TE Bvwg Erkenntnis 2018/5/9 L507 2124057-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.05.2018
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Entscheidungsdatum

09.05.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52

Spruch

L507 2124057-3/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Habersack über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.03.2018, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 68 Abs. 1 AVG als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkte II. und III. gemäß §§ 10 Abs. 1 Z 3,

57 AsylG, § 9 BFA-VG und §§ 46, 52 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung und alevitischer Religionszugehörigkeit, reiste im Jahr 2005 legal mit einem Visum in das österreichische Bundesgebiet ein und verfügte zunächst über eine beschränkte Niederlassungsbewilligung.

2. Am 28.07.2009 stellte der Beschwerdeführer seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz.

Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.10.2009, Zl. 09 09 071-BAW, in sämtlichen Spruchpunkten abgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen.

Die dagegen fristgerecht erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 17.02.2011, Zl. E14 409.806-1/2009-6E, als unbegründet abgewiesen. Diese Entscheidung erwuchs am 24.02.2011 in Rechtskraft.

3. Am 08.09.2017 stellte der Beschwerdeführer seinen zweiten, verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 07.03.2018, Zl. XXXX , gem. § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gem. § 57 AsylG nicht erteilt, weiters gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig ist (Spruchpunkt II.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe gem. § 55 Abs. 1a FPG nicht (Spruchpunkt III.).

Dagegen wurde vom Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde erhoben.

4. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.04.2018 wurde dieser Beschwerde gem. § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei, Angehöriger der Volksgruppe der Kurden und alevitischer Religionszugehörigkeit.

Er reiste im Jahr 2005 in das österreichische Bundesgebiet ein und hat Österreich seit diesem Zeitpunkt nicht mehr verlassen. Bis zum 01.11.2007 verfügte der Beschwerdeführer über eine beschränkte Niederlassungsbewilligung.

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich insgesamt sieben Mal wegen strafbarer Handlungen gegen fremdes Vermögen, Leib und Leben, die Freiheit sowie wegen Delikten nach dem Suchtmittelgesetz rechtskräftig verurteilt.

Zuletzt wurde er mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , nach § 27 Abs. 5 SMG zu einer unbedingten Freiheitstrafe iHv 10 Monaten verurteilt.

Weiters wurde die Nachsicht von zunächst als bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen widerrufen, sodass sich der Beschwerdeführer aktuell seit Ende 2014 in Strafhaft befindet.

Nicht festgestellt werden kann, dass eine ausgeprägte und verfestigte Integration des Beschwerdeführers in Österreich vorliegt. Ein nicht auf das Asylgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht ist nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht selbsterhaltungsfähig erwerbstätig. Eigenen Angaben zufolge hat der Beschwerdeführer eine Deutschprüfung abgelegt, entsprechende Bestätigung wurde keine in Vorlage gebracht. Darüber hinaus liegen jedoch keine sonstigen Hinweise auf eine besonders ausgeprägte und verfestigte Integration des Beschwerdeführers in Österreich vor.

In Österreich leben die Eltern, der Bruder sowie Onkel und Cousins bzw. Cousinen des Beschwerdeführers. Der Vater des Beschwerdeführers besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft.

Weitere Verwandte, insbesondere die Schwestern des Beschwerdeführers, leben nach wie vor in der Türkei.

1.2. Zu den Anträgen des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz

Erster Antrag auf internationalen Schutz vom 28.07.2009 (Verfahren des maßgeblichen Vergleichsbescheides)

Im Zuge des ersten Antrages auf internationalen Schutz gab der Beschwerdeführer, befragt zu seinen Fluchtgründen, an, dass er Kurde und Alevit sei und politische Verfolgung in seinem Heimatland befürchte. Wenn er in die Türkei abgeschoben werde, müsse er sofort seinen Militärdienst leisten und würde sicher im Krieg gegen die Kurden eingesetzt. Sein Onkel sei vor einigen Jahren im Gefängnis so schwer misshandelt worden, dass er seitdem gehbehindert sei. Das erste Haus der Familie des Beschwerdeführers in Istanbul sei in Brand gesteckt worden.

Der Beschwerdeführer sei PKK Mitglied und habe etwa Flugblätter verteilt, Plakate aufgehängt oder Konzertkarten verkauft. Er sei auch HADEP bzw. nunmehr DTP Sympathisant. Seine gesamte Familie sei Mitglied bei der PKK. Sein Onkel sei auch der Obmann des PKK Vereins hier. Genauer sei er der Obmann des Mesopotamischen Kulturvereins.

In der Türkei sei der Beschwerdeführer von der Militärbehörde gesucht worden, da er seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet habe. Die Behörde habe gewusst, dass er PKK Mitglied sei.

Weil er Kurde und Alevite sei, habe man ihn in der Türkei unterdrückt. Zwei Monate vor seiner Ausreise sei er von MHP Anhängern angegriffen und durch Messerstiche verletzt worden.

Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 19.10.2009, Zl. 09 09.071-BAW, in allen Spruchpunkten abgewiesen und der Beschwerdeführer in die Türkei ausgewiesen.

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 17.02.2011, Zl. E14 409.806-1/2009-6E gem. §§ 3, 8 Abs. 1 und § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG als unbegründet abgewiesen.

Diese Entscheidung wurde vom Asylgerichtshof wie folgt begründet:

"[...]Der Asylgerichtshof erachtet das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinem Grund für die Antragstellung auf internationalen Schutz, den Militärdienst nicht ableisten zu wollen, als glaubwürdig, da der Beschwerdeführer sich im entsprechenden Alter befindet.

Aus Sicht des Asylgerichtshofes ist es auf Grund der anhand der Länderdokumentationen festgestellten Situation im Herkunftsstaat Türkei auch nachvollziehbar, wenngleich nicht objektivierbar, dass der Beschwerdeführer Angst hat, beim Militär im Osten der Türkei eingesetzt zu werden. Alle diesbezüglich herangezogenen Quellen (siehe II.2.2.2 Wehrdienst) gehen jedoch übereinstimmend davon aus, dass die Auswahl von Rekruten für bestimmte Regionen unabhängig von der Volksgruppenzugehörigkeit auf Computerbasis erfolgt und es daher zu keiner individuellen Diskriminierung dabei kommt. Dass die Möglichkeit besteht, dass der Beschwerdeführer im Osten der Türkei eingesetzt wird, wird vom Asylgerichtshof nicht bestritten, ist jedoch unwahrscheinlich, da der Beschwerdeführer aus dem Südosten der Türkei stammt. Dass der Beschwerdeführer im Kampf gegen die PKK eingesetzt würde, ist den Quellen zufolge ebenso höchst unwahrscheinlich, da seit 2010 ausschließlich Berufssoldaten dafür eingesetzt werden sollten.

Dass sