Entscheidungsdatum
23.04.2018Index
41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
NAG 2005 §28Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Landesverwaltungsgericht Tirol erkennt durch seinen Richter Mag. Dr. Rieser über die Beschwerden der Z Staatsangehörigen AA, geboren am **.**.****, vertreten durch RA BB, Adresse 1, Y, gegen
I. den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XY vom 19.02.2018, Zl ****, betreffend den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XY vom 19.06.2017, Zl ****, sowie
II. den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XY vom 19.06.2017, Zl ****, betreffend den Entzug des Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ mit einer Gültigkeit von 14.03.2017 bis 10.01.2018 gemäß § 28 Abs 5 NAG
zu Recht:
1. Der Beschwerde zu Punkt I. wird Folge gegeben und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt.
2. Der Beschwerde zu Punkt II. wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.
3. Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
I. Verfahrensgang:
Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XY vom 19.06.2017, Zl ****, wurde der Beschwerdeführerin der Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ mit einer Gültigkeit von 14.03.2017 bis 10.01.2018 entzogen. In der Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen des besonderen Teils des NAG (§ 46 Abs 1 Z 1 NAG), welche Grundlage für die Erteilung des Aufenthaltstitels gewesen seien, nicht mehr bestehen würden und der Aufenthaltstitel gemäß § 28 Abs 5 NAG zu entziehen gewesen sei.
In weiterer Folge wurde der Bescheid durch öffentliche Bekanntmachung an der Amtstafel der Bezirkshauptmannschaft XY von 22.06.2017 bis 06.07.2017 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 05.02.2018 beantragte die rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XY vom 19.06.2017, Zl ****, und holte unter einem die versäumte Prozesshandlung nach.
Den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründete die Beschwerdeführerin zusammengefasst wie folgt: Am 22.03.2017 habe der frühere Ehemann der nunmehrigen Beschwerdeführerin auf ihrem Mobiltelefon entdeckt, dass diese mit einer männlichen Person Kontakt gehabt habe. Der Ehemann sei daraufhin überzeugt gewesen, dass ihn die Beschwerdeführerin betrogen habe. In der Folge sei es zu einer heftigen Auseinandersetzung und zu einem Nervenzusammenbruch der Beschwerdeführerin gekommen. Aufgrund der akuten Belastungsreaktion habe sie mit einer Begleitperson ein Krankenhaus aufsuchen müssen. Am 25.03.2017 habe die Beschwerdeführerin die gemeinsame Ehewohnung verlassen und sei nach Z geflogen. Dort sei mit Beschluss des Bezirksgerichtes X die Ehe geschieden worden. Die Beschwerdeführerin habe sich bis Mitte August 2017 in einer außerordentlich schlechten psychologischen Verfassung befunden und habe auch in Z noch einmal ein Krankenhaus aufsuchen müssen. Sie sei nicht in der Lage gewesen, sich gegen die Vorwürfe ihre Ehemannes zu wehren und habe sie daher auch große Schwierigkeiten mit ihrer Familie gehabt. Aufgrund ihrer schlechten psychischen Verfassung habe die Beschwerdeführerin der Bezirkshauptmannschaft XY ihren Aufenthaltsort nicht mitgeteilt, sodass der Entziehungsbescheid durch Kundmachung an der Amtstafel zugestellt geworden sei und sie davon keine Kenntnis nehmen haben können. Die Beschwerdeführerin sei daher durch ihre Unkenntnis von dem Entziehungsbescheid infolge ihrer schlechten psychischen Verfassung im Zeitraum von 22.03.2017 bis Mitte August 2017 daran gehindert gewesen, die Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen den Entziehungsbescheid einzuhalten. Die Beschwerdeführerin treffe daher kein Verschulden an der Versäumung der Beschwerdefrist oder nur ein minderer Grad des Versehens.
