TE Bvwg Erkenntnis 2018/5/28 W226 2195052-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.05.2018
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Entscheidungsdatum

28.05.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18 Abs1 Z4
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6

Spruch

W226 2195052-1/4E

W226 2195057-1/4E

W226 2195054-1/4E

W226 2195050-1/4E

W226 2195048-1/4E

W226 2195055-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX ,

2.)

XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX ,

5.)

XXXX , geb. XXXX und 6.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.04.2018, 1.) Zl. 1022998301-14748056, 2.) Zl. 1049078504-140323328, 3.) Zl. 1049078602-140323344, 4.) Zl. 1049078907-140323352, 5.) Zl. 1049078809-140323365 und 6.) 1132408302-161415004, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) sind verheiratet und Eltern sowie gesetzliche Vertreter der minderjährigen BF3 bis BF6. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, sie gehören der tschetschenischen Volksgruppe und dem moslemischen Glauben an. Die beschwerdeführenden Parteien gelangten auf illegalen Weg in das Bundesgebiet und stellten die diesem Verfahren zugrundeliegenden Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes, zu welchen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt wurden.

Der Erstbeschwerdeführer, welcher bereits im Juni 2014 in das Bundesgebiet alleine eingereist war, schilderte im Zuge dieser Erstbefragung, dass sich die BF2 und die zu diesem Zeitpunkt bereits geborenen BF3 und BF4 noch in der Heimat befinden würden, er habe eine Halbschwester, welche hier in Österreich mit ihrer Mutter lebe. Er selbst sei mit einem PKW über die Ukraine ausgereist und habe noch in keinem anderen Land um Asyl angesucht. Der Fluchtgrund wurde vom BF1 dahingehend geschildert, dass im Dezember 2013 er vor seinem Haus einen Bekannten getroffen habe, bei diesem seien noch zwei weitere Personen mit dabei gewesen. Der Bekannte habe dem BF1 gesagt, dass sie jemanden besuchen würden, der zu Besuchende aber nicht zu Hause gewesen sei. Da die Männer von weit her gekommen seien, hätte er ihnen angeboten, bei ihm zu übernachten. Am nächsten Tag, als der BF1 vor seinem Haus gestanden sei, sei ein schwarzes Auto mit abgedunkelten Scheiben gekommen, aus dem vier Personen ausgestiegen seien. Vier seien uniformiert gewesen, einer zivil gekleidet. Der BF1 sei nach seiner Handynummer gefragt worden, die Männer hätten ihn geschlagen. Er habe dann das Bewusstsein verloren und sei erst wieder im Krankenhaus aufgewacht. Nach dem Krankenhausaufenthalt sei er zu seinem Onkel gefahren, diese wohne in einem Dorf. Nach ein paar Tagen habe er erfahren, dass die Angreifer bei ihm zu Hause gewesen seien und auch die Frau (BF2) bedroht hätten. Die Männer hätten wissen wollen, wo der BF1 und auch der genannte Bekannte mit seinen beiden Begleitern sei. Die Nachbarin hätte ihm später am Telefon erzählt, dass diese Leute mehrmals da gewesen seien und hätten sie sogar einmal die Wohnungstür aufgebrochen. BF2 sei nach dem Vorfall zu den Eltern gezogen. BF1 habe dann einen Kleinhirnschlag erlitten, nach dem Krankenhaus sei er zu seinem Onkel nach XXXX gefahren und sei dort bis zur Ausreise geblieben. Dann habe er nicht mehr mit Zuhause telefoniert, er sei dann ausgereist. Seine Frau habe er seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen, diese sei schwanger. Dies sei sein einziger Fluchtgrund.

BF2 reiste wie dargestellt mit den drei älteren Kindern im Dezember 2014 nach Österreich nach, sie habe den Entschluss zur Ausreise gefasst, als sie der BF1 im Dezember 2014 aus Österreich angerufen habe. Sie sei dann mit dem Vater in dessen PKW nach Weißrussland gebracht worden und sei von dort über Polen nach Österreich gelangt.

