TE Bvwg Erkenntnis 2018/5/22 W236 2135277-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.05.2018
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Entscheidungsdatum

22.05.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W236 2009362-2/3E

W236 2135281-2/3E

W236 2135279-2/3E

W236 2135277-2/3E

W236 2135275-2/3E

W236 2195577-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Lena BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1) XXXX , geb. XXXX ,

2) XXXX , geb. XXXX ,

3) XXXX , geb. XXXX ,

4) XXXX , geb. XXXX ,

5) XXXX , geb. XXXX ,

6) XXXX , geb. XXXX ,

alle StA. Russische Föderation, vertreten durch Verein ZEIGE, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.04.2018, Zlen.

1) 648177200-180093607,

2) 1052541105-180093658,

3) 1052540402-180093666,

4) 1052540609-180093674,

5) 1052540500-180093682,

6) 1179993403-180093695,

zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

II. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wird zurückgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Eheleute und die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer (alle zusammen als Beschwerdeführer bezeichnet). Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, stammen aus der Teilrepublik Dagestan und sind Angehörige der awarischen Volksgruppe.

1. Verfahren über die ersten Anträge auf internationalen Schutz:

1.1. Der Erstbeschwerdeführer reiste im Oktober 2013 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 12.10.2013 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz. Die Zweitbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit den minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern im Februar 2015 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte für sich und die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer am 26.02.2015 (erste) Anträge auf internationalen Schutz.

1.2.1. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Erstbeschwerdeführer im Zuge seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 13.10.2013 und seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 18.02.2014 im Wesentlichen an, dass der Mann seiner Cousine im Jahr 2011 als Widerstandskämpfer in die Berge gegangen sei, wobei man diesem vorgeworfen habe, im September 2011 ein Attentat auf den Polizeiabteilungsleiter von Bujnaksk verübt zu haben. Bei diesem Attentat sei zwar der Leiter am Leben geblieben, jedoch seien zwei seiner Neffen ums Leben gekommen. Nachdem der Ehemann seiner Cousine nicht mehr zu Hause gelebt habe, sei dessen Bruder spurlos verschwunden und angeblich tot aufgefunden worden. Seit 2011 sei der Ehemann seiner Cousine öfters zum Erstbeschwerdeführer gekommen und habe er diesem geholfen, da er ihm nahe wie ein Bruder gestanden sei. Drei Mal haben sich seine Cousine und ihr Ehemann beim Erstbeschwerdeführer für eine Woche getroffen, auch hätten der Erstbeschwerdeführer und sein Bruder über seine Cousine Geld geschickt. Er selbst habe den Ehemann seiner Cousine mit dem Auto einmal nach Bujnaksk gebracht, weshalb man angenommen habe, dass der Erstbeschwerdeführer selbst beim Attentat mitbeteiligt gewesen sei. Das letzte Mal sei der Mann seiner Cousine Anfang September 2013 beim Erstbeschwerdeführer gewesen, auch Kampffreunde seien dieses Mal mitgewesen, die abends bzw. nachts geblieben seien; einen davon habe der Erstbeschwerdeführer mit dem Auto seines Bruders wieder zurückgeführt. Seine Cousine und deren Mann hätten in der Hütte im Garten übernachtet. Als die Polizei gekommen sei, seien die beiden bei ihm aufhältig gewesen, die Cousine sei im Haus geblieben, deren Mann sei geflüchtet, wobei der Erstbeschwerdeführer nicht angegeben könne auf welchem Weg. Es seien sehr viele Polizisten gewesen, ca. 40 bis 50 die den Häuserblock umstellt hätten, es sei schon dunkel gewesen, gegen acht oder zehn Uhr seien sie in den Innenhof des Hauses gekommen, hätten alles durchsucht, seine Frau und seine Kinder seien ebenfalls zu Hause gewesen. Die Frauen und die weinenden Kinder hätten sie nicht angegriffen, er selbst habe sich an die Wand stellen müssen. Die Polizisten hätten nichts gefunden und ihn mitgenommen, in eine Polizeiabteilung gebracht und drei Tage hindurch in einer Zelle angehalten. Geschlagen sei er nicht worden, er vermute, dass Grund hiefür gewesen sei, dass einer seiner Bekannten der Polizeileiter der Stadt sei. Er habe auch ersucht, diesen herbeizuholen. Nach drei Tagen ohne Schlaf habe er gesundheitliche Probleme bekommen. Er sei stundenlang verhört worden, nach bestimmten Personen gefragt worden, habe immer die gleichen Fragen gestellt bekommen. Sie hätten verlangt, dass er eingestehe, bei dem Attentat den Ehemann seiner Cousine chauffiert zu haben; da er dies nicht getan habe, habe er dies auch nicht zugegeben. Er sei schließlich zusammengebrochen als auf einmal sein namentlich genannter Bekannter zu ihm gekommen sei und ihn direkt mit einer Rettung in Begleitung dreier Polizisten in eine Krankenanstalt gebracht habe. Die ersten Tage seien sie neben ihm gesessen, zum Schluss nicht mehr. Am zehnten Tag sei er von seinem Bekannten abgeholt und in dessen Heim gebracht worden. Dann sei seine Familie hinzugekommen und sie seien alle gemeinsam in eine Wohnung gebracht worden. Dann sei der Erstbeschwerdeführer nach Rostov gereist, um die Sache zu klären, er habe seinem Bekannten angeboten, Geld zu bezahlen, um in Ruhe gelassen zu werden. Dies sei jedoch nicht möglich gewesen, da der Abteilungsleiter, welcher seine Neffen verloren hätte, Rache wolle. Als er schon in Österreich gewesen sei, habe er per Internet erfahren, dass der Ehemann seiner Cousine verstorben sei; er habe Fotos bekommen, die er auch vorlegen könne. Seine Cousine wohne nach wie vor in Bujnaksk.

Ca. am 08.02.2014 seien sein Haus, das daneben stehende Haus seiner Eltern und jenes seines Bruders umstellt worden. Sein Bruder sei geflüchtet, seine Frau und seine Kinder seien zum Onkel seiner Ehefrau geflüchtet; dieser sei stellvertretender Leiter der Sondergruppe der Polizei. Mit seiner Ehefrau und seinen Eltern stehe er per Internet in Kontakt; er habe von diesem Vorfall vor zehn Tagen erfahren und sei ihm auch ein Foto übermittelt worden, welches ein Nachbar aufgenommen hätte.

Der Erstbeschwerdeführer legte folgende Unterlagen vor:

? russischer Führerschein, ausgestellt am 24.09.2013;

? zwei Ladungen zum Verhör vom 12.01.2013 und 30.11.2013;

? eine Bestätigung über einen stationären Krankenanstaltenaufenthalt vom 13. bis 23.09.2013.

1.2.2. Mit Bescheid vom 13.06.2014 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den (ersten) Antrag des Erstbeschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 leg. cit. ab (Spruchpunkt II.) und erteilte dem Erstbeschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 und § 55 leg. cit.. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Erstbeschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Erstbeschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Erstbeschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt III.).

1.2.3. Gegen diesen Bescheid erhob der Erstbeschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.

1.3.1. Die Zweitbeschwerdeführerin gab im Zuge ihrer Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 26.02.2015 sowie ihren Einvernahmen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 12.05.2015 und (nach letztendlicher Zulassung des Verfahrens der Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer) am 23.08.2016 im Wesentlichen an, dass sie Dagestan letztlich wegen der Probleme des Erstbeschwerdeführers verlassen habe. Seit ihr Ehemann Probleme wegen des Mannes der Cousine bekommen hätte, hätten auch Kontrollen begonnen. Sie könne nicht erklären, welche Probleme dies waren, der Mann der Cousine habe sich versteckt gehalten und sei ein radikaler Moslem gewesen. Er sei schlussendlich umgebracht worden, sie könne sich an Fotos erinnern, auf einem Video sei sein Auto umzingelt und er erschossen worden. Wer ihn erschossen habe und wer ihn gesucht habe, könne sie nicht angeben. Befragt nach den Gründen für das Verlassen ihres Herkunftsstaates gab die Zweitbeschwerdeführerin an, dass ihr Onkel, der bei OMON arbeite, ihr geraten habe, auszureisen nachdem ihr Ehemann die Stadt verlassen hatte. Im September 2013 seien sie zu Hause gewesen, als am Abend uniformierte und maskierte OMON-Männer in das Haus eingedrungen seien während sie gerade das Abendessen gemacht hätte. Die Kinder seien oben im ersten Stock gewesen. Ihr Ehemann sei mitgenommen worden. Es sei alles sehr schnell gegangen. Sie seien ins Haus eingedrungen, ca. zehn bis 15 Personen, hätten laut gesagt "Bleibt wo ihr seid", ihrem Mann seien die Arme nach hinten verdreht worden. Wieviele Männer vor dem Haus gewesen seien, könne sie nicht angeben, Nachbarn hätten gesehen, dass das Haus umzingelt gewesen sei. Fünf Tage oder ein Woche sei der Erstbeschwerdeführer verschwunden gewesen. Ihr Onkel habe sie und die Kinder zu sich nach Hause geholt. Ihren Mann habe sie nicht besuchen dürfen und habe sie dann erfahren, dass er im Krankenhaus liege. Eines Tages sei ihr Onkel mit ihrem Mann gekommen, habe sie und die Kinder abgeholt und zu einem Freund gebracht. Sie seien nicht sehr lange dort geblieben und habe der Erstbeschwerdeführer von dort aus den Herkunftsstaat verlassen.

Sie selbst habe über Anraten ihres Onkels den Herkunftsstaat verlassen, da ihr Mann mitgenommen worden sei und sie deswegen Probleme bekommen könnte. Sie habe bei ihrer Mutter gelebt und seien auch dort einmal Männer vom OMON gekommen und hätten Häuser und Gärten durchsucht. Sie hätten Dokumente überprüft und gefragt, wer wo wohne. Sie hätten kontrolliert und seien wieder gegangen. Als sie bei ihrer Mutter gewesen sei, seien Militärfahrzeuge zum Haus ihres Schwagers gefahren; überall im Kinderzimmer seien Laserpunkte der Waffen sichtbar gewesen, habe ihr ihre Schwester erzählt.

Die Zweitbeschwerdeführerin folgende Dokumente vor:

? russischer Inlandsreisepass, ausgestellt am 27.11.2008, in welchem eingetragen ist, dass den minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern am 29.05.2013, am 10.02.2014 und am 25.12.2014 Auslandsreisepässe ausgestellt wurden;

? russische Geburtsurkunden der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer.

1.3.2. Mit Bescheiden vom 05.09.2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die (ersten) Anträge der Zweit- bis Fünftbeschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 leg. cit. ab (Spruchpunkt II.) und erteilte den genannten Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg. cit.. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die genannten Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

1.3.3. Gegen diese Bescheide erhoben die Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.

1.4. Die Beschwerden der Erst- bis Fünftbeschwerdeführer wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnissen vom 13.10.2017 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung (am 11.06.2015 und am 25.09.2017) als unbegründet ab. Begründend wurde darin im Wesentlichen ausgeführt, dass die Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sowohl in sich als auch im Vergleich zu einander widersprüchlich gewesen seien. Auch die Ausstellung verschiedener Dokumente (Führerschein des Erstbeschwerdeführers, Auslandsreisepässe der Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer - welche bei den Behörden in Polen verblieben sind) spreche gegen eine Verfolgung des Erstbeschwerdeführers. Auch der Umstand, dass zahlreiche Familienmitglieder nach wie vor unbehelligt in Dagestan leben könnten, spreche gegen eine Verfolgungsgefahr des Erstbeschwerdeführers. Zudem stehe den Beschwerdeführern eine innerstaatliche Fluchtalternative zu und sei aufgrund des Umstandes, dass zwei Verwandte sogar bei OMON arbeiten von einem gewissen Schutz der Familie auszugehen. Eine der vorgelegten Ladungen, an deren Authentizität denen erhebliche Zweifel bestehen, würde ein Datum aufweisen, das bereits vor der angeblichen Mitnahme des Erstbeschwerdeführers gewesen sei. Zudem mangle es Ladungen zur Behörde jedenfalls an der für die Asylgewährung nötigen Eingriffsintensität. Die in Vorlage gebrachten Filmaufnahmen und Fotos wären nicht geeignet gewesen, die im Vorbringen aufgetretenen Widersprüche aufzuklären. Darüber hinaus bestehe dabei keine Möglichkeit der Personenidentifizierung und bilden diese keine Belege für eine allfällige Verfolgung des Erstbeschwerdeführers. Eine der Rückkehr entgegenstehende Integration der Beschwerdeführer habe ebensowenig erkannt werden können, wie eine der Rückkehr entgegenstehende Situation in der Russischen Föderation.