Zur Beschwerde gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XY vom 19.06.2017, Zl ****, führte sie begründend aus: Die Entziehung eines Rechtes nur solange möglich, als dieses Recht bestehe. Wenn das eingeräumte Recht durch Zeitablauf erloschen sei, sei eine Entziehung desselben durch die Behörde somit nicht mehr möglich. Mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels erlange der Fremde das Recht, sich länger als sechs Monate im Bundesgebiet aufzuhalten. Ist ein Aufenthaltstitel nunmehr befristet erteilt worden, könne dieser nur während seiner Gültigkeit nach Maßgabe des § 28 NAG entzogen werden. Wurde eine Entziehung jedoch bis zum Ende der Gültigkeit des Aufenthaltstitels nicht rechtskräftig, etwa weil der befristete Aufenthaltstitel während eines Rechtsmittelverfahrens durch Zeitablauf ungültig wurde, sei die rückwirkende Entziehung des vormals gültig gewesenen Aufenthaltstitels mangels Bestehens einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage nicht möglich. Nur in dem Fall, in welchem die Behörde bei Erlassung des Bescheides, in dem sie die Entziehung des befristeten Aufenthaltstitel ausgesprochen hat, die aufschiebende Wirkung der Beschwerde ausgeschlossen hat, bestehe für die Rechtsmittelbehörde die Möglichkeit festzustellen, ob die Entziehung des im Laufe des Rechtsmittelverfahrens abgelaufenen Aufenthaltstitels ab dem Zeitpunkt der Erlassung des behördlichen Bescheides rechtmäßig gewesen sei. Nachdem der betreffende Aufenthaltstitel nur bis 10.01.2018 gültig gewesen sei, könne dieser nun nicht mehr vom zuständigen Verwaltungsgericht entzogen werden. Schon aus diesem Grund sei der Beschwerde Folge zu geben.
Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XY vom 19.02.2018, Zl ****, wurde der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 71 AVG zurückgewiesen. Begründend führte die Behörde aus, dass Zustellungen im Falle des Nichtvorliegens der Voraussetzungen für eine Aufrechterhaltung des Aufenthaltstitels vorhersehbar seien und könne nicht von einem minderen Grad des Versehens ausgegangen werden. Die Argumentation mit einer schlechter psychologischen Verfassung könne nicht zur Begründung eines Wiedereinsetzungsantrages bzw eines nur minderen Grades des Versehens dienen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die vom Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin fristgerecht eingebrachte Beschwerde, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wird, dass der angefochtene Bescheid unrichtig sei. Entscheidend sei nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob der Beschwerdeführerin auf Grund ihres damaligen Gesundheitszustandes und der sich daraus ergebenden Beeinträchtigungen der Vorwurf zu machen sei, mit der Unterlassung einer Mitteilung ihres Auslandsaufenthaltes an die österreichischen Behörden habe sie das unter den konkreten Umständen zumutbare Maß an Aufmerksamkeit und Mühe so krass unterschritten, dass sich darauf das Urteil auffallender Sorglosigkeit gründen lasse. Bei nicht rechtskundigen Parteien sei bei der Beurteilung des Verschuldens ein weniger strenger Maßstab anzulegen. Eine auffallende Sorglosigkeit könne der rechtsunkundigen Beschwerdeführerin nicht vorgeworfen werden. Dass die verhältnismäßig junge und unerfahrene Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer tiefgreifenden psychischen Probleme nicht daran dachte, ihren kurzfristig geplanten und vorübergehenden Auslandsaufenthalt an die österreichischen Behörden zu melden, bedeute kein krasses Unterschreiten des unter den konkreten Umständen zumutbaren Maßes an Aufmerksamkeit und Mühe. Es liege höchstens ein minderer Grad des Versehens vor. Es werde daher beantragt, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, in eventu die Aufhebung des angefochtenen Bescheides und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die belangte Behörde zur Erlassung eines neuen Bescheides sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren.
Aufgrund dieser Beschwerde wurde der Akt dem Landesverwaltungsgericht Tirol zur Entscheidung vorgelegt.
Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde.
II. Sachverhalt:
Aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens steht – ergänzend zum obigen unstrittigen Sachverhalt – nachfolgender weiterer entscheidungswesentlicher Sachverhalt als erwiesen fest:
Die Beschwerdeführerin ist Z Staatsangehörige. Sie heiratete am **.**.**** den Z Staatsangehörigen CC, geboren am **.**.****. In weiterer Folge zog die Beschwerdeführerin nach Österreich und wohnte mit ihrem Ehemann in ehelicher Lebensgemeinschaft in W.
Am 10.03.2017 beantragte die Beschwerdeführerin bei der Bezirkshauptmannschaft XY die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 46 Abs 1 Z 1 NAG als Familienangehörige ihres damaligen Ehemannes. Der Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ wurde am 13.03.2017 mit einer Gültigkeit bis 10.01.2018 erteilt.
