. I Nr. 164/1999 wurde dem § 90 Abs. 1 BAO folgender Satz angefügt:
"Blinden oder hochgradig sehbehinderten Parteien, die nicht durch Vertreter (§§ 80 ff) vertreten sind, ist auf Verlangen der Inhalt von Akten und Aktenteilen durch Verlesung oder nach Maßgabe der vorhandenen technischen Möglichkeiten in sonst geeigneter Weise zur Kenntnis zu bringen."
16 Eingangs ist zunächst auf die Chronologie zu verweisen. Die Bescheide des Finanzamts betreffend Körperschaftsteuer 2005 bis 2008 stammen vom Oktober 2012. Dagegen erhob die Mitbeteiligte Berufung. Der Antrag auf Akteneinsicht stammt vom Dezember 2014; die Niederschrift über die Akteneinsicht datiert vom 4. Februar 2015. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 14. April 2015 entschied das Finanzamt über die Berufung der Mitbeteiligten (betreffend Körperschaftsteuer 2005 bis 2008); Ausführungen zur begehrten Akteneinsicht enthält diese Beschwerdevorentscheidung nicht. Die Mitbeteiligte beantragte die Vorlage der Berufung (nunmehr Beschwerde) an das Bundesfinanzgericht; mit Vorlagebericht vom 3. Juni 2016 legte das Finanzamt die Verfahrensakten dem Bundesfinanzgericht vor. Mit Bescheid vom 3. November 2016 entschied schließlich das Finanzamt über die begehrte Akteneinsicht. Das Bundesfinanzgericht entschied über die Beschwerde betreffend Körperschaftsteuer 2005 bis 2008 mit Erkenntnis vom 21. Februar 2017 (auf die begehrte Akteneinsicht ging das Bundesfinanzgericht in jenem Erkenntnis nicht ein). Das hier angefochtene Erkenntnis (betreffend Akteneinsicht) datiert mit 15. März 2017.
17 Das Recht auf Akteneinsicht stellt ein wesentliches prozessuales Recht der Partei des Verwaltungsverfahrens dar. Wird die Akteneinsicht verweigert, so ist (spätestens) in der Begründung des das Verfahren abschließenden Bescheides nachvollziehbar darzulegen, welche Aktenteile davon betroffen sind und welche Umstände dies im konkreten Fall rechtfertigen (vgl. VwGH 11.5.2010, 2008/22/0284; 11.5.2016, 2013/02/0094, mwN). Eine unbegründete Verweigerung der Akteneinsicht wird im Allgemeinen - schon als Begründungsmangel - einen Verfahrensmangel betreffend die Sachentscheidung bewirken. Der Verfahrensmangel der nicht gewährten Akteneinsicht könnte aber dadurch heilen, dass im weiteren Verfahren - auch im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht -
Akteneinsicht gewährt wird (vgl. zB VwGH 19.3.1998, 96/15/0005, insoweit zum Parteiengehör; das Recht auf Akteneinsicht steht in engstem Zusammenhang mit dem Recht auf Gehör, vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG2, § 17 Tz 1; VwGH 7.10.2010, 2006/17/0123, VwSlg. 17973/A).
18 Gegen nur das Verfahren betreffende Verfügungen ist nach § 244 BAO ein abgesondertes Rechtsmittel nicht zulässig. Sie können erst in der Bescheidbeschwerde gegen den die Angelegenheit abschließenden Bescheid angefochten werden. § 90 Abs. 3 BAO sieht - in Übereinstimmung mit dieser Regelung - ebenfalls vor, dass gegen die Verweigerung der Akteneinsicht ein abgesondertes Rechtsmittel nicht zulässig ist (vgl. etwa Ritz, BAO6, § 244 Tz 1).
19 § 244 BAO sieht eine Bekämpfung der verfahrensleitenden Verfügung in der Bescheidbeschwerde gegen den die Angelegenheit abschließenden Bescheid vor. Erweist sich die verfahrensleitende Verfügung als rechtswidrig, so ist der die Angelegenheit abschließende Bescheid mit einem Verfahrensmangel behaftet (vgl. Ritz, BAO6, § 244 Tz 6). Ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Finanzamts über die Akteneinsicht ein Rechtsmittelverfahren in der Hauptsache anhängig, so ist das Begehren auf Akteneinsicht im Rahmen dieses Rechtsmittelverfahrens in der Hauptsache zu behandeln (vgl. - diese Frage zu § 17 Abs. 4 AVG noch offen lassend - VwGH 1.9.2010, 2009/17/0153).
