TE Vwgh Erkenntnis 2018/5/30 Ra 2017/18/0521

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Veröffentlicht am 30.05.2018
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision der M H, vertreten durch Mag. Philipp Wolm als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. Dezember 2016, W218 2123265-1/19E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerberin ist eine 35-jährige afghanische Staatsangehörige und leidet an Epilepsie. Sie reiste im Herbst 2014 gemeinsam mit einem Bruder und dessen Ehefrau in das Bundesgebiet ein und beantragte internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 22. Februar 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag in Bezug auf den begehrten Status einer Asylberechtigten ab, erkannte der Revisionswerberin aber den Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3 Gegen die Nichtzuerkennung von Asyl erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). Ihren Asylantrag begründet sie zusammengefasst damit, als unverheiratete und kranke Frau in Afghanistan asylrelevante Probleme zu haben. Nach dem Tod ihrer Mutter, die sich für sie eingesetzt habe, sei sie im Hause ihres Onkels untergekommen, der sie nicht akzeptiert habe. Sie habe eine gewünschte Ausbildung nicht machen dürfen und es habe ihr eine Zwangsverheiratung gedroht. Deshalb habe sie Afghanistan gemeinsam mit ihrem Bruder, der sie unterstützt habe, verlassen. Im Falle der Rückkehr drohe ihr Zwangsverheiratung, Gewalt in der Familie und Verfolgung als Frau mit einer abweichenden Wertehaltung.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

5 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, die Revisionswerberin habe nicht glaubhaft darlegen können, ihren Herkunftsstaat aufgrund einer asylrelevanten Verfolgung verlassen zu haben. Auch ein Nachfluchtgrund sei nicht glaubhaft. Dass ihr Verfolgung aufgrund ihrer Krankheit oder - angeblichen - westlichen Orientierung drohe, sei ebenso wie eine drohende Zwangsverheiratung nicht glaubhaft. Es sei zwar nachvollziehbar, dass die Revisionswerberin es in ihrer Heimat nicht einfach gehabt habe, weil sie an Epilepsie leide, allerdings sei sie deshalb ganz offensichtlich nicht stigmatisiert gewesen, denn sie habe in die Schule gehen können und sie sei auch ärztlich behandelt worden. Ihrem - näher begründeten - Vorbringen, es habe ihr eine Zwangsverheiratung gedroht, fehle die Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit, denn dass eine über 30jährige, kranke Frau zuerst verheiratet werden solle, um sodann - wie sie aussagte - als "Bedienstete" im Hause behalten zu werden, entbehre auch für afghanische Verhältnisse jeglicher Nachvollziehbarkeit. Die Revisionswerberin stamme aus einer gebildeten Familie, die ihre Töchter in die Schule schicke. Auch ihr Bruder habe eine gebildete Frau geheiratet, die sogar arbeiten gegangen sei. Es sei daher offensichtlich, dass die Revisionswerberin aus einer Familie stamme, die Frauen - für afghanische Verhältnisse - auch mit Respekt behandle und in der Frauen nicht per se besonders schlecht behandelt würden. Zweifellos kämen in Afghanistan Zwangsverheiratungen vor, im konkreten Fall sei eine solche Bedrohung aber nicht nachgewiesen worden. Dem Vorbringen der Revisionswerberin, dass sie der Willkür ihres Onkels ausgeliefert gewesen sei, könne nicht gefolgt werden, da grundsätzlich der Eindruck entstanden sei, dass der - in Österreich aufhältige - Bruder der Revisionswerberin die Verantwortung und die Zahlungen für seine Schwester übernommen habe. Es erscheine auch aus diesem Grund äußerst unwahrscheinlich, dass eine Zwangsverheiratung "hinter seinem Rücken" stattfinden hätte sollen. Dass es in Österreich in Folge zu Konflikten zwischen diesem Bruder und der Revisionswerberin gekommen sei, sei unbestritten. Dies könne aber nicht zu dem Rückschluss führen, dass er seine Schwester in Afghanistan zwangsverheiratet hätte. Wenn ihm nichts am Wohlergehen seiner Schwester gelegen gewesen wäre, hätte er sie wohl kaum auf die Flucht mitgenommen, sondern sie in der Obhut seines Onkels gelassen. Zum Vorbringen der Revisionswerberin, dass sie aufgrund ihres "westlich orientierten" Lebensstils in Österreich einen Nachfluchtgrund habe, werde angemerkt, dass die Revisionswerberin unverschleiert zur mündlichen Verhandlung erschienen sei, im Übrigen aber - schon alleine aufgrund des kurzen Aufenthaltes - keine weiteren diesbezüglichen Feststellungen getroffen werden könnten. Da die Revisionswerberin in Kabul aufgewachsen und dort in die Schule gegangen sei, sei anzunehmen, dass sie schon alleine aufgrund des hohen Bildungsstandards nicht gezwungen worden sei, das Haus "komplett verhüllt" zu verlassen. Der von der Revisionswerberin in Österreich gepflegte Kleidungsstil verstoße jedenfalls nicht in einer solchen Form gegen soziale Normen in Afghanistan, dass er bereits eine asylrelevante Verfolgung auslösen würde. Eine vorübergehende intensivere Verhüllung zur Vermeidung einer etwaigen sozialen Ausgrenzung sei der Revisionswerberin im Übrigen zumutbar. Die Revisionswerberin habe auch nicht glaubhaft darlegen können, dass sie während ihres kurzen Aufenthaltes in Österreich eine Lebensweise angenommen habe, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle.

