Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Hon.-Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Landeskrankenanstalten-Betriebsgesellschaft-KABEG, Klagenfurt, Kraßniggstraße 15, vertreten durch Dr. Hans Herwig Toriser, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei M*****, vertreten durch Dr. Manfred Angerer und andere Rechtsanwälte in Klagenfurt, wegen 15.505,64 EUR sA, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Rekursgericht vom 23. März 2015, GZ 2 R 57/15t-19, womit infolge Rekurses der beklagten Partei der Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt vom 4. Dezember 2014, GZ 25 Cg 45/14b-15, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Das Rechtsmittelverfahren wird von Amts wegen fortgesetzt.
II. Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.826,66 EUR (darin 480,81 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
Am 26. 3. 2011 ereignete sich in Italien ein Verkehrsunfall, an dem ein in Österreich wohnhafter Radfahrer und die Lenkerin eines bei der beklagten Partei, einem Versicherungsunternehmen mit Sitz in Frankreich, haftpflichtversicherten Pkws beteiligt waren. Dabei erlitt der Radfahrer diverse Verletzungen.
Die klagende Partei ist die Dienstgeberin des Verletzten. Sie ist gemäß § 2 des Kärntner Landeskrankenanstalten-Betriebsgesetzes (K-LKABG), LGBl 44/1993, als Anstalt öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit eingerichtet und hat ihren Sitz in Klagenfurt.
Mit der am 14. 7. 2014 beim Erstgericht eingebrachten Klage begehrt die klagende Partei Zahlung von 15.505,64 EUR sA. Das Alleinverschulden an dem Unfall treffe die Lenkerin des Pkws. Als Dienstgeberin des Verletzten habe sie an diesen infolge seiner unfallbedingten Krankenstände ein Krankenentgelt von 12.792,10 EUR brutto zuzüglich des Dienstgeberbeitrags zur gesetzlichen Sozialversicherung von 2.713,54 EUR bezahlt. Insoweit habe eine Schadensverlagerung auf den Dienstgeber stattgefunden. Die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts ergebe sich aus Art 11 Abs 2 iVm Art 9 Abs 1 lit b der Verordnung Nr 44/2001.
Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren und erhob die Einrede der fehlenden internationalen Zuständigkeit. Die klagende Partei mache einen reinen Vermögensschaden geltend und sei nicht als „Geschädigte“ iSd 4. Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie anzusehen. Im dritten Abschnitt des Kapitels II der Verordnung Nr 44/2001 werde ein eigenes System der Verteilung gerichtlicher Zuständigkeiten in Versicherungssachen festgelegt. Der Zweck dieser Sonderregeln diene laut Erwägungsgrund 13 dem Schutz der schwächeren Partei. Die klagende Partei könne diesen Schutz als Dienstgeberin schon aufgrund ihrer unternehmerischen Tätigkeit nicht für sich in Anspruch nehmen.
Das Erstgericht verwarf die Einrede nach abgesonderter Verhandlung.
Es führte aus, die Schadenersatzansprüche des Dienstnehmers der klagenden Partei seien nach italienischem Recht zu beurteilen. Die klagende Partei mache bloß einen vom Dienstnehmer abgeleiteten Anspruch geltend. Wie in Österreich sei auch im italienischen Recht ein ersatzfähiger Anspruch des den Lohn an einen unfallbedingt arbeitsunfähigen Dienstnehmer fortzahlenden Dienstgebers anerkannt. Einem solchen Dienstgeber stehe der Klägergerichtsstand des Art 11 Abs 2 iVm Art 9 Abs 1 lit b der Verordnung Nr 44/2001 zur Verfügung. Dabei könne nicht ausschlaggebend sein, ob es sich um ein größeres oder ein kleineres Unternehmen handle. Eine juristische Person sei gegenüber einem wirtschaftlich stärkeren Versicherungsunternehmen unabhängig von ihrer Größe schwächere Partei.
Das Rekursgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass es der Einrede der fehlenden internationalen Zuständigkeit stattgab und die Klage zurückwies. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.
