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66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;Norm
ASVG §49 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Sulyok, Dr. Nowakowski und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde der A GmbH in F, vertreten durch Dr. Ekkehard Erlacher und Dr. Renate Erlacher-Philadelphy, Rechtsanwälte in Innsbruck, Marktgraben 12, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Tirol vom 26. November 1996, Zl. Vd-3573/15/Kn, betreffend Beitragsnachrechnung und Beitragszuschlag (mitbeteiligte Partei: Tiroler Gebietskrankenkasse in Innsbruck, Klara-Pölt-Weg 2), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Im Betrieb der Beschwerdeführerin fand im Februar 1988 eine Beitragsprüfung über den Zeitraum vom 1. August 1983 bis zum 31. Dezember 1987 statt. Zugleich mit der Beitragsnachrechnung vom 9. März 1988 schrieb die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse der Beschwerdeführerin bescheidmäßig einen Beitragszuschlag in der Höhe von S 20.619,18 vor.
Mit Schriftsatz vom 23. März 1988 beantragte die Beschwerdeführerin die Erlassung eines Bescheides über die Beitragsnachforderung. Zugleich erhob sie Einspruch gegen den Bescheid vom 9. März 1988 über die Verhängung eines Beitragszuschlages.
Mit Bescheid vom 29. März 1988 verpflichtete die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse die Beschwerdeführerin zur Nachentrichtung von Beiträgen in der Höhe von S 142.219,24. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 6. April 1988 Einspruch.
Die belangte Behörde holte eine Stellungnahme der Beschwerdeführerin zum Vorlagebericht der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse ein, führte am 19. Jänner 1989 in Prutz eine Verhandlung durch und gab dem Einspruch gegen den Bescheid vom 29. März 1988 mit Bescheid vom 18. April 1989 keine Folge. Über den Einspruch gegen den Bescheid vom 9. März 1988 wurde in diesem Bescheid nicht entschieden.
Mit Erkenntnis vom 30. November 1993, Zl. 90/08/0048, hob der Verwaltungsgerichtshof den Bescheid der belangten Behörde vom 18. April 1989 hinsichtlich der der Beschwerdeführerin vorgeschriebenen Nachentrichtung von Wohnbauförderungsbeiträgen (nicht mehr beschwerdegegenständlich) wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und im Übrigen wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf.
In diesem Erkenntnis, auf das hinsichtlich der näheren Darstellung der Vorgeschichte des Beschwerdefalles und der anzuwendenden Rechtslage verwiesen wird, führte der Verwaltungsgerichtshof u.a. Folgendes aus:
"Die Beschwerdeführerin bekämpft - wie bereits im Verwaltungsverfahren - im Wesentlichen die Anwendung des von der belangten Behörde herangezogenen Kollektivvertrages. Ferner hätte ihrer Ansicht nach eine andere Einstufung der einzelnen Dienstnehmer vorgenommen werden müssen, da während des verfahrensgegenständlichen Zeitraumes durch 'gesellschaftsrechtliche Veränderungen und Sanierungsmaßnahmen' die einzelnen Arbeitsverhältnisse eine Änderung erfahren hätten. Die belangte Behörde hätte auch hinsichtlich der tatsächlichen Tätigkeiten der einzelnen Arbeitnehmer entscheidungswesentliche Feststellungen treffen müssen.
Auf dem Boden der dargestellten Rechtslage sind bereits diese Ausführungen geeignet, der Beschwerde zum Erfolg zu verhelfen:
Weder dem Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse noch dem angefochtenen Bescheid sind Tatsachenfeststellungen über den Inhalt aller lohnrechtlichen und arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen des angewendeten Kollektivvertrages zu entnehmen. Schon auf Grund dieses Mangels ist es dem Gerichtshof nicht möglich, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides prüfen zu können.