Die BF2 schilderte ebenfalls, dass im Dezember 2013, somit ein Jahr vor ihrer eigenen Ausreise, der BF1 von unbekannten Personen zusammengeschlagen worden sei. Danach seien die Unbekannten in die Wohnung gekommen und hätten nach dem BF1 gefragt. Als sie selbst nicht zu Hause gewesen sei, hätten diese Männer sogar die Wohnung aufgebrochen und alles kaputtgeschlagen. Danach habe sie bei ihrer Mutter gelebt und der BF1 sei ins Ausland gefahren. Anfang Dezember 2014 habe der BF1 angerufen und gesagt, dass er in XXXX sei und sie zu ihm kommen solle. Für den Fall der Rückkehr befürchte sie, dass sie wieder von den Unbekannten bedroht werden würde, denn diese Männer würden immer wieder in die Wohnung kommen, wo sie mit dem BF1 gewohnt habe.

Am 22.12.2017 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des BF1 vor der belangten Behörde. Der BF1 legte dabei zahlreiche Unterstützungsschreiben sowie allgemeine Dokumente aus der Russischen Föderation zum persönlichen Werdegang vor. Es gehe ihm gesundheitlich gut, er befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung, auch der Frau und den inzwischen vier Kindern gehe es gesundheitlich gut. Er habe Deutsch auf dem Niveau A2 erlernt, spreche Russisch und Tschetschenisch. BF1 schilderte, dass er in Tschetschenien die Grundschule und eine allgemein höhere Schule besucht habe, von Beruf sei er Taxilenker gewesen. Den Grunddienst habe er nicht geleistet, denn er sei nie einberufen worden und habe sich auch nie an Kriegshandlungen beteiligt. Er habe dann nach Schulabschluss in XXXX und verschiedenen Regionen der Russischen Föderation als Bauhilfsarbeiter gearbeitet, in XXXX sei er auch im Sicherheitsdienst gewesen, da sei er am Flughafen in XXXX am Schalter tätig gewesen. Zuletzt habe er in XXXX als Taxilenker gearbeitet, er habe ein eigenes Taxi gehabt und die BF2 habe dieses Auto dann vor der eigenen Ausreise verkauft. Er habe seinen Vater in der Heimat, er habe auch zwei Schwestern, wovon eine ledig sei und bei einer Tante lebe, die andere mache eine Ausbildung als Krankenschwester. Eine weitere Schwester lebe hier in Österreich, diese verfüge bereits über die österreichische Staatsangehörigkeit.

Darüber hinaus schilderte der BF1, dass sein Vater noch zwei Brüder und drei Schwestern habe, auch seine verstorbene Mutter habe näher beschriebene Familienangehörige.

Der BF1 schilderte, dass er im März 2014 einen Schlaganfall in der Russischen Föderation erlitten habe, seit Dezember 2013 bis zur Ausreise habe er sich bei einem Onkel aufgehalten und sei nach dem Schlaganfall drei Wochen im Krankenhaus in XXXX gewesen. Im Dezember 2013 sei er von ihm unbekannten Personen aus unbekannten Gründen geschlagen worden, im März 2014 habe er dann den Schlaganfall erlitten. Die Gattin (BF2) und die drei Kinder habe er bei der Familie der Gattin zurückgelassen.

Nochmals schilderte der BF1, dass er im Dezember 2013 bei sich im Hof von unbekannten Personen geschlagen worden sei. Dazu könne er nicht näheres angeben. Er wisse nicht, von wem er da geschlagen worden sei und warum er überhaupt geschlagen worden sei. Es habe sich um einen Raubüberfall gehandelt, denn die Männer hatten damals sein Telefon verlangt. Als er ihnen dieses Telefon nicht gegeben habe, sei er geschlagen worden. Danach habe er sich vom März 2014 bis Juni 2014 in XXXX aufgehalten und habe im Juni 2014 das Heimatland tatsächlich verlassen. Nach Österreich sei er "wegen der Versorgung" gekommen.

Er sei in der Heimat nicht vorbestraft, sei niemals vor Gericht gestanden und sei niemals inhaftiert gewesen. Er habe niemals Probleme mit den Behörden in der Heimat gehabt und würden gegen ihn keinerlei Strafanzeigen, Steckbriefe, Haftbefehle, etc. bestehen. Er habe sich auch niemals politisch betätigt, sei auch niemals Mitglied einer politischen Partei gewesen, etc. Er habe überhaupt niemals Probleme gehabt, weder wegen der Religion noch wegen der Volksgruppenzugehörigkeit und habe auch niemals an bewaffneten Auseinandersetzungen teilgenommen.