Diese Erkenntnisse erwuchsen mit Zustellung an den damaligen Vertreter der Beschwerdeführer am 16.10.2017 in Rechtskraft.

2. Verfahre über die (gegenständlichen) zweiten Anträge auf internationalen Schutz:

2.1. Der minderjährige Sechstbeschwerdeführer wurde im Dezember 2017 im österreichischen Bundesgebiet geboren.

2.2. Am 26.01.2018 stellten die Beschwerdeführer die gegenständlichen zweiten (für den minderjährigen Sechstbeschwerdeführer den ersten) Anträge auf internationalen Schutz.

2.3.1. Im Zuge seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 26.01.2018 und seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 27.03.2018 gab der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen an, dass im November 2017 an seiner Wohnadresse in Chasawjurt eine Ladung des Vernehmungskomitees in Machatschkala übermittelt worden sei, die sein Vater übernommen habe. Sein Vater habe ihm das über Whatsapp mitgeteilt und ihm die Ladung mittlerweile auch nach Österreich geschickt. Außerdem habe er jetzt ein neues Video, auf dem sein Haus und seine Schwestern eindeutig besser erkennbar seien. Seine beiden Schwestern seien darauf mit geöffneten Reisepässen vor seinem Haus zu sehen, zum Beweis dessen, dass es sich um sein Haus handle. Er habe auch hier in Österreich einen Freund der bezeugen könne, dass er sein Haus bewohnt habe. Dieser sei zuletzt in Dagestan gewesen und habe ihm die Ladung vier Tage nachdem sie sein Vater erhalten habe, im Original mitgebracht. Da er jedoch mehrmals im LKH wegen seiner Depressionen und hohem Blutdruck in Behandlung gewesen sei, habe er erst jetzt einen neuen Antrag gestellt. Sein Bruder, sein Vater und er wohnen alle nebeneinander. Sein Bruder halte sich auch versteckt. Auch in seinem ersten Verfahren habe er schon ein Video gehabt. Dieses Video sei nach dem Begräbnis seiner Mutter aufgenommen worden. Man sehe darauf wie das Haus von bewaffneten Militärangehörigen umringt werde und seine Angehörigen ins Haus gedrängt werden. Nach Abschluss seines Erstverfahrens habe er einen Nachbar in Chasawjurt angerufen, der ihm gesagt habe, er solle auf keinen Fall zurückkommen. FSB Mitarbeiter hätten sich mehrmals bei ihm nach dem Erstbeschwerdeführer erkundigt. Außerdem sei die Beweiswürdigung im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes fehlerhaft. Seine Angaben seien nämlich weder in sich noch in Bezug auf seine Frau widersprüchlich gewesen. Sie hätten gleich ausgesagt.

Auf Nachfrage, ob die Untersuchungsabteilung des MWD nochmals an seinen Vater herangetreten sei, nachdem er den Termin am 06.11.2017 nicht wahrgenommen habe, gab der Beschwerdeführer an, dass diese zwei bis drei Mal im Monat kommen und das Haus untersuchen würden. Sie suchen nicht nur ihn sondern auch seinen Bruder.

Der Erstbeschwerdeführer legte folgende Unterlagen vor:

? Ladung zur Einvernahme in russischer Sprache vom 05.11.2017, wonach sich der Erstbeschwerdeführer am 06.11.2017 um 10:30 Uhr in der Polizeiabteilung des Bezirks Leninskij UMWD RF der Stadt Machatschkala einzufinden habe;

? russische Heiratsurkunde, ausgestellt am 22.12.2010;

? Einstellungszusage einer Firma in Graz, wonach man den Erstbeschwerdeführer als Mitarbeiter (Lagerarbeiter) einstellen würde;

? Dienstleistungscheck der Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau vom 24.03.2018 im Wert von € 20;

? Medikamentenvorschreibung eines Facharztes für Psychiatrie vom 09.03.2018, wonach der Erstbeschwerdeführer Duloxetin 60mg (Dosierung 1-0-0), Trittico 150mg (Dosierung 0-0-1/3) und Xanor 0,5mg (Dosierung eine halbe Tablette zweimal täglich bei Bedarf) verschrieben wurden.