Die Beurteilung der Frage, welche Tätigkeit von einem Dienstnehmer ÜBERWIEGEND (nach Maßgabe der diesbezüglichen Bestimmungen des anzuwendenden Kollektivvertrages) ausgeübt wird, erfordert auch nähere Feststellungen, in welchem zeitlichen Ausmaß der Dienstnehmer die einzelnen in Betracht kommenden Tätigkeiten, soweit sie für die Einreihung in die in Betracht kommenden Beschäftigungsgruppen von Bedeutung sind, verrichtet hat. Dazu hat die belangte Behörde konkrete Beweise aufzunehmen und sodann der Beschwerdeführerin Gelegenheit zu geben, zu diesem Ergebnis Stellung zu nehmen. Die bloße Aussage von Dienstnehmern, welche Tätigkeiten sie (ihrer Meinung nach) 'überwiegend' verrichtet haben, reicht dazu nicht aus (vgl. z.B. das Erkenntnis vom 10. März 1992, Zl. 91/08/0156)."
Die belangte Behörde führte am 18. Jänner 1995 in Landeck eine weitere Verhandlung mit den Parteien durch und entschied mit dem angefochtenen Bescheid über beide Einsprüche dahin gehend, dass der Beitragsnachrechnungsbetrag mit S 123.650,90 (statt S 142.219,24) und der Beitragszuschlag mit S 18.343,45 (statt S 20.619,18) festgesetzt wurde. Der Begründung des angefochtenen Bescheides ist zu entnehmen, dass die Beträge damit einerseits um die Wohnbauförderungsbeiträge und andererseits um die den Dienstnehmer Elmar J. betreffenden Teilbeträge reduziert werden sollten. Die reduzierten Beträge betreffen danach die sechs Dienstnehmer Alois K., Maria-Luise S., Andreas K., Susanne B., Anton P. und Engelbert M.
In der Beschwerde wird geltend gemacht, der angefochtene Bescheid sei inhaltlich nicht überprüfbar und daher rechtswidrig. Aus dem Bescheid sei nicht nachvollziehbar, wie die belangte Behörde zu den im Spruch ihrer Entscheidung angeführten Beträgen komme. Ebenso fehlten Feststellungen darüber, welchen Inhaltes die von der belangten Behörde herangezogenen Kollektivverträge seien bzw. welche Entgelte den angeführten Beschäftigungsgruppen entsprächen. Ebenso fehlten Angaben darüber, welcher kollektivvertragliche Lohnansatz der Berechnung der Beiträge zu Grunde gelegt worden sei. Der angefochtene Bescheid enthalte nur ganz allgemeine Verweisungen auf einen Kollektivvertrag und Beschäftigungsgruppen, ohne dass diesbezüglich nachvollziehbare Ausführungen vorhanden seien. Die Feststellung der belangten Behörde, "laut Bilanz" würde "nach Angaben des Alois K." der überwiegende Umsatz mit Handel erwirtschaftet, weshalb der Kollektivvertrag für die Handelsangestellten zur Anwendung zu kommen habe, wird als aktenwidrig kritisiert, und es wird gerügt, dass die belangte Behörde dem in der Verhandlung am 18. Jänner 1995 gestellten Antrag auf Einvernahme des Reinhard P. als Zeugen nicht nachgekommen sei. Bei Aufnahme dieses Beweises hätte sich nach den Ausführungen in der Beschwerde ergeben, dass die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung nicht im Handel gelegen sei und zudem eine organisatorische Abgrenzung der Betriebsteile - insbesondere hinsichtlich des Güterbeförderungsgewerbes - möglich gewesen wäre.
Schließlich wird geltend gemacht, aus dem "angebotenen" (gemeint: angefochtenen) Bescheid sei auch im Zusammenhang mit dem erstinstanzlichen Bescheid (gemeint: den erstinstanzlichen Bescheiden) nicht ableitbar, für welche Zeiträume und Beschäftigungsverhältnisse Beiträge nachzuentrichten und Zuschläge zu entrichten seien. Es fehle eine Aufschlüsselung der Beträge oder ein Verweis auf die Berechnungsgrundlage der erstinstanzlichen Bescheide.