6 Gegen diese Entscheidung wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Sie macht zusammengefasst geltend, das BVwG sei von der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen und habe keine ausreichende Grundlage für die erforderlichen Feststellungen zur Lebensweise der Revisionswerberin in Österreich und zu erwartenden Reaktionen auf die von ihr weiterhin angestrebte Lebensweise in Afghanistan getroffen.

7 Im Einzelnen führt die Revision aus, welche Angaben die Revisionswerberin hinsichtlich ihrer Lebensweise in Afghanistan und in Österreich gemacht hatte, die für eine Bedrohung ihrer Person bei Rückkehr sprächen. Auch der als Zeuge vor dem BVwG einvernommene Bruder der Revisionswerberin habe bestätigt, dass sie in Afghanistan Entscheidungen, die ihr Leben betroffen hätten, nicht selbst habe treffen können. Er habe auch angegeben, sie auf die Flucht mitgenommen zu haben, weil sie nur so die Möglichkeit habe, sich weiterzubilden und weil es niemanden gegeben habe, der sich um sie gekümmert hätte. Dadurch sei - entgegen der Ansicht des BVwG - zum Ausdruck gekommen, dass die Revisionswerberin, wie sie selbst mehrfach ausgesagt habe, in der Familie unerwünscht sei und die Familie sie ohne Zahlungen ihres Bruders loszuwerden trachte, was eine Zwangsverheiratung der Revisionswerberin umso naheliegender mache. Demgegenüber habe die Revisionswerberin vor dem BVwG dargelegt, dass sie in Österreich, anders als in Afghanistan, ein selbstbestimmtes Leben führe und dies auch weiter führen wolle.

8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

9 Die Revision ist zulässig und begründet.

10 Zu Recht zeigt die Revision einen Begründungsmangel der angefochtenen Entscheidung auf, der ihre nachprüfende Kontrolle am Maßstab der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unmöglich macht und daher tragenden Grundsätzen des Verfahrensrechts widerspricht.

11 Vorauszuschicken ist, dass nach den Länderfeststellungen des BVwG in der angefochtenen Entscheidung Frauen in Afghanistan ohne männliche Erlaubnis oder Begleitung in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Unbegleitete Frauen würden gemeinhin nicht gesellschaftlich akzeptiert. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt sei weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen fänden zu über 90 % innerhalb der Familienstrukturen statt. Es gebe (u.a.) Kinder- und Zwangsheirat. Staatliche Akteure seien häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen.

12 Ausgehend davon kommt der Frage, ob die alleinstehende und aufgrund ihrer Erkrankung besonders vulnerable Revisionswerberin in ihrem Familienverband in Afghanistan eine Verletzung ihrer körperlichen und sexuellen Integrität, insbesondere infolge einer Zwangsverheiratung, zu erwarten hätte, maßgebliche Bedeutung zu, zumal die staatlichen afghanischen Behörden gegen eine solche private Bedrohung keinen effektiven Schutz zu geben scheinen.

13 Das BVwG verneint eine solche Bedrohung und stützt sich dabei argumentativ vor allem darauf, dass die Revisionswerberin aus einer Familie stamme, in der Frauen mit Respekt behandelt würden. Dies zeige sich daran, dass die Töchter in die Schule geschickt würden und der Bruder der Revisionswerberin eine gebildete Frau geheiratet habe, die sogar arbeiten gegangen sei. Dem Bruder sei auch am Wohlergehen seiner Schwester gelegen gewesen, zumal er sie auf die Flucht nach Österreich mitgenommen habe, statt sie in der Obhut des Onkels zu belassen. Dementsprechend sei nicht davon auszugehen, dass er seine Schwester in Afghanistan zwangsverheiratet hätte.

14 Diese Erwägungen greifen, wie die Revision im Ergebnis zutreffend aufzeigt, zu kurz, weil sie vor allem den gemeinsam mit der Revisionswerberin geflohenen Bruder, der sich nun in Österreich aufhält, im Blick haben und ihm zentrale Bedeutung für den Schutz der Revisionswerberin innerhalb der Familie zuschreiben. Sie blenden aber aus, dass selbst dieser Bruder im Rahmen seiner Zeugenaussage vor dem BVwG angegeben hatte, er habe gewusst, dass er seine Schwester (die Revisionswerberin) nicht in Afghanistan zurücklassen könne. Dies wäre nach seiner Aussage damit gleichzusetzen gewesen, sie auf der Straße zurückzulassen. Auch das BVwG scheint vom Wohlergehen der Revisionswerberin in der Obhut ihres in Afghanistan verbliebenen Onkels nicht überzeugt zu sein, verwendet es doch gerade den Umstand, dass der Bruder sie dort nicht zurückgelassen habe, weil er um ihr Wohl besorgt gewesen sei, als Argument, warum er mit einer Zwangsverheiratung wohl nicht einverstanden gewesen wäre. Auf die Einstellung des Bruders kommt es aber letztlich nicht an, sondern darauf, welche Lebenssituation die Revisionswerberin bei Rückkehr nach Afghanistan vorfinden würde, insbesondere, ob der dort noch bestehende Familienverband in der Lage und willens wäre, die Revisionswerberin unter Wahrung ihrer grundlegenden Menschenrechte aufzunehmen. Dazu hat das BVwG, wie die Revision richtig geltend macht, die erforderlichen Feststellungen nicht getroffen.

15 Schon deshalb kann die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben, ohne auf die Frage, ob der Revisionswerberin auch ein Nachfluchtgrund zugute käme, näher eingehen zu müssen.

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. Mai 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017180521.L00

Im RIS seit

26.06.2018

Zuletzt aktualisiert am

10.07.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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