2.3.2. Die Zweitbeschwerdeführerin gab im Zuge ihrer Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 26.01.2018 im Wesentlichen an, dass sie einen neuen Asylantrag stellen würden, da sie die Beschwerdefrist gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes versäumt hätten. Sie hätten nicht genug Geld für den Anwalt gehabt, der deswegen nicht rechtzeitig die Beschwerde eingebracht habe. Es gebe auch neue Asylgründe. Ihr Mann könne nicht nach Dagestan zurück, da er dort inhaftiert werde. Es gebe offenbar eine Ladung auf den Namen ihres Mannes, das müsse jedoch ihr Mann erzählen. Ihr Mann habe diese Ladung bekommen, sie wisse aber nicht, wer diese Ladung verschickt habe. Ein Bekannter habe ihnen diese Ladung nach Österreich gebracht. Sie wisse den Absender nicht. Sie habe die Ladung zwar gesehen, jedoch nicht gelesen und kenne deren Inhalt nicht. Ihr Ehemann wisse Bescheid. Sie habe dieselben Fluchtgründe wie ihr Mann. Ihr seien die neuen Gründe seit ca. Mitte Jänner bekannt.

Im Zuge ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 27.03.2018 gab die Zweitbeschwerdeführerin zu den Gründen für die neue Antragstellung an, dass ihr Mann nicht zurückkehren könne. Sie fürchte auch, dass sie nicht zurückkehren dürfe. Sie hätte Angst, alleine zurückzukehren. Dort herrsche Gesetzlosigkeit. Auf neuerliche Nachfrage nach den neuen Gründen gab die Zweitbeschwerdeführerin an, dass sie Angst hätten zurückzukehren. Ihr Mann sei schon seit fünf Jahren hier, sie seit drei Jahren; sie hätten sich eingelebt. Auf Nachfrage, was sie zur Ladung erzählen könne, die ihr Mann bekommen haben solle, gab die Zweitbeschwerdeführerin an, dass er, wenn er zurückkehre, ins Gefängnis komme oder getötet werde. Wann genau er die Ladung bekommen habe, wisse sie nicht. Die Ladung sei nach Chasawjurt gekommen und ihnen dann übermittelt worden. Sie wisse nicht, ob ihnen die Ladung nach Österreich geschickt oder ob sie ihnen von jemandem gebracht worden sei. Sie wisse auch weder, wann ihr Mann bei der Behörde erscheinen hätte sollen - sie mische sich da nicht ein - noch, wann ihr Mann von der Ladung erfahren habe. Die Ladung sei an ihre Adresse gekommen, sie wisse jedoch nicht, wer sie übernommen habe. Für ihre Kinder wolle sie keine eigenen Fluchtgründe geltend machen.