Am 28.03.2017 wurde beim Gericht des Gerichtsbezirkes X, Z, die Scheidung der Ehe beantragt. Mit Beschluss des Gerichtes des Gerichtsbezirkes X, Z, vom 03.05.2017 wurde die Ehe der Beschwerdeführerin geschieden. Dieser Beschluss wurde am 18.05.2017 rechtskräftig.
Die Beschwerdeführerin war im Zeitraum von 04.05.2016 bis 24.03.2017 mit Hauptwohnsitz an der Adresse 2 in W gemeldet. Die Abmeldung dieses Wohnsitzes hat sie der zuständigen Meldebehörde nicht bekannt gegeben.
Am 31.08.2017 reiste die Beschwerdeführerin wieder nach Österreich ein. Am 06.09.2017 meldete sie ihren Hauptwohnsitz an der Adresse 3 in Y.
Am 04.12.2017 beantragte die Beschwerdeführerin beim Magistrat der Stadt Y die Verlängerung des Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“. Ob die Beschwerdeführerin im Zuge dessen von der Entziehung der „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ durch die Bezirkshauptmannschaft in Kenntnis gesetzt wurde, kann nicht festgestellt werden.
Am 18.01.2018 erhielt die Beschwerdeführerin ein Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, wonach sie nicht mehr rechtmäßig in Österreich aufhältig sei. Im Zuge eines Beratungsgesprächs in der Rechtsanwaltskanzlei DD und eines Anrufs beim Magistrat der Stadt Y erlangte die Beschwerdeführerin Kenntnis vom Entzug der „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ durch die Bezirkshauptmannschaft XY.
III. Beweiswürdigung:
Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich unstrittig und in unbedenklicher Weise aus dem Akt der belangten Behörde sowie aus den im Akt erliegenden Urkunden.
Die von der Beschwerdeführerin beantragte Durchführung einer mündlichen Verhandlung war aus folgenden Gründen nicht erforderlich:
Gemäß § 24 Abs 2 ff VwGVG kann das Landesverwaltungsgericht ungeachtet eines Parteienantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Schriftsätze der Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und die dem Landesverwaltungsgericht vorgelegten Akten des Verwaltungsverfahrens erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und wenn Art 6 Abs 1 EMRK dem nicht entgegensteht.
Der EGMR hat in seinen Entscheidungen vom 10. Mai 2007, Nr 7401/04 (Hofbauer/Österreich Nr 2), und vom 3. Mai 2007, Nr 17912/05 (Bösch/Österreich), unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung dargelegt, dass der Beschwerdeführer grundsätzlich ein Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal hat, außer es lägen außergewöhnliche Umstände vor, die eine Ausnahme davon rechtfertigten. Der EGMR hat das Vorliegen solcher außergewöhnlichen Umstände angenommen, wenn das Verfahren ausschließlich rechtliche oder "hoch-technische" Fragen ("exclusively legal or highly technical questions") betrifft. Der Gerichtshof verwies im Zusammenhang mit Verfahren betreffend ziemlich technische Angelegenheiten ("rather technical nature of disputes") auch auf das Bedürfnis der nationalen Behörden nach zweckmäßiger und wirtschaftlicher Vorgangsweise, das angesichts der sonstigen Umstände des Falles zum Absehen von einer mündlichen Verhandlung berechtige.
In seinem Urteil vom 18. Juli 2013, Nr 56.422/09 (Schädler-Eberle/Liechtenstein), hat der EGMR in Weiterführung seiner bisherigen Judikatur dargelegt, dass es Verfahren gebe, in denen eine Verhandlung nicht geboten sei, etwa wenn keine Fragen der Beweiswürdigung aufträten oder die Tatsachenfeststellungen nicht bestritten seien, sodass eine Verhandlung nicht notwendig sei und das Gericht auf Grund des schriftlichen Vorbringens und der schriftlichen Unterlagen entscheiden könne.
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt ist hier geklärt. In den vorliegenden Beschwerden wurden ausschließlich Rechtsfragen aufgeworfen, zu deren Lösung im Sinne der Judikatur des EGMR eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Art 6 EMRK steht somit dem Absehen von einer mündlichen Verhandlung nicht entgegen. Die Entscheidung konnte daher im Sinne des § 39 Abs 2 Z 6 VwGG in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden (VwGH vom 24.6.2016, 2011/05/0182).
IV. Rechtslage:
Die hier maßgebliche Bestimmung des § 71 AVG, BGBl Nr 51/1991 zuletzt geändert durch BGBl I Nr 161/2013, lautet wie folgt:
„Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
§ 71
(1) Gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung ist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn:
1. die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft, oder
2. die Partei die Rechtsmittelfrist versäumt hat, weil der Bescheid keine Rechtsmittelbelehrung, keine Rechtsmittelfrist oder fälschlich die Angabe enthält, daß kein Rechtsmittel zulässig sei.
(2) Der Antrag auf Wiedereinsetzung muß binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses oder nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit der Berufung Kenntnis erlangt hat, gestellt werden.
(3) Im Fall der Versäumung einer Frist hat die Partei die versäumte Handlung gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag nachzuholen.
(4) Zur Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist die Behörde berufen, bei der die versäumte Handlung vorzunahmen war oder die die versäumte Verhandlung angeordnet oder die unrichtige Rechtsmittelbelehrung erteilt hat.
(5) Gegen die Versäumung der Frist zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrages findet keine Wiedersetzung in den vorigen Stand statt.
(6) Die Behörde kann dem Antrag auf Wiedereinsetzung aufschiebende Wirkung zuerkennen.
(7) Der Wiedereinsetzungsantrag kann nicht auf Umstände gestützt werden, die die Behörde schon früher für unzureichend befunden hat, um die Verlängerung der versäumten Frist oder die Verlegung der versäumten Verhandlung zu bewilligen.“
Die hier maßgebliche Bestimmung des § 28 NAG, BGBl I Nr 100/2005 zuletzt geändert durch BGBl I Nr 145/2017, lautet wie folgt:
„Rückstufung und Entziehung eines Aufenthaltstitels
§ 28
(1) Liegen gegen einen Inhaber eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt – EU“ (§ 45) die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor, kann diese Maßnahme aber im Hinblick auf § 9 BFA-VG nicht verhängt werden, hat die Behörde das Ende des unbefristeten Niederlassungsrechts mit Bescheid festzustellen und von Amts wegen einen befristeten Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ auszustellen (Rückstufung).
(2) Drittstaatsangehörigen, die im Besitz eines Aufenthaltstitels sind, kann dieser entzogen werden, wenn gegen sie eine rechtskräftige, vollstreckbare Rückführungsentscheidung (Aufenthaltsverbot) eines anderen EWR-Mitgliedstaates vorliegt, der mit einer akuten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder nationale Sicherheit begründet wird und das Aufenthaltsverbot
1. auf der strafrechtlichen Verurteilung einer mit mindestens einjähriger Freiheitsstrafe bedrohten vorsätzlichen Straftat beruht;
2. erlassen wurde, weil ein begründeter Verdacht besteht, dass der Drittstaatsangehörige Straftaten nach Z 1 begangen habe oder konkrete Hinweise bestehen, dass er solche Straftaten im Hoheitsgebiet eines EWR-Mitgliedstaates plante, oder
3. erlassen wurde, weil der Drittstaatsangehörige gegen die Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen des Entscheidungsstaates verstoßen hat.
(3) Die Entziehung des Aufenthaltstitels nach Abs. 2 ist unzulässig, wenn durch die Vollstreckung der Rückführungsentscheidung Art. 2 und 3 EMRK, das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe, BGBl. Nr. 138/1985, oder das Protokoll Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe, BGBl. III Nr. 22/2005, verletzt würde.
(4) Würde durch die Entziehung des Aufenthaltstitels nach Abs. 2 in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen werden, so ist diese Entziehung nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(5) Aufenthaltstitel sind zu entziehen, wenn die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des 2. Teiles nicht mehr vorliegen. Von einer Entziehung kann abgesehen werden, wenn ein Fall des § 27 Abs. 1 bis 3 vorliegt oder dem Fremden im Rahmen eines Zweckänderungsverfahrens (§ 26) ein anderer Aufenthaltstitel zu erteilen ist. § 10 Abs. 3 Z 1 gilt.