Erneut schilderte der BF1 den Ausreisegrund dahingehend, dass er im Dezember 2013 nach der Rückkehr von der Arbeit zu Hause einen Bekannten getroffen habe, den Familiennamen kenne er gar nicht. Bei diesem seien noch zwei Bekannte dabei gewesen, deren Namen er nicht angeben könne. Sie hätten bei ihm übernachtet und seien dann nach dem Frühstück wieder gegangen. Einer von ihnen habe vom Mobiltelefon des BF1 aus Telefonate geführt, danach habe er sie nie mehr gesehen.

Am selben Tag sei er dann zu Mittag von der Arbeit nach Hause gekommen und sei von unbekannten Personen geschlagen worden. Diese Personen seien aber keine Polizeibeamten gewesen. Sie hätten ihm das Mobiltelefon abgenommen, der BF1 habe sich gewehrt und habe Dokumente verlangt. Die Männer hätten aber keine Dokumente vorzuzeigen gehabt. Nachbarn seien aus den Wohnungen gelaufen und hätten sich bei den Fremden nach deren Motiv erkundigt, dann sei der BF1 bewusstlos geworden und sei im Krankenhaus wieder zu sich gekommen. Er sei drei Wochen im Krankenhaus von XXXX gewesen und sei dann zu seinem Onkel in dessen Heimatdorf gezogen.

Der Onkel habe sich dann erkundigt, habe den Übergriff auf den BF1 auch bei der zuständigen Polizei in XXXX zur Anzeige gebracht. Der BF1 habe diese Personen aber nicht beschreiben können, er habe ja keine Namen gewusst und habe auch nicht gewusst, aus welchem Grund er von diesen unbekannten Personen geschlagen worden sei. Der Onkel habe sich wegen des Vorfalls auch an den Sicherheitsdienst in XXXX gewandt. Mehrmals habe sich der Onkel bei der Polizei nach Ermittlungsfortschritten erkundigt und die Polizei habe dem Onkel gesagt, dass sie erheben würden, es hätte sich jedenfalls nicht um Mitglieder der Polizei gehandelt. Während er im Krankenhaus gewesen sei, sei auch seine Frau (BF2) von diesen unbekannten Privatpersonen aufgesucht worden. Dann sei die Frau zu ihren Eltern gezogen. Dies seien die Gründe, warum er den Herkunftsstaat verlassen habe. Im Fall der Rückkehr könnte er erneut von diesen unbekannten Personen geschlagen werden, es könnte auch sein, dass er verhaftet werde. Warum er verhaftet werden sollte, das wisse er nicht, alles könne passieren. Es sei "allgemein bekannt, dass Angehörige einer Mafia irgendwelche Dokumente vorlegen, welche man dann unterschreiben soll. Es würde sich um eine Mafia handeln, welche sich als Polizeibeamte verkleidet".

Zu seiner in Österreich lebenden Schwester befragt führte der BF1 aus, dass diese in XXXX lebe. Er habe von dieser weder Geld noch Sachleistungen erhalten und auch umgekehrt die Schwester nicht vergleichbar unterstützt. Die Schwester sei als Dreijährige nach Österreich gekommen, sie würden sich kaum kennen. Jeder lebe sein eigenes Leben, er könne nicht einmal angeben, wo genau in XXXX die Schwester lebe. In Österreich sei er in keinen Vereinen tätig, aber er besuche einen Deutschkurs und lebe von der Grundversorgung.

Der BF1 hatte zahlreiche Unterstützungserklärungen in Vorlage gebracht, nunmehr wurde der BF1 im Zuge der Einvernahme nach den Personen, die sich für seinen weiteren Verbleib in Österreich einsetzen, befragt.

Die durchgehend gleichbleibende Antwort des BF1 zu den Unterstützern lautete, dass der jeweilige Unterstützer in seiner Wohnsitzgemeinde lebe und sich um Asylwerber im Allgemeinen kümmere. Die genaue Adresse des jeweiligen Unterstützers sei ihm nicht bekannt, er könne auch nichts dazu sagen, wann er diese Personen das erste Mal gesehen habe. Manche der Unterstützer würden sich um Asylwerber kümmern, eine andere Unterstützerin sei behindert und arbeite selbst mit Behinderten, eine Unterstützerin habe ihn zur Einvernahme nach Linz mit dem Auto chauffiert.

Seine Kinder würden den Kindergarten besuchen, mit Ausnahme von BF6, die noch zu klein sei.

Die BF2 wurde am 11.01.2018 bei der belangten Behörde einvernommen. Auch diese legte eine Vielzahl von Unterstützungserklärungen vor sowie eine Teilnahmebescheinigung Deutsch B2 und Deutsch B1 sowie ein Prüfungszeugnis A2 samt Detailergebnis.

Auch die BF2 schilderte, dass es ihr gesundheitlich gut gehe, sie befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung, auch die Kinder seien gesund.

Die BF2 verwies darauf, seit dem Jahr 2012 verheiratet zu sein, die Kinder seien in Tschetschenien geboren, das vierte Kind hier in Österreich. In der Heimat habe sie die Grundschule und in der Folge sogar die Universität, Fakultät für XXXX , besucht und abgeschlossen. Nach dem Abschluss der Uni habe sie geheiratet und nie in ihrem erlernten Beruf gearbeitet. Der BF1 sei Jurist wie sie, es habe sich ihm lediglich eine Arbeit als Taxilenker in XXXX geboten. Der BF1 habe die erste Zeit nach dem Studium beim Gericht in XXXX gearbeitet. Die Eltern und diverse näher beschriebenen Angehörigen würden immer noch in Tschetschenien an näher genannten Adressen leben. In der Heimat habe sie über eine Eigentumswohnung verfügt, welche sich nach wie vor in ihrem Besitz befinde. In einem näher genannten Dorf würden der BF1 und sie ein eigenes Haus besitzen. Nach Österreich seien sie "wegen der Unterstützung" gekommen.

Auch die BF2 schilderte auf detaillierte Befragung, dass sie selbst niemals Probleme mit Polizei, Gericht etc. gehabt hätte, weder aus religiösen noch aus sonstigen Gründen hätte sie irgendwelche Schwierigkeiten gehabt. Die Probleme des BF1 hätten 2013 begonnen, der Mann sei damals geschlagen worden, sie hätten nie gewusst, aus welchen Gründen der Mann geschlagen worden sei. Der Mann habe sich im Dezember für ca. drei Wochen im Krankenhaus in XXXX aufgehalten. Es sei eine Anzeige auch erstattet worden, aber dabei sei nichts herausgekommen, es habe ja keine Täterbeschreibung gegeben. Sonst gäbe es keine Gründe, warum sie die Heimat verlassen hätten.

Auch die BF2 schilderte, dass die Schwester des BF1 als Dreijährige nach Österreich gekommen sei, sie würden sich kaum kennen, jeder lebe sein eigenes Leben und könne auch die BF2 nicht angeben, wo genau die Schwägerin lebe. Die Familie würde von der Grundversorgung leben, sie würden nicht arbeiten und besuche die BF2 derzeit einen Deutschkurs B2 und kümmere sich daneben um die Familie. Damit sei sie auch ausgelastet. Hier in Österreich wolle sie leben und arbeiten, den Sprachkurs abschließen und als Deutschlehrerin arbeiten.

Auch die BF2 wurde zu den Unterstützern befragt, sie schilderte dabei detaillierter als der BF1, welcher Unterstützer welche Tätigkeit ausübe ("Gattin eines Arztes; unterrichtet Deutsch in der Volkshochschule; unterrichtet Deutsch im Asylheim; ist Pensionistin und war gestern im Asylwerberheim; leitet den Kindergarten und ich habe dort bei einem Kochkurs mich engagiert; arbeitet als Psychologin und ist eine alte Frau; lebt in B.H. und wir sind Freundinnen").

2. Mit den nunmehr angefochtenen, im Familienverfahren ergangenen, Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 03.04.2018 wurden die Anträge auf internationalen Schutz der beschwerdeführenden Parteien in Spruchpunkt I. jeweils gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen. Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurden die Anträge auf internationalen Schutz in Spruchpunkt II. jeweils hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen.

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den beschwerdeführenden Parteien gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen die beschwerdeführenden Parteien jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen und unter einem gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkte III.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde jeweils ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.) und einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellte die Identität und Staatsangehörigkeit der beschwerdeführenden Parteien fest und traf umfangreiche Feststellungen zur Lage in deren Herkunftsstaat.