Das Rekursgericht verwies auf die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen C-463/06 und C-347/08. Nach ersterer gewähre der Verweis des Art 11 Abs 2 auf Art 9 Abs 1 lit b der Verordnung Nr 44/2001 dem Geschädigten einen eigenen Heimatgerichtsstand. Das gelte selbstverständlich auch dann, wenn der Geschädigte eine juristische Person sei. Nach der Entscheidung C-347/08 seien vom Begriff „Geschädigter“ auch mittelbar geschädigte Personen umfasst. Der Klägergerichtsstand komme aber nur den gegenüber dem Haftpflichtversicherer als „schwächere Partei“ zu qualifizierenden Personen zu. Dabei sei wesentlich, ob der Geschädigte „wirtschaftlich schwächer und rechtlich weniger erfahren“ als ein Haftpflichtversicherer sei. Dass dies auf sie zutreffe, habe die klagende Partei „nicht wirklich“ geltend gemacht. Es sei auch nicht einsichtig, warum eine Anstalt öffentlichen Rechts, die für die Betriebsführung von fünf Spitälern errichtet sei, wirtschaftlich schwächer und rechtlich weniger erfahren, somit schutzbedürftiger sein solle, als ein Haftpflichtversicherer oder sonst ein gewerblich Tätiger des Versicherungssektors. Der vom Erstgericht bejahte Gerichtsstand sei daher nicht gegeben, weshalb es an der internationalen Zuständigkeit mangle.
Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil der Fall Anlass gebe, die einschlägige Judikatur fortzuentwickeln, und weil Judikatur zur Klarstellung, wer als „schwächere Partei“ gelte, überhaupt fehle.
Gegen die Rekursentscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der klagenden Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem (sinngemäßen) Antrag, die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig. Er ist auch berechtigt.
Die klagende Partei macht im Wesentlichen geltend, der Europäische Gerichtshof habe in der Entscheidung C-347/08 einen Ausschlusstatbestand für den Klägergerichtsstand zweifelsfrei nur in der „Versicherungseigenschaft“ des damaligen Klägers gesehen, nicht aber allgemein gefordert, dass es sich beim Kläger um die wirtschaftlich schwächere und rechtlich weniger erfahrene Partei handeln müsse. Selbst ein solches Erfordernis träfe auf die klagende Partei zu. Abgesehen davon entspreche es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass als Anstalt öffentlichen Rechts betriebene Krankenanstalten nicht einmal kostendeckend wirtschaften würden.
Hierzu wurde erwogen:
1. Die Verordnung Nr 44/2001 wurde durch Art 80 der Verordnung Nr 1215/2012 aufgehoben, die jedoch nach deren Art 66 Abs 1 auf das vorliegende Verfahren, das vor dem 10. 1. 2015 eingeleitet wurde, noch nicht anzuwenden ist. In diesem gilt nach Art 66 Abs 2 vielmehr die Verordnung Nr 44/2001 (in der Folge nur: EuGVVO) weiterhin.
2. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 13. 12. 2007, C-463/06, FBTO Schadeverzekeringen/Odenbreit festgestellt, dass die Verweisung in Art 11 Abs 2 auf Art 9 Abs 1 lit b EuGVVO dahin auszulegen ist, dass der Geschädigte vor dem Gericht des Orts in einem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, soferne eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig ist.
3. In seinem Urteil vom 17. 9. 2009,
C-347/08, Vorarlberger Gebietskrankenkasse/WGV-Schwäbische Allgemeine Versicherungs AG hat der Gerichtshof die Frage, ob sich auch ein Sozialversicherungsträger, auf den die Ansprüche eines bei einem Unfall unmittelbar Geschädigten infolge einer Legalzession übergegangen sind, auf diesen Gerichtsstand stützen und die Klage beim Gericht seines Sitzes einbringen kann, verneint.
Dabei stellte der Gerichtshof einerseits klar, dass der Begriff des Geschädigten in Art 11 Abs 2 EuGVVO nicht auf das unmittelbar betroffene Unfallopfer beschränkt ist, sondern auch mittelbar geschädigte Personen einschließt (Rn 25 ff). Andererseits erblickte er den Grund für die besonderen Zuständigkeiten in Versicherungssachen darin, die wirtschaftlich schwächere und rechtlich weniger erfahrene Partei durch Zuständigkeitsvorschriften, die für sie günstiger als die allgemeine Regelung sind, zu schützen (Rn 40; Erwägungsgrund 13). Daraus ergebe sich, dass die in der EuGVVO insoweit vorgesehenen Zuständigkeitsregeln in Versicherungssachen nicht auf Personen ausgedehnt werden dürften, die dieses Schutzes nicht bedürften (Rn 41). Ein Sozialversicherungsträger könne sich daher als Legalzessionar von Ansprüchen eines bei einem Unfall unmittelbar Geschädigten nicht auf Art 9 Abs 1 lit b iVm Art 11 Abs 2 EuGVVO berufen (Rn 43). Hingegen müsse ein Legalzessionar der Ansprüche des unmittelbar Geschädigten, der selbst als schwächere Partei angesehen werden könne, in den Genuss der besonderen Zuständigkeitsregeln kommen können. Dies wäre insbesondere bei den Erben eines Unfallopfers der Fall (Rn 44).