(6) Aufenthaltstitel gemäß §§ 41, 42, 43a Abs. 1 Z 1, 58 und 58a sind überdies zu entziehen, wenn die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice der Behörde mitteilt, dass die jeweiligen Voraussetzungen gemäß §§ 12 bis 12c, 14 oder 18a AuslBG nicht länger vorliegen. Im Falle der Entziehung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 58 oder 58a ist der Bescheid auch der aufnehmenden Niederlassung gemäß § 2 Abs. 13 AuslBG zuzustellen.“
V. Erwägungen:
Gemäß § 71 Abs 1 Z 1 AVG ist unter anderem gegen die Versäumung einer Frist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dann zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft.
Als Ereignis ist nicht nur ein tatsächliches, in der Außenwelt stattfindendes, sondern prinzipiell jedes, auch inneres, psychisches Geschehen, ein psychologischer Vorgang – einschließlich der „menschlichen Unzulänglichkeit“ – anzusehen. Zu den Ereignissen iSd § 71 Abs 1 Z 1 AVG, die zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand führen können, zählt die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes folglich heute auch „innere (psychologische) Vorgänge“, wie zB Vergessen und Versehen. Das Ereignis muss für das Versäumen der Frist oder der mündlichen Verhandlung kausal sein, dh der Wiedereinsetzungswerber muss daran gehindert gewesen sein, die Frist einzuhalten (Hengstschläger/Leeb, AVG § 71, Rz 34 ff).
Ein Ereignis ist dann "unabwendbar" iSd § 71 Abs 1 Z 1 AVG, wenn sein Eintritt objektiv von einem Durchschnittsmenschen nicht verhindert werden kann; "Unvorhergesehen" im Sinn dieser Gesetzesbestimmungen ist es hingegen, wenn die Partei es tatsächlich nicht mit-einberechnet hat und seinen Eintritt auch unter Bedachtnahme auf die zumutbare Aufmerk-samkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte (Hengstschläger/Leeb, AVG § 71, Rz 38 f).
Maßgeblich ist, dass die Partei an der Versäumung der Frist kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft. Der Wiedereinsetzungswerber darf also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, dh er darf die im Verkehr mit Behörden für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt nicht außer Acht gelassen haben (vgl VwGH vom 08.10.1990, 90/15/0134, 20.01.2000 98/06/0108, 27.06.2008, 2008/11/0099).
Im vorliegenden Fall ist strittig, ob die belangte Behörde auf Grund des aktenkundigen Verfahrenslaufes und der zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages vorgetragenen Behauptungen von einem minderen Grad des Versehens übersteigenden Verschulden der Beschwerdeführerin an der Versäumung der Frist ausgehen durfte.
Der erwähnte Verschuldensmaßstab wird vom Verwaltungsgerichtshof- wie vom Obersten Gerichtshof und vom Verfassungsgerichtshof – als Verweisung auf die Abgrenzung zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit im Zivilrecht verstanden. Die Grenze zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit kann nicht mit der Grenze zwischen dem Fehlen eines Verschuldens und (leichter) Fahrlässigkeit identisch sein. Wird – Fasching (Lehrbuch des österreichischen Zivilprozessrechts, Rz 580) folgend – formuliert, der Wiedereinsetzungswerber dürfe „nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die … erforderliche und ihm nach persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen haben“, so bedeutet dies nur dann keine Gleichsetzung von Verschulden schlechthin und grober Fahrlässigkeit, wenn dem Begriff der „erforderlichen und … zumutbaren Sorgfalt“ eine Fahrlässigkeit nicht ausschließende Bedeutung beigemessen wird. Ausgehend von dem im Schadenersatzrecht gebräuchlichen Verständnis des Begriffs der erforderlichen und zumutbaren Sorgfalt muss diese Sorgfalt hingegen qualifiziert unterschritten werden, damit von grober Fahrlässigkeit gesprochen werden kann (VwGH vom 24.05.2005, 2004/01/0558).
Die belangte Behörde hat ihre Entscheidung auf die Ansicht gestützt, die Beschwerdeführerin habe die ihr konkret zumutbare Sorgfalt so weitgehend unterschritten, dass ihr Verschulden an der Versäumung der Beschwerdefrist einen minderen Grad des Versehens übersteige.
Dieser Beurteilung ist nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes nicht beizupflichten. Die rechtsunkundige und verhältnismäßig junge sowie unerfahrene Beschwerdeführerin befand sich aufgrund der Auseinandersetzung mit ihrem Ehemann und der darauffolgenden Scheidung in einem psychischen Ausnahmezustand. Sie konnte ihren Gesundheitszustand und die sich daraus ergebenden Beeinträchtigungen weder voraussehen noch abwenden. Im Zuge dessen hat sie es verabsäumt, die Abmeldung ihres Hauptwohnsitzes der zuständigen Behörde bekanntzugeben. Darin liegt unter den konkreten Umständen keine auffallende Sorglosigkeit, vielmehr wurde die erforderliche zumutbare Aufmerksamkeit gewahrt und handelt es sich um einen Fehler, den gelegentlich auch ein sorgfältiger Mensch macht.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht, wenn es in der Sache selbst entscheidet, seine Entscheidung an der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage auszurichten; allfällige Änderungen des maßgeblichen Sachverhalts und der Rechtslage sind also zu berücksichtigen (vgl VwGH 12.10.2014, 2014/03/0076 und 09.09.2015, 2015/03/0032 mwN).
Im gegenständlichen Fall wurde der Beschwerdeführerin der Aufenthaltstitel mit der Begründung entzogen, dass die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des zweiten Teiles nicht mehr vorliegen würden. Dazu ist festzuhalten, dass die Entziehung eines Rechtes nur solange möglich ist, als dieses Recht besteht. Wenn das eingeräumte Recht durch Zeitablauf erloschen ist, ist eine Entziehung desselben durch die Behörde somit nicht mehr möglich.
Ist ein Aufenthaltstitel nunmehr befristet erteilt worden, so kann dieser nur während seiner Gültigkeit nach Maßgabe des § 28 NAG entzogen werden. Wurde eine Entziehung jedoch bis Ende der Gültigkeit des Aufenthaltstitels nicht rechtskräftig wie im gegenständlichen Fall, weil der befristete Aufenthaltstitel während eines Rechtsmittelverfahrens durch Zeitablauf ungültig wurde, ist die rückwirkende Entziehung des vormals gültig gewesenen Aufenthaltstitel mangels Bestehens einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage nicht möglich. Nur in dem Fall, in dem die Behörde bei Erlassung des Bescheides, indem sie die Entziehung des befristeten Aufenthaltstitels ausgesprochen hat, die aufschiebende Wirkung der Beschwerde ausgeschlossen hat, besteht für die Rechtsmittelbehörde die Möglichkeit festzustellen, ob die Entziehung des im Laufe des Rechtsmittelverfahrens abgelaufenen Aufenthaltstitels ab dem Zeitpunkt der Erlassung des behördlichen Bescheides rechtmäßig war.
Da § 64 Abs 1 AVG vorsieht, dass rechtzeitig eingebrachte Beschwerden aufschiebende Wirkung haben und die belangte Behörde diese aufschiebende Wirkung der Beschwerde nicht ausgeschlossen hat, wurden mit Erhebung der rechtzeitigen Beschwerde alle an die Entziehung des befristeten Aufenthaltstitels aussprechenden Bescheides geknüpften Wirkungen, nämlich die Vollstreckbarkeit, Bindungswirkung und die Tatbestandwirkung, aufgeschoben. Da der Aufenthaltstitel mit 10.01.2018 befristet war und mit Ablauf dieses Tages das aufgrund dieses Aufenthaltstitels bestehende Aufenthaltsrecht erloschen ist, ist dem Landesverwaltungsgericht Tirol eine feststellende Entscheidung betreffend der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides verwehrt und war dieser daher zu beheben.
Insgesamt war daher spruchgemäß zu entscheiden.
VI. Unzulässigkeit der ordentlichen Revision:
Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt.
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
Gegen diese Entscheidung kann binnen sechs Wochen ab der Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, Freyung 8, 1010 Wien, oder außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden. Die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ist direkt bei diesem, die außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof ist beim Landesverwaltungsgericht Tirol einzubringen.
Die genannten Rechtsmittel sind von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt bzw einer bevollmächtigten Rechtsanwältin abzufassen und einzubringen, und es ist eine Eingabegebühr von Euro 240,00 zu entrichten.
Es besteht die Möglichkeit, auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof zu verzichten. Ein solcher Verzicht hat zur Folge, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof und eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof nicht mehr erhoben werden können.
Landesverwaltungsgericht Tirol
Mag. Dr. Rieser
(Richter)
Schlagworte
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; befristete AufenthaltstitelEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGTI:2018:LVwG.2018.30.0651.1Zuletzt aktualisiert am
06.06.2018