Die beiden erwachsenen Beschwerdeführer seien widerrechtlich und schlepperunterstützt nach Österreich eingereist. Die BF2 habe selbst überhaupt keine Probleme vorgetragen, das Vorbringen des BF1 reduziere sich darauf, dass er einmal von unbekannten Personen bedroht worden sei und im Zuge dieser Begegnung seines Mobiltelefons verlustig gegangen sei. Dieses Vorbringen entfalte jedoch keine Asylrelevanz. Nicht feststellbar sei, dass die Beschwerdeführer in der Russischen Föderation einer Verfolgung durch staatliche Organe unterliegen würden.

Im Verfahren des BF1 führte die belangte Behörde weiters aus, dass dieser von Beruf Taxilenker gewesen sei, niemals einberufen worden sei und sich auch niemals an Kriegshandlungen beteiligt habe. Der BF1 habe in XXXX und in verschiedenen Regionen als Bauhilfsarbeiter gearbeitet und sei auch am Flughafen in XXXX am Schalter tätig gewesen. Die belangte Behörde verwies auf zahlreiche nahe Angehörige, die unverändert in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien leben würden. Keiner aus der Familie würde an einer schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankung leiden.

In rechtlicher Hinsicht verwies die belangte Behörde darauf, dass der Wunsch nach Immigration in der Erwartung besserer Lebensqualität die Gewährung von Asyl nicht rechtfertigen würde. Weder aus dem Vorbringen noch aus dem Amtswissen lasse sich eine asylrelevante Verfolgung in der Russischen Föderation ableiten. Auch eine Gefährdung im Zusammenhang mit der Abschiebung sei von der belangten Behörde nicht feststellbar gewesen, sodass im Fall der Rückkehr eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht erkennbar sei.

Die belangte Behörde verwies im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung darauf, dass der BF1 zwar eine Schwester in Österreich habe, zu dieser jedoch kein Kontakt bestehe und würde auch kein Abhängigkeitsverhältnis vorliegen.

Der BF1 verfüge über Sprachkenntnisse Niveau A2, ein Sprachzertifikat oder eine Bestätigung über die Absolvierung von Sprachkursen habe dieser jedoch nicht vorgelegt. Die ganze Familie würde sich in der Grundversorgung befinden, die Mitglieder der gesamten Familie seien im selben Umfang von potenziellen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen. Die BF2 habe Deutschkenntnisse Niveau B1 aufzuweisen, ein Sprachzertifikat oder ein Nachweis über die Absolvierung eines Sprachkurses sei ebenfalls nicht vorgelegt worden.

Bei den minderjährigen Kindern sei von einer altersgemäßen Anpassungs- und Lernfähigkeit auszugehen, keines der Kinder sei schulpflichtig, weshalb auf lange Sicht gesehen nicht von unüberwindbaren Schwierigkeiten im Fall der Rückkehr auszugehen sei.

Bezüglich des Einreiseverbotes wurde von der belangten Behörde festgehalten, dass die Beschwerdeführer nicht dargelegt hätten, über entsprechende Mittel für den Unterhalt zu verfügen. Während des gesamten Aufenthaltes im Bundesgebiet sei die Familie ausschließlich auf die Leistungen Dritter bzw. der öffentlichen Hand (Grundversorgung) angewiesen gewesen.

Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung wurde von der belangten Behörde damit begründet, dass die Beschwerdeführer keine Fluchtgründe vorgebracht hätten. Im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat würde somit keine reale Gefahr einer Menschenrechtsverletzung gegeben sein, weshalb davon auszugehen sei, dass die sofortige Umsetzung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Interesse eines geordneten Fremdenwesen geboten sei.

Gegen diese Bescheide wurde fristgerecht Beschwerde erhoben, wobei vorerst der bisherige Verfahrensgang wiedergegeben wurde. BF2 sei gerade schwanger, die beiden erwachsenen BF hätten im Jahre XXXX in Tschetschenien geheiratet. BF1 sei wie dargestellt im Dezember 2013 von ihm unbekannten Personen überfallen und geschlagen worden und hätten ihm diese das Mobiltelefon abgenommen. Aus Angst vor diesen Personen, welche die BF2 während des Krankenhausaufenthaltes des BF1 aufgesucht hätten, wäre die BF2 mit den Kindern zu ihrer Familie gezogen. Der BF1 hätte im März 2014 während eines Aufenthalts bei einem Onkel einen Schlaganfall erlitten und hätte drei Wochen im Krankenhaus verbracht. Danach sei der BF1 nach Österreich gekommen und sei die BF2 im Dezember 2014 mit den Kindern nachgereist.