2.4. Mit Bescheiden vom 20.04.2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die zweiten (bzw. hinsichtlich des minderjährigen Sechstbeschwerdeführers den ersten) Anträge auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 leg. cit. ab (Spruchpunkt II.) und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg. cit. (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI). Einer Beschwerde gegen diese Bescheide wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.). Begründend wird darin ausgeführt, dass der Erstbeschwerdeführer keine neuen asylrelevanten Fluchtgründe geltend gemacht habe, sondern sich im gegenständlichen Verfahren auf seine früheren Asylgründe berufen habe, ohne dass er mit seinen Ausführungen auch nur ein Indiz für eine Andersbewertung seiner persönlichen Glaubwürdigkeit bzw. der Glaubhaftigkeit seines ursprünglichen Fluchtvorbringens aufzuzeigen vermocht habe. An der vorgelegten Ladung bestünden erhebliche Zweifel an deren Authentizität. Es handle sich dabei offensichtlich um ein kopiertes Blatt, was unschwer an der grauen Verfärbung am Seitenrand zu erkennen sei. Abgesehen davon beziehe sich der Erstbeschwerdeführer mit dieser Ladung auf einen als unglaubhaft festgestellten Sachverhalt. Sowohl das Bundesamt als auch das Bundesverwaltungsgericht hätten dem Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer jegliche Glaubhaftigkeit abgesprochen. Zudem seien die Angaben des Erstbeschwerdeführers zum Zeitpunkt des Telefonats mit seinem Nachbarn widersprüchlich gewesen. Er habe auch nicht plausibel erklären können, weshalb er nicht sofort nach Erhalt der Ladung einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Dass dem neuen Vorbringen der Beschwerdeführer keine Glaubhaftigkeit beizumessen sei, lasse sich auch aus dem Umstand ableiten, dass die Zweitbeschwerdeführerin praktisch keine Angaben zu machen vermochte. Es widerspreche jeglicher Plausibilität, dass ein Mann, der befürchte, mit vier Kindern und der Ehefrau in ein Land zurückkehren zu müssen, wo er Gefahr laufe, getötet zu werden, seiner Ehefrau nicht die näheren - und vor allem aktuellen - Umstände erzählen würde. Es ergeben sich somit auch aus der nunmehr vorgelegten Ladung keine neuen Hinweise, die eine andere Beurteilung des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers ergeben würden. Eine der Rückkehr entgegenstehende Integration der Beschwerdeführer habe ebensowenig erkannt werden können, wie eine der Rückkehr entgegenstehende Situation in der Russischen Föderation.

2.5. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer am 07.05.2018 fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang, wobei im Wesentlichen das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer in deren beiden Asylverfahren wiederholt wird. Die belangte Behörde habe die vorgelegte Ladung nicht ausreichend gewürdigt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Auf Grundlage der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungs- und Gerichtsakte der Beschwerdeführer (insbesondere auch zu den Vorverfahren), der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Strafregister werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Verfahrensgang:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer reiste im Oktober 2013 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 12.10.2013 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz ein. Die Zweitbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit den minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern im Februar 2015 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte für sich und die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer am 26.02.2015 (erste) Anträge auf internationalen Schutz. Diese (ersten) Anträge auf internationalen Schutz der Erst- bis Fünftbeschwerdeführer wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnissen vom 13.10.2017 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.

1.1.2. Nach Geburt des minderjährige Sechstbeschwerdeführer am XXXX im österreichischen Bundesgebiet, stellten die Beschwerdeführer am 26.01.2018 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Diese wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheiden vom 20.04.2018 sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass deren Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, wobei die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Einer Beschwerde gegen diese Bescheide wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt.

1.2. Zur den Personen der Beschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Eheleute und die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer.

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, stammen aus der Teilrepublik Dagestan und sind Angehörige der awarischen Volksgruppe. Ihre Identitäten stehen fest und sind aus dem Spruchkopf der vorliegenden Entscheidung ersichtlich.

Der Erstbeschwerdeführer nimmt gegen seine psychische Belastung Duloxetin 60mg (Dosierung 1-0-0), Trittico 150mg (Dosierung 0-0-1/3) und Xanor 0,5mg (Dosierung eine halbe Tablette zweimal täglich bei Bedarf). Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin leidet an Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion). Festgestellt wird, dass der Erstbeschwerdeführer und die minderjährige Drittbeschwerdeführerin damit an keinen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leiden, die einer Rückführung in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden. Die übrigen Beschwerdeführer sind gesund.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben sich während ihres relativ kurzen Aufenthaltes im österreichischen Bundesgebiet von viereinhalb und gut drei Jahren Grundkenntnisse der Deutschen Sprache angeeignet. Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin und der minderjährige Viertbeschwerdeführer besuchen die Volksschule, der minderjährige Fünftbeschwerdeführer besucht den Kindergarten. Der Erstbeschwerdeführer verfügt über eine Einstellungszusage als Lagerarbeiter.

Die Beschwerdeführer waren in Österreich nie erwerbstätig; sie sind nicht selbsterhaltungsfähig, sondern leben von der Grundversorgung.