4. Vor diesem Hintergrund hat der Oberste Gerichtshof aus Anlass des Revisionsrekurses mit Beschluss vom 25. 5. 2016, 2 Ob 93/15p, dem Europäischen Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die dieser mit Urteil vom 20. 7. 2017, C-340/16 ZVR 2017/198 (Michtner) = ZVR 2017/199 (Wittwer) = ecolex 2017/404 (Brosch) = LMK 2017, 395642 (Staudinger/Papadopoulos) = VersR 2017, 1481 (Mankowski), wie folgt beantwortete:
Art 9 Abs 1 Buchst b der Verordnung (EG) Nr 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilsachen in Verbindung mit Art 11 Abs 2 dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass ein in einem ersten Mitgliedstaat ansässiger Dienstgeber, der das Entgelt seines infolge eines Verkehrsunfalls arbeitsunfähigen Dienstnehmers fortgezahlt hat und in die Rechte eingetreten ist, die dem Dienstnehmer gegenüber der in einem zweiten Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft, bei der das an diesem Unfall beteiligte Fahrzeug haftpflichtversichert ist, zustehen, in seiner Eigenschaft als „Geschädigter“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung die Versicherungsgesellschaft vor den Gerichten des ersten Mitgliedstaats verklagen kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist.
In seinen Erläuterungen betonte der Europäische Gerichtshof ua, dass eine einzelfallbezogene Beurteilung der Frage, ob der das Entgelt fortzahlende Dienstgeber als „schwächere Partei“ angesehen werden könne, die unter den Begriff des „Geschädigten“ iSd Art 11 Abs 2 EuGVVO fallen könne, die Gefahr von Rechtsunsicherheit mit sich bringen würde und darüber hinaus dem im 11. Erwägungsgrund der Verordnung angeführten Ziel hoher Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften zuwider liefe (Rn 34). Folglich sei davon auszugehen, dass Dienstgeber, die in Schadenersatzansprüche ihrer Dienstnehmer eingetreten sind, als Geschädigte unabhängig von ihrer Größe und ihrer Rechtsform gemäß Art 11 Abs 2 EuGVVO die in den Art 8 bis 10 vorgesehenen besonderen Zuständigkeitsvorschriften in Anspruch nehmen könnten (Rn 35).
5. Nach Einlangen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs ist das gemäß § 90 GOG ausgesetzte Rechtsmittelverfahren von Amts wegen fortzusetzen.
6. Die Ersatzansprüche der klagenden Partei werden gemäß Art 3 HStVÜ nach italienischem Recht zu beurteilen sein. Nach diesem Recht bestimmt sich nach Art 9 Abs 1 HStVÜ auch die Frage, ob den geschädigten Personen ein unmittelbarer Anspruch gegen den Versicherer des Haftpflichtigen, also die Direktklage, zusteht. Wie auch der Europäische Gerichtshof abschließend hervorhob, haben die Mitgliedstaaten gemäß Art 18 der Richtlinie 2009/103/EG (6. KH-RL) sicherzustellen, dass Geschädigte eines Unfalls, der durch ein durch die Haftpflichtversicherung gedecktes Fahrzeug verursacht wurde, einen Direktanspruch gegen das Versicherungsunternehmen haben, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt (Rn 38). Das trifft auf Italien zu (vgl etwa Pichler, Die „Direktregulierung“ in Italien, DAR 2008, 579; OLG Nürnberg NJW-RR 2012, 1178; AG Köln, DAR 2014, 470 [Staudinger]).
7. Aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs ergibt sich daher, dass das Rekursgericht die internationale Zuständigkeit zu Unrecht verneinte. Die angefochtene Entscheidung ist dahin abzuändern, dass der Beschluss des Erstgerichts, mit dem es die Unzuständigkeitseinrede verworfen hat, wiederherzustellen ist.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Zu berücksichtigen sind auch die Kosten des Zwischenstreits vor dem Europäischen Gerichtshof (RIS-Justiz RS0109758). Für den Revisionsrekurs und die beim Europäischen Gerichtshof eingebrachte Äußerung kommen infolge zwischenzeitiger Tarifänderung unterschiedliche Ansätze zur Anwendung. Es gebührt jeweils nur der einfache Einheitssatz. Die für den Revisionsrekurs nach § 23a RATG in der hier noch anzuwendenden Fassung gebührende Erhöhung der Entlohnung beträgt 1,80 EUR. Eine Pauschalgebühr ist für den Revisionsrekurs nicht zu entrichten (vgl Anm 1 zu TP 3 GGG).
Textnummer
E121490European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:0020OB00149.17A.0516.000Im RIS seit
29.05.2018Zuletzt aktualisiert am
24.02.2020