Kürzlich hätten die BF von einem Nachbarn, mit dem sie in telefonischem Kontakt stehen, erfahren, dass der BF1 mit Foto von der Polizei gesucht werde.

BF2 sei in der siebenten Woche schwanger und müsse demnächst ins Krankenhaus zur Kontrolle. BF4 wiederum höre auf einem Ohr schlecht und müsse diesbezüglich wohl operiert werden. Hinzu komme, dass dieser auch ein Loch im Herzen habe und müsse diesbezüglich öfters untersucht werden. Eine etwaige Herz-Operation könne bis dato noch nicht ausgeschlossen werden. BF5 höre ebenfalls auf einem Ohr schlecht und auch bei diesem könne es sein, dass er diesbezüglich operiert werden müsse. BF4 habe darüber hinaus eine Vorhautverengung, diesbezüglich müsse er operiert werden und habe die BF6 im März 2016 einen Krampfanfall gehabt und hätte diesbezüglich behandelt werden müssen.

Zudem würde zur Schwester BF1 eine sehr enge Beziehung bestehen, sie würden sich so oft es gehe besuchen und regelmäßig telefonieren. Die BF seien nachweislich bestens in Österreich integriert, BF2 habe auch schon die Deutschprüfung B2 versucht, wobei sie zumindest den mündlichen Teil geschafft habe. BF1 besuche derzeit den Deutschkurs B1. Darüber hinaus wurde auf allgemeine Länderberichte verwiesen, wonach erkennbar sei, dass die Justiz und Polizei in der Russischen Föderation korrupt sei. Es wurde auf schlechte Bedingungen im Haftvollzug und in Gefängnissen verwiesen. Zudem weise das Protokoll der Einvernahme Mängel auf, so sei etwa protokolliert worden, dass die beiden erwachsenen BF im Jahr XXXX geheiratet hätten. Zudem stehe beim BF1, dass dieser keine Ausbildung habe, er habe aber ein College besucht und Rechtswissenschaften studiert. Die BF würden befürchten, dass es sich bei den Personen, die den BF1 überfallen haben, um Polizisten handeln könnte. Dies werde dadurch untermauert, dass der BF1 erst kürzlich, nach der Einvernahme vom BFA, telefonisch durch einen Nachbarn aus Tschetschenien erfahren habe, dass die Polizei mit Foto nach ihm suche. Darüber hinaus hätte sich die belangte Behörde wie dargestellt nicht ausreichend mit der gesundheitlichen Situation der BF auseinandergesetzt. Der Beschwerde beigelegt waren diverse Arztbriefe sowie ein Zertifikat betreffend die BF2, wonach diese die Prüfung ÖSD Zertifikat B2 nicht bestanden hat. Beigelegt waren erneut diverse Unterstützungsschreiben und diverse Fotos, welche die Beschwerdeführer im Alltag in ihrer Wohnsitzgemeinde zeigen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Anträge auf internationalen Schutz, der Einvernahmen der erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.04.2018, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, Zentrale Fremdenregister, Strafregister und Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation aus der Teilrepublik Tschetschenien und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe sowie des islamischen Glaubens. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern der Dritt- bis SechstbeschwerdeführerInnen. Im Herkunftsstaat halten sich nach wie vor der Vater und zwei Geschwister des Erstbeschwerdeführers sowie die Eltern und fünf Geschwister der Zweitbeschwerdeführerin mit deren Familien auf. Vor ihrer Ausreise lebten die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam vom Einkommen des BF1, beide erwachsenen BF verfügen über eine fundierte Ausbildung, eine Eigentumswohnung und ein Haus in Tschetschenien.

Die beschwerdeführenden Parteien stellten infolge illegaler Einreise bzw. nach Geburt die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz und halten sich seither durchgehend im Bundesgebiet auf.

Die beschwerdeführenden Parteien waren in ihrem Herkunftsstaat in der Vergangenheit keiner Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten ausgesetzt und drohen ihnen solche auch in Zukunft nicht.

Nicht festgestellt werden kann, dass die beschwerdeführenden Parteien im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würden oder von der Todesstrafe bedroht wären.

Der Gesundheitszustand der beschwerdeführenden Parteien steht einer Rückkehr in den Herkunftsstaat im Lichte von Art. 3 EMRK jeweils nicht entgegen.