20 Der Bescheid des Finanzamts, mit dem die Akteneinsicht verweigert wurde, unterlag entgegen der Rechtsmittelbelehrung des Finanzamts keiner abgesonderten Bekämpfung. Die dagegen erhobene "Beschwerde" war als ergänzender Schriftsatz (Geltendmachung eines weiteren Mangels der Entscheidung in der Hauptsache) im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens in der Hauptsache zu behandeln. Eine gesonderte Entscheidung über diese "Beschwerde" schied aus.
21 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
22 Für das in der Hauptsache wieder offene Verfahren (vgl. hiezu das Erkenntnis vom 19. April 2018, Ra 2017/15/0041) ist zum Revisionsvorbringen in diesem Verfahren zu bemerken:
23 Die Revision macht zunächst geltend, es liege kein abgabenrechtliches Interesse der Mitbeteiligten an der Akteneinsicht vor.
24 Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 30. März 1998, 97/16/0471, VwSlg. 7266/F, ausgesprochen, es sei eine einen Gleichklang mit § 17 Abs. 1 AVG bewirkende Interpretation des § 90 Abs. 1 BAO geboten. Es sei kein Grund für eine Privilegierung der Finanzverwaltung gegenüber der allgemeinen staatlichen Verwaltung erkennbar, wenn man davon ausgehe, dass die Akteneinsicht den typischen Weg zur Informationsaufnahme zwecks Stellung von Sachbehauptungen für eine Amtshaftungsklage darstelle.
25 Der Verwaltungsgerichtshof verwies darauf, dass die damalige (auch die jetzt aktuelle) Fassung des § 17 Abs. 1 AVG die Einschränkung, "deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer Interessen erforderlich ist", nicht mehr vorsieht. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur Änderung des AVG (BGBl. Nr. 199/1982, 160 BlgNR 15. GP 7) war dazu ausgeführt worden, diese Beschränkung könne als verzichtbar angesehen werden. Es sei dies eine Frage, die nicht der Beurteilung durch die Behörde obliegen solle. Die Partei solle vielmehr das Recht haben, die Akten und Aktenteile, die sich auf ihre Sache beziehen, unabhängig davon, ob ihre Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist oder nicht - in der Regel werde diese Voraussetzung ohnehin gegeben sein - einzusehen. Ausnahmen regle der mit dem ursprünglichen Abs. 2 vergleichbare nunmehrige Abs. 4.
26 Der Verwaltungsgerichtshof kam im angeführten Erkenntnis abschließend zum Ergebnis, dem Begehren auf Akteneinsicht der Verfahrenspartei sei somit, wenn es ihre Sache betreffe, abgesehen von der Einengung gemäß § 90 Abs. 2 BAO, unbeschränkt zu entsprechen.
27 Damit kommt es aber für die Berechtigung des Antrags auf Akteneinsicht auf ein gesondertes abgabenrechtliches Interesse der Partei nicht an (vgl. auch - zu § 17 AVG - das Erkenntnis eines verstärkten Senats vom 22. Oktober 2013, 2012/10/0002, VwSlg. 18722/A; demnach kommt das Recht auf Akteneinsicht den Parteien eines anhängigen oder abgeschlossenen Verfahrens - unter den sonstigen Beschränkungen - unabhängig davon zu, zu welchem Zweck sie die Akteneinsicht begehrt haben; vgl. bereits VwGH 21.2.2005, 2004/17/0173).
28 Weiters macht die Revision geltend, die im Bescheid des Finanzamts angeführten Aktenbestandteile seien von der Akteneinsicht ausgenommen.
29 Strittig ist insoweit, ob sich der Relativsatz in § 90 Abs. 2 BAO ("deren Einsichtnahme eine Schädigung berechtigter Interessen dritter Personen herbeiführen würde") nur auf die unmittelbar zuvor genannten sonstigen Schriftstücke oder auch auf Beratungsprotokolle, Amtsvorträge und Erledigungsentwürfe bezieht.
30 Diese Regelung soll nach den (bereits zitierten) Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur Stammfassung der BAO der (damaligen) Fassung des § 17 AVG entsprechen. § 17 Abs. 2 AVG (in der damaligen Fassung) stellte freilich nicht nur auf eine mögliche Schädigung berechtigter Interessen dritter Personen ab, sondern auch auf eine Gefährdung der Aufgaben der Behörde oder eine Beeinträchtigung des Zwecks des Verfahrens.
31 Mit BGBl. Nr. 199/1982 wurde § 17 AVG abgeändert. Wie in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (160 BlgNR 15. GP 7) angeführt, regle Ausnahmen nunmehr der mit dem ursprünglichen Abs. 2 des § 17 vergleichbare Abs. 4. Diese in der Regierungsvorlage in Abs. 4 enthaltene, im Gesetz sodann in Abs. 3 aufgenommene Bestimmung lautete nunmehr:
"Von der Akteneinsicht sind Beratungsprotokolle, Amtsvorträge und Erledigungsentwürfe ausgenommen. Sonstige Aktenbestandteile (Mitteilungen anderer Behörden, Meldungen, Berichte und dergleichen) sind von der Akteneinsicht ausgenommen, insoweit deren Einsichtnahme eine Schädigung berechtigter Interessen einer Partei oder dritter Personen oder eine Gefährdung der Aufgaben der Behörden herbeiführen oder den Zweck des Verfahrens beeinträchtigen würde."
32 Der Verwaltungsgerichtshof hat zu § 90 Abs. 2 BAO bereits ausgesprochen, dass bei den erstangeführten Schriftstücken (Beratungsprotokolle, Amtsvorträge, Erledigungsentwürfe) die Ausschließung eine unbedingte ist, bei den "sonstigen Schriftstücken" die Ausnahme hingegen als relative zu verstehen ist (vgl. VwGH 25.6.1992, 91/16/0057; ebenso Arnold, AnwBl. 1980, 449 f: "(...) eine - verfassungsrechtlich unbedenkliche - absolute Ausnahme von der Akteneinsicht im Hinblick auf Beratungsprotokolle, Amtsvorträge und E(r)ledigungsentwürfe
(...)").
33 Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich nicht veranlasst, von dieser Rechtsansicht abzugehen.
34 Dass Beratungsprotokolle und Erledigungsentwürfe unbedingt (absolut) von der Akteneinsicht ausgenommen sind, entspricht auch in vielen anderen Verfahrensarten der Rechtslage. So sieht § 21 Abs. 1 VwGVG vor, dass Entwürfe von Erkenntnissen und Beschlüssen des Verwaltungsgerichtes und Niederschriften über etwaige Beratungen und Abstimmungen von der Akteneinsicht ausgenommen sind. Damit sollen rein interne Dokumente von der Akteneinsicht ausgenommen werden; diese Anordnung entspricht der Vertraulichkeit von Vorbereitungen der Entscheidung und von Senatsberatungen (vgl. Reisner in Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte2, § 21 VwGVG Rz 17).
35 Nach § 219 ZPO (diese Regelung war wiederum eines der Vorbilder für jene des § 17 AVG; vgl. 360 BlgNR 2. GP 13), sind u. a. Entwürfe zu Urteilen und Beschlüssen sowie Protokolle über Beratungen und Abstimmungen des Gerichtes von der Akteneinsicht (unbedingt) ausgenommen. Hiezu ist anerkannt, dass dies auch sonstige Aktenstücke (Stellungnahmen, Einsichtsbemerkungen, E-Mail-Verkehr der Senatsmitglieder und der sie unterstützenden Mitarbeiter, wie etwa Mitglieder des Evidenzbüros, Richteramtsanwärter oder Rechtspraktikanten), aus denen sich Rückschlüsse auf die Meinungsbildung im Senat und auf das Abstimmungsverhalten der einzelnen Senatsmitglieder ableiten ließen, betrifft. Es gehe hier um Fragen der internen Entscheidungsbildung. Das Gericht müsse die Möglichkeit haben, gegenteilige Ansichten abzuwägen und mehrere Varianten einer möglichen Entscheidung zu prüfen, ohne bei dieser Urteilsfindung einer Beeinflussung durch die Parteiöffentlichkeit ausgesetzt zu sein. Insoweit genießt auch die Einzelgerichtsbarkeit Schutz, weil auch Entwürfe zu Urteilen und Beschlüssen von der Akteneinsicht ausgenommen sind (vgl. Rassi in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze3, § 219 ZPO Rz 14 ff).
36 Dass Beratungsprotokolle und Entscheidungsentwürfe gänzlich von der Akteneinsicht ausgenommen sind, entspricht auch der Rechtsprechung und Literatur zur Strafprozessordnung (vgl. Achammer in Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung, 109. Lfg., §§ 51 ff Rz 16).
37 Die Mitbeteiligte macht geltend, in verfassungskonformer Auslegung sei der Relativsatz des § 90 Abs. 2 BAO jedenfalls seit der Novellierung des Art. 20 Abs. 3 B-VG mit BGBl. Nr. 285/1987 auf sämtliche Aktenbestandteile zu beziehen.