Die Beschwerdeführer verfügen in Österreich über die Kernfamilie hinaus über keine weiteren Angehörigen. Im Falle der Beschwerdeführer konnten keine nennenswerten Anknüpfungspunkte wirtschaftlicher oder sozialer Natur im Bundesgebiet festgestellt werden; eine besondere Verfestigung der Beschwerdeführer im Bundesgebiet liegt nicht vor.

Die Beschwerdeführer sind unbescholten.

Die Beschwerdeführer verfügen in Dagestan und der Russischen Föderation nach wie vor über zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte, darunter der Vater und die Geschwister des Erstbeschwerdeführers und die Mutter und Geschwister der Zweitbeschwerdeführerin. Das von den Beschwerdeführern in Dagestan bewohnte Haus steht derzeit leer. In unmittelbarer Nachbarschaft leben die Eltern und Geschwister des Erstbeschwerdeführers. Dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin ist eine Teilnahme am Erwerbsleben in Dagestan und der Russischen Föderation möglich.

1.3. Zum Fluchtvorbringen:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer den Ehemann seiner Cousine, welcher Widerstandskämpfer gewesen sein soll und dem von Seiten der Behörden ein im September 2011 auf den Polizeiabteilungsleiter der Stadt Bujnaksk verübtes Attentat vorgeworfen werden soll, seit dem Jahr 2011 mittels Unterkunftnahme unterstützt hat. Es kann weiters nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer wegen dieser angeblichen Unterstützungsleistungen bzw. Beteiligung an dem Attentat am 09.09.2013 von Polizisten von zu Hause mitgenommen, drei Tage lang festgehalten, Stunden lang verhört und zu bestimmten Personen befragt wurde, wobei er erst nach Intervention durch einen Bekannten, der der Polizeileiter der Stadt gewesen sein soll, wieder frei kam, um unmittelbar darauf die Flucht nach Europa anzutreten. Es kann weiters nicht festgestellt werden, dass das Haus der Beschwerdeführer im Februar 2014 umstellt wurde und die Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer sich fortan dort nicht mehr aufhalten konnten.

Es kann somit nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer ihren Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen haben oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätten. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass diese konkret Gefahr liefen, in ihrem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu sein.

1.4. Zur maßgeblichen Lage in der Russischen Föderation:

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 21.07.2017:

1.4.1. Politische Lage im Allgemeinen

Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).

Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).

Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).

Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017

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CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017

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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017

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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017

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Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,

https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017

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RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,

http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017

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Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,