Die belangte Behörde hat die Akten des Einspruchsverfahrens - nicht jedoch die erstinstanzlichen Akten und auch nicht die erstinstanzlichen Bescheide sowie deren allfällige Beilagen - vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet. Darin wird einerseits zu einem von der Beschwerdeführerin nicht gestellten Aufschiebungsantrag Stellung genommen und andererseits in Bezug auf die im Spruch des Bescheides genannten Beträge ausgeführt, sie hätten sich durch den Abzug der den Dienstnehmer Elmar J. betreffenden Teilbeträge (gemeint wohl: und des Wohnbauförderungsbeitrages) ergeben. Zum Vorwurf der Aktenwidrigkeit wird auf die Angaben von Alois K. im Verwaltungsverfahren verwiesen und zur unterbliebenen Einvernahme "des Herrn Walter Peham" (gemeint wohl: Reinhard Peters) ausgeführt, er lebe in München und dürfe nicht nach Österreich einreisen, und auf seine Einvernahme sei verzichtet worden, weil Alois K. über die maßgeblichen Verhältnisse genaue Kenntnisse gehabt haben müsse. Im Übrigen wird auf die "ausführliche Begründung" des angefochtenen Bescheides verwiesen.
Die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse vertritt in ihrer Gegenschrift die Auffassung, die belangte Behörde sei dem Auftrag des Verwaltungsgerichtshofes, konkrete Beweise aufzunehmen und nähere Feststellungen zu treffen, "in ausreichendem Maße" nachgekommen. Zur Frage, welcher Kollektivvertrag anzuwenden sei, verweist auch die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse auf die Aussagen von Alois K. Die Nachvollziehbarkeit der Beträge sei insofern gegeben, als der erstinstanzliche Bescheid vom 29. März 1988 auf eine ihm beiliegende Aufstellung verwiesen habe.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Im Erkenntnis vom 30. November 1993, Zl. 90/08/0048, hat der Verwaltungsgerichtshof u.a. ausgeführt, weder dem erstinstanzlichen Bescheid vom 29. März 1988 noch dem Einspruchsbescheid vom 18. April 1989 seien "Tatsachenfeststellungen über den Inhalt aller lohnrechtlichen und arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen des angewendeten Kollektivvertrages zu entnehmen" und schon auf Grund dieses Mangels sei es dem Gerichtshof nicht möglich, die Rechtmäßigkeit des damals angefochtenen Bescheides zu überprüfen. Dabei wurde auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass für kollektivvertragliche Regelungen der Grundsatz "jura novit curia" nicht gilt.
Im nunmehr angefochtenen Bescheid lauten die Ausführungen der belangten Behörde hinsichtlich der Dienstnehmer Andreas K., Susanne W., Anton P. und Engelbert M. - ungekürzt - wie folgt:
"Der Lehrling Andreas K. wurde in zwei Lehrberufen ausgebildet und zwar als Bürokaufmann und als Fliesenleger. Er wurde im Prüfzeitraum überwiegend zu Büroarbeiten herangezogen. Der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge wurde daher die Lehrlingsentschädigung für den Lehrberuf 'Bürokaufmann' zu Grunde gelegt.
Die Dienstnehmerin Susanne W. war nach Abschluss der Handelsschule im Büro der Einspruchswerberin tätig. Sie verrichtete Schreibarbeiten. Die geltend gemachte 'freie Lohnvereinbarung' wäre nur dann zulässig, wenn der vereinbarte Lohn zumindest dem kollektivvertraglichen Mindestlohn entsprochen hätte. Dies traf jedoch nicht zu. Der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge wurde daher zu Recht der kollektivvertragliche Lohnansatz zu Grunde gelegt.
Beim Dienstnehmer Anton P. lag der vereinbarte Lohn unter dem kollektivvertraglichen Mindestlohn. Zur Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge wurde daher gleichfalls der kollektivvertragliche Mindestlohn herangezogen.
Beim Dienstnehmer Engelbert M. waren für 25 Wochen für die anteiligen Sonderzahlungen die Sonderbeiträge zu berechnen. Nach dem Kollektivvertrag für die Handelsangestellten Österreichs gebührt den während des Jahres ein- oder austretenden Angestellten für dasselbe der aliquote Teil der Sonderzahlungen (Weihnachtsremuneration und Urlaubsbeihilfe). Da für die Sonderzahlungen die Berechnung des aliquoten Teiles nicht richtig durchgeführt wurde, erfolgte die Nachrechnung mit 25/26."