38 Art. 20 Abs. 3 B-VG lautet (in der Fassung BGBl. Nr. 285/1987):
"(3) Alle mit Aufgaben der Bundes-, Landes- und Gemeindeverwaltung betrauten Organe sowie die Organe anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, zur Verschwiegenheit über alle ihnen ausschließlich aus ihrer amtlichen Tätigkeit bekannt gewordenen Tatsachen verpflichtet, deren Geheimhaltung im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, der umfassenden Landesverteidigung, der auswärtigen Beziehungen, im wirtschaftlichen Interesse einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, zur Vorbereitung einer Entscheidung oder im überwiegenden Interesse der Parteien geboten ist (Amtsverschwiegenheit). Die Amtsverschwiegenheit besteht für die von einem allgemeinen Vertretungskörper bestellten Funktionäre nicht gegenüber diesem Vertretungskörper, wenn er derartige Auskünfte ausdrücklich verlangt."
39 Die B-VG-Novelle BGBl. Nr. 285/1987 stand - wie auch aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (39 BlgNR 17. GP 3) hervorgeht - in engem Zusammenhang mit Regelungen über die Auskunftspflicht der Verwaltung. Diese Auskunftserteilung bedeutet aber keine Gewährung der Akteneinsicht (vgl. Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum Auskunftspflichtgesetz, BGBl. Nr. 287/1987, 41 BlgNR 17. GP 3; VwGH 29.3.2017, Ra 2017/10/0021, mwN). Es ist hier auch nicht zu beurteilen, ob durch die Gewährung einer Akteneinsicht allenfalls gegen Verschwiegenheitspflichten verstoßen würde (vgl. hiezu etwa - auch unter Verweis auf die Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur B-VG Novelle BGBl. Nr. 285/1987 - VwGH 23.2.2017, Ro 2015/09/0013), sondern ob der Antrag auf Akteneinsicht berechtigt ist.
40 Der Verfassungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 14. Dezember 2007, V 16/07, VfSlg. 18.332/2007, über einen Antrag auf Akteneinsicht entschieden. Nach § 20 Abs. 3 (nunmehr Abs. 4) VfGG ist für den Ausschluss von der Akteneinsicht das "öffentliche Interesse" maßgebend. Der Verfassungsgerichtshof kam - unter Hinweis auf den Beschluss VfSlg. 17.671/2005 - zum Ergebnis, dass (soweit gesetzlich nichts anderes geregelt ist) ein öffentliches Interesse daran besteht, als eine besondere Gewähr für die Unabhängigkeit der Mitglieder einer Kollegialbehörde Protokolle über Beratungen und Abstimmungen von der Akteneinsicht auszunehmen. Wenn ein Mitglied einer Kollegialbehörde befürchten müsse, dass sein Beitrag zur Willensbildung in die Öffentlichkeit dringe, sei nicht auszuschließen, dass damit sein Stimmverhalten beeinflusst und damit seine Unabhängigkeit gefährdet werde.
41 Dass das einfachgesetzlich normierte "öffentliche Interesse" auch am Maßstab des Art. 20 Abs. 3 B-VG zu messen sei, nahm der Verfassungsgerichtshof nicht an. Insbesondere ging er nicht davon aus, dass dieses öffentliche Interesse nur im Rahmen der Vorbereitung der Entscheidung (Art. 20 Abs. 3 B-VG) bestünde und sohin mit dem Ergehen der Entscheidung wegfallen würde.
42 Auch der Verwaltungsgerichtshof ist - zu § 90 BAO - der Ansicht, dass der absolute Ausschluss der Beratungsprotokolle, Amtsvorträge und Erledigungsentwürfe von der Akteneinsicht mit der Novelle BGBl. Nr. 285/1987 nicht eingeschränkt wurde und insbesondere auch nicht mit dem Ergehen der Entscheidung wegfällt. Interne Erwägungen zur Entscheidungsfindung unterliegen auch dann nicht der Akteneinsicht, wenn die Entscheidung wie im vorliegenden Fall nicht durch einen Senat, sondern durch einen einzelnen Organwalter (monokratisch) zu treffen war, da auch in diesem Fall die Behörde die Möglichkeit haben muss, gegenteilige Ansichten intern abzuwägen und mehrere Varianten einer möglichen Entscheidung zu prüfen, ohne dabei einer Beeinflussung durch die Parteiöffentlichkeit ausgesetzt zu sein.
Wien, am 29. Mai 2018
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RO2017150021.J00Im RIS seit
30.12.2019Zuletzt aktualisiert am
30.12.2019