http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017

1.4.1.a. Politische Lage in Dagestan im Besonderen

Dagestan belegt mit einer Einwohnerzahl von knapp drei Millionen Menschen (2% der Gesamtbevölkerung Russlands) den dritten Platz unter den Republiken der Russischen Föderation. Über die Hälfte der Einwohner (54,9%) sind Dorfbewohner. Die Bevölkerung in Dagestan wächst verhältnismäßig schnell. Im Unterschied zu den faktisch monoethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann. Der Lebensstandard in der Republik Dagestan ist einer der niedrigsten in der gesamten Russischen Föderation und das Ausmaß der Korruption sogar für die Region Nordkaukasus beispiellos (IOM 6.2014, vgl. ACCORD 14.4.2017).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der der Staat mit aller Härte gegen "Aufständische" vorgeht. Die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern war in den Jahre 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen. Aktionen von Sicherheitskräften nehmen auch die Familienangehörigen von bewaffneten Untergrundkämpfern ins Visier (AA 24.1.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in dem Kadyrow'schen Privatstaat. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Wie im Abschnitt über Dagestans Völkervielfalt erwähnt, stützt die ethnische Diversität ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. So hatte der Vielvölkerstatus der Republik das Amt eines Präsidenten oder Republikführers lange Zeit verhindert. Erst Anfang 2006 setzte der Kreml den Awaren Muchu Alijew als Präsidenten an die Spitze der Republik. Alijew war in sowjetischer Zeit ein hochrangiger Parteifunktionär und bekleidete danach zehn Jahre lang den Vorsitz im Parlament Dagestans. Er galt als "Mann des Volkes" in einer Republik, in der politische Macht bislang an die Unterstützung durch lokale und ethnische Seilschaften gebunden war. Alijew, so schien es anfangs, stand über diesen Clan-Welten. Doch die Hoffnung auf Korruptionsbekämpfung und bessere Regierungsführung wurde enttäuscht. Moskau ersetzte ihn 2009 durch Magomedsalam Magomedow, einen Sohn des langjährigen Staatsratsvorsitzenden, der als Präsidentenersatz fungiert hatte. Damit verschob sich die politische Macht im ethnischen Spektrum von den Awaren wieder zu den Darginern. Der neue Präsident war mit Hinterlassenschaften der 14-jährigen Herrschaft seines Vaters Magomedali Magomedow konfrontiert, die sein Amtsvorgänger Alijew nicht hatte bewältigen können. Das betraf vor allem Korruption und Vetternwirtschaft. In Dagestan bemühte sich Magomedow vor allem um einen Dialog zwischen den konfessionellen Konfliktparteien der Sufiten und Salafisten und um eine Reintegration der "Waldbrüder", des bewaffneten Untergrunds also, in die Gesellschaft. Er berief auch einen dagestanischen Völkerkongress mit fast 3.000 Teilnehmern ein, der im Dezember 2010 religiösen Extremismus und Terrorismus verdammte und die Bevölkerung aufrief, den Kampf gegen den bewaffneten Untergrund zu unterstützen. Ein Ergebnis des Kongresses war die Schaffung eines Komitees für die Reintegration von Untergrundkämpfern. Doch auch Magomedsalam Magomedow gelang es nicht, die Sicherheitslage in Dagestan zu verbessern. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramsan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus; 1999/2000 hatte er kurzzeitig das ein Jahr später abgeschaffte föderale Ministerium für Nationalitätenbeziehungen geleitet. Damit trat abermals ein Hoffnungsträger an die Spitze der Republik, der als Erstes der Korruption und dem Clanismus den Kampf ansagte. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagiert Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015).

Laut Swetlana Gannuschkina ist Abdulatipow ein alter sowjetischer Bürokrat. Sein Vorgänger Magomedsalam Magomedow war ein sehr intelligenter Mann, der kluge Innenpolitik betrieb. Er hatte eine Diskussionsplattform organisiert, wo verfeindete Gruppen miteinander gesprochen haben. Es ging dabei vor allem um den Dialog zwischen den Salafisten und den Anhängern des Sufismus. Unter ihm haben auch die außergerichtlichen Hinrichtungen von Seiten der Polizei aufgehört. Er hat eine sogenannte Adaptionskommission eingerichtet. Diese Kommission hatte die Aufgabe, Kämpfern von illegal bewaffneten Einheiten eine Rückkehr ins bürgerliche Leben zu ermöglichen. Diejenigen, die kein Blut an den Händen hatten, konnten mit Hilfe dieser Kommission wieder in der Gesellschaft Fuß fassen. Wenn sie in ihrem bewaffneten Widerstand Gewalt angewendet oder Verbrechen begangen hatten, wurden sie zwar verurteilt, aber zu einer geringeren Strafe. Auch diese Personen sind in die dagestanische Gesellschaft reintegriert worden. Mit der Ernennung Abdulatipows als Oberhaupt der Republik gab es keine Verhandlungen mehr mit den Aufständischen und er initiierte einen harten Kampf gegen den Untergrund. Dadurch stiegen die Terroranschläge und Gewalt in Dagestan wieder an (Gannuschkina 3.12.2014, vgl. AI 9.2013).

Quellen:

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ACCORD (14.4.2017): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

http://www.ecoi.net/news/190001::russische-foederation/120.sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen.htm, Zugriff 21.6.2017

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AI - Amnesty International (9.2013): Amnesty Journal Oktober 2013, Hinter den Bergen,

http://www.amnesty.de/journal/2013/oktober/hinter-den-bergen, Zugriff 21.6.2017

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Gannuschkina, Swetlana (3.12.2014): UNHCR Veranstaltung "Informationsaustausch über die Lage in der Russischen Föderation/ Nordkaukasus" im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)

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IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 21.6.2017

1.4.2. Sicherheitslage im Allgemeinen

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kre

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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