In den - nur unwesentlich längeren - Ausführungen zu den Dienstnehmern Alois K. und Maria-Luise S. wird auf die allgemeinen Charakterisierungen der Beschäftigungsgruppen 5 (Alois K.) und 3 (Maria-Luise S., hier auch unter Anführung einiger der im Kollektivvertrag genannten Beispiele) des "Kollektivvertrages für die Handelsangestellten Österreichs" Bezug genommen.
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes hat die belangte Behörde damit schon dem Erfordernis, die maßgeblichen Inhalte des von ihr herangezogenen Kollektivvertrages (in dessen jeweils zeitraumbezogen anzuwendender Fassung) festzustellen, nicht in ausreichendem Umfang entsprochen. Die belangte Behörde hat aber auch zur Gänze davon abgesehen, sich mit den Einwänden der Beschwerdeführerin gegen die erstinstanzlichen Bescheide in beweismäßiger und rechtlicher Hinsicht auseinander zu setzen. Auf das ausführliche Vorbringen der Beschwerdeführerin und die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens - darunter teils seitenlange mündliche und schriftliche Depositionen zu den einzelnen Dienstverhältnissen, die aus Anlass der beiden Verhandlungen zu Protokoll gegeben bzw. vorgelegt wurden - wird überhaupt nicht eingegangen. Der angefochtene Bescheid ist in dieser Hinsicht noch mangelhafter als der mit dem Vorerkenntnis aufgehobene. War in diesem noch eine - auf unterschiedliche Darstellungen im Zuge der Betriebsprüfung einerseits und gegenüber der belangten Behörde andererseits Bezug nehmende - Beweiswürdigung vorgenommen worden, so fehlt eine solche nun zur Gänze.
Keine Begründung enthält der angefochtene Bescheid auch für die Nichtberücksichtigung der in der Verhandlung am 18. Jänner 1995 sowohl vom Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin als auch vom Vertreter der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse gestellten Beweisanträge, Reinhard P. möge als Zeuge einvernommen bzw. es möge ihm aufgetragen werden, die Bilanzen vorzulegen. Hiezu findet sich nur im vorgelegten Akt der belangten Behörde der im Protokoll - offenbar nachträglich - angebrachte Vermerk "darf nicht nach Österreich einreisen". Traf dies zu, so war es mit den Parteien zu erörtern, um ihnen Gelegenheit zu geben, dazu Stellung zu nehmen und notfalls eine schriftliche Erklärung des Zeugen beizubringen (vgl. dazu die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2, S. 773 f, wiedergegebene Rechtsprechung; eine eidesstattliche Erklärung des beantragten Zeugen, der schon die Einsprüche verfasst hatte, zu einem Teil der strittigen Fragen ist bereits aktenkundig, in die Erwägungen der belangten Behörde aber nicht erkennbar einbezogen worden). In der Gegenschrift nachgeholte Erklärungen ersetzen eine fehlende Bescheidbegründung nicht. Die in der Gegenschrift der belangten Behörde vertretene Auffassung, auf den beantragten Zeugen habe wegen der bei Alois K. anzunehmenden Sachkenntnis verzichtet werden können, widerspricht angesichts der Bezugnahmen auf den beantragten Zeugen in der von Alois K. am 18. Jänner 1995 abgelegten Aussage aber auch dem Akteninhalt.
Hinzu kommt, dass der angefochtene Bescheid - wie in der Beschwerde mit Recht gerügt wird - auch insoweit nicht nachvollziehbar ist, als die der Beschwerdeführerin darin zur Zahlung auferlegten Beträge weder bestimmten Zeiträumen noch bestimmten Dienstnehmern zugeordnet werden können. Das Argument der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse, die Aufschlüsselung der Beträge sei der Beschwerdeführerin aus dem erstinstanzlichen Verfahren bekannt, erweist sich im vorliegenden Fall schon deshalb nicht als nachvollziehbar (und damit allenfalls erfolgversprechend), weil dem Verwaltungsgerichtshof die Aktenteile, aus denen dies zutreffendenfalls hervorgehen müsste, nicht vorgelegt wurden.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am 23. Februar 2000
Schlagworte
VerfahrensgesichtspunkteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2000:1997080009.X00Im RIS seit
20.11.2000