Nicht festgestellt werden kann, dass eine ausgeprägte und verfestigte Integration der unbescholtenen beschwerdeführenden Parteien in Österreich vorliegt. Diese leben von der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Außerhalb ihrer Kernfamilie verfügen die beschwerdeführenden Parteien insofern über familiäre oder sonstige enge soziale Bezugspunkte im Bundesgebiet, als eine Schwester des BF1 seit langem hier lebt. Die beschwerdeführenden Parteien haben sich Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet, gingen jedoch keiner dauerhaften Erwerbstätigkeit (abgesehen von Hilfstätigkeiten des BF1 in der Wohnsitzgemeinde) oder ehrenamtlichen Tätigkeit nach und sind nicht Mitglieder in Vereinen, die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführerinnen besuchen den Kindergarten im Bundesgebiet.

Die beschwerdeführenden Parteien verfügen über kein schützenswertes Familien- und Privatleben in Österreich.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:

1.2.1. Die aktuelle politische und menschenrechtliche Situation in der Russischen Föderation (Tschetschenien) stellt sich unter Heranziehung der erstinstanzlichen Feststellungen dar wie folgt:

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).

Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).

Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS - v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom 2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei 220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000 militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau 12.2016).

Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - der Einsatz von Artillerie und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen Streitkräften in Latakia - hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch 10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300 Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet werden, dürften sie von der Eliteeinheit Speznas innerhalb der tschetschenischen Streitkräfte rekrutiert worden sein (FP 4.5.2017).

Für den Kreml hat der Einsatz der nordkaukasischen Brigaden mehrere Vorteile. Zum einen reagiert die russische Bevölkerung sehr sensibel auf Verluste der russischen Armee in Syrien. Verluste von Personen aus dem Nordkaukasus würden wohl weniger Kritik hervorrufen. Zum anderen ist der wohl noch größere Vorteil jener, dass sowohl Tschetschenen, als auch Inguscheten fast alle sunnitische Muslime sind und somit derselben islamischen Richtung angehören, wie ein Großteil der syrischen Bevölkerung. Die mehrheitlich sunnitischen Brigaden könnten bei der Bevölkerung besser ankommen, als ethnisch russische Soldaten. Außerdem ist nicht zu vernachlässigen, dass diese Einsatzkräfte schon über Erfahrung am Schlachtfeld verfügen, beispielsweise vom Kampf in der Ukraine (FP 4.5.2017).

Bis jetzt war der Einsatz der tschetschenischen und inguschetischen Bodentruppen auf Gebiete beschränkt, die für den Kreml von entscheidender Bedeutung waren. Obwohl es momentan eher unwahrscheinlich scheint, dass die Rolle der nordkaukasischen Einsatzkräfte bald ausgeweitet wird, agieren diese wohl weiterhin als die Speerspitze in Moskaus Strategie, seinen Einfluss in Syrien zu vergrößern (FP 4.5.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.7.2017b): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 21.7.2017

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FAZ (26.4.2017):"Erst der Anfang", http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/anschlag-in-st-petersburg-russland-steht-im-visier-von-terror-14989012.html, Zugriff 21.7.2017

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FP - Foreign Policy (4.5.2017): Putin has a new secret weapon in Syria: Chechens,

http://foreignpolicy.com/2017/05/04/putin-has-a-new-secret-weapon-in-syria-chechens/, Zugriff 21.7.2017

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ICG - International Crisis Group (14.3.2016): The North Caucasus Insurgency and Syria: An Exported Jihad?

http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1458642687_238-the-north-caucasus-insurgency-and-syria-an-exported-jihad.pdf, S. 16-18, Zugriff 21.7.2017

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ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

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Mena Watch (10.5.2017): Russland setzt auf sunnitische Soldaten in Syrien,

http://www.mena-watch.com/russland-setzt-auf-sunnitische-soldaten-in-syrien/, Zugriff 21.7.2017

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Standard (25.4.2017): Al-Kaida reklamiert Anschlag auf U-Bahn in St. Petersburg für sich,

https://derstandard.at/2000056544365/Al-Kaida-reklamiert-Anschlag-auf-U-Bahn-in-St-Petersburg?ref=rec, Zugriff 21.7.2017

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 21.7.2017

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 21.7.2017

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 21.7.2017

0.1. Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, vor allem jedoch an der derzeit prominentesten und brutalsten Jihad-Front in Syrien und im Irak (SWP 4.2015).

