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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 2005 §3 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Fasching und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des F K in W, vertreten durch Mag. Dr. Thomas Humer, LL.M., Rechtsanwalt in 4600 Wels, Dr.-Koss-Straße 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2017, Zl. L514 2148607-1/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 6. Februar 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.
2 Im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) brachte er zusammengefasst vor, dass er in Mosul vom "Islamischen Staat" (IS) bedroht werde.
3 Mit Bescheid vom 6. Februar 2017 wies das BFA den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), stellte fest, dass die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.) und setzte dem Revisionswerber eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers nicht glaubwürdig sei und keine Umstände hervorgekommen seien, die nahelegen würden, dass er im Falle seiner Rückkehr in den Irak in eine ausweglose Lage gerate.
4 Mit Erkenntnis vom 30. Juni 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde - ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, das BFA habe ein mängelfreies ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und sei zu Recht davon ausgegangen, dass der Revisionswerber keine asylrelevanten Gründe glaubhaft darlegen habe können. Weder sei der Revisionswerber in der Beschwerde der Feststellung des BFA, wonach der Revisionswerber im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würde, entgegen getreten, noch könne eine solche Notlage aus den Feststellungen zur Lage im Irak abgeleitet werden.
Da der Sachverhalt aus der Aktenlage und zwar nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung des BFA in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine, habe eine mündliche Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) unterbleiben können.
Das erstmals in der Beschwerde erstattete Vorbringen zum ähnlichen Schicksal zweier Cousins des Revisionswerbers, die ebenfalls in Mosul ein Juweliergeschäft gehabt hätten und wegen Drohungen vom "IS" geflohen seien, qualifizierte das BVwG als gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstoßend.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verfahrensakten - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
6 In der Revision wird zur Zulässigkeit unter anderem vorgebracht, das BVwG sei von der näher genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 21 Abs. 7 BFA-VG abgewichen, weil es die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen habe.
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, grundlegend dargelegt, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen, die Abstandnahme von der Durchführung einer (beantragten) mündlichen Verhandlung ermöglichenden - und hier allein in Betracht zu ziehenden - Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint", folgende Kriterien beachtlich sind:
Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
9 Diesen in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen.
10 Das BVwG hat sich zwar der Beurteilung des BFA, das Vorbringen des Revisionswerbers sei nicht glaubwürdig, angeschlossen, diese Annahme aber mit dem Aufzeigen weiterer, vom BFA nicht aufgegriffener und somit erstmals thematisierter Aspekte untermauert. Dies betrifft insbesondere die Ausführungen zur Zurückdrängung des "Islamischen Staats" (IS) auf ein Gebiet hauptsächlich bestehend aus der Altstadt in West-Mosul durch irakische Sicherheitskräfte im Zusammenhang mit der Verneinung einer asylrelevanten Verfolgung. Das BVwG hat damit tragende Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung - entgegen seiner eigenen Ausführungen und wie die Revision zu ihrer Zulässigkeit geltend macht - nicht bloß unwesentlich ergänzt. Eine solche Beweiswürdigung hat regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck vom Asylwerber gewonnen werden konnte, zu erfolgen (vgl. VwGH 6.7.2016, Ra 2015/01/0207, mwN).
11 Auch hat das BVwG es selbst für erforderlich erachtet, die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Revisionswerbers disloziert - anhand von neu ins Verfahren eingeführten Informationen zu aktuellen Entwicklungen in Mosul - zu aktualisieren.
12 Das BVwG konnte daher nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen, sondern hätte nach den oben dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.
13 Die angefochtene Entscheidung war schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. April 2018
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017010227.L00Im RIS seit
14.06.2018Zuletzt aktualisiert am
27.06.2018