2016 gab es in Tschetschenien 43 Opfer des bewaffneten Konfliktes (2015: 30; 2014: 117), davon 27 Tote und 16 Verwundete (Caucasian Knot 2.2.2017).

Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) hat einen Anschlag auf einen russischen Militärstützpunkt in Tschetschenien für sich reklamiert. Sechs Angreifer hätten am Freitag, den 24.3.2017 eine Militärbasis der russischen Nationalgarde nahe dem Dorf Naurski im Nordwesten Grosnys in Tschetschenien gestürmt. Alle Angreifer seien bei den mehrstündigen Kämpfen auf dem Stützpunkt getötet worden (Zeit Online 24.3.2017). Nach Armeeangaben wurden bei dem Angriff auch sechs russische Nationalgardisten getötet. Die Nationalgarde erklärte, der Angriff sei in den frühen Morgenstunden bei dichtem Nebel erfolgt. Die Soldaten auf dem Stützpunkt hätten den Angriff zurückgeschlagen. Außer den Toten habe es auch Verletzte gegeben. Die im vergangenen Jahr gebildete Nationalgarde ist direkt dem russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstellt. Sie hat den Auftrag, Grenzen zu schützen und Extremisten zu bekämpfen (Focus Online 24.3.2017).

Quellen:

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Caucasian Knot (2.2.2017): Statistics of victims in Northern Caucasus for 2016, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/38325/, Zugriff 18.7.2017

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Focus Online (24.3.2017): Sechs Rebellen und sechs Soldaten bei Anschlag getötet,

http://www.focus.de/politik/ausland/in-tschetschenien-sechs-rebellen-und-sechs-soldaten-bei-anschlag-getoetet_id_6830787.html, Zugriff 18.7.2017

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 18.7.2017

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Zeit Online (24.3.2017): IS bekennt sich zu Anschlag auf russischen Stützpunkt in Tschetschenien, http://www.zeit.de/news/2017-03/24/russland-is-bekennt-sich-zu-anschlag-auf-russischen-stuetzpunkt-in-tschetschenien-24162602, Zugriff 18.7.2017

1. Rechtsschutz/Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassung, Zivil, Administrativ und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen. In Strafprozessen kommt es nur sehr selten (lt. Amnesty International in 0,5% der Fälle) zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen. 2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte. Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass wenn der EGMR von einer Konventionsauslegung ausgeht, die der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht, Russland in dieser Situation aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang sind. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings weiterhin um Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2016, vgl. AA 24.1.2017).

Am 7. Juli 2016 wurden die unter dem Begriff Yarovaya-Paket zusammengefassten Änderungen der Gesetze zur Bekämpfung des Extremismus in Kraft gesetzt. Die geänderten Rechtsvorschriften waren zu weiten Teilen unvereinbar mit Russlands internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte. So wurden alle missionarischen Aktivitäten außerhalb eigens dazu bestimmter religiöser Institutionen verboten und Provider dazu verpflichtet, den gesamten Nachrichtenverkehr sechs Monate lang und alle Metadaten drei Jahre lang zu speichern. Zudem wurde die Höchststrafe für extremistische Delikte von vier auf acht Jahre und für Anstiftung zur Beteiligung an Massenunruhen von fünf auf zehn Jahre Haft angehoben. Am 16. November 2016 kündigte Präsident Putin an, dass Russland nicht länger beabsichtige, Vertragsstaat des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs zu werden. Russland hatte das Statut im Jahr 2000 unterschrieben, jedoch nie ratifiziert (AI 22.2.2017).

Im November 2013 ist in Russland ein Gesetz verabschiedet worden, mit denen man die Bestrafung von Familien und Verwandten von Terrorverdächtigen erreichen wolle und die darauf abzielen würden, die "harte Form" des Kampfes gegen den Aufstand, die bereits in mehreren Republiken im Nordkaukasus praktiziert wird, zu legalisieren. Die Gesetzgebung erlaubt es den Behörden, die Vermögenswerte der Familien von Terrorverdächtigen zu beschlagnahmen und die Familien dazu zu verpflichten, für Schäden aufzukommen, die durch Handlungen der Terrorverdächtigen entstanden sind (CACI 11.12.2013, vgl. US DOS 3.3.2017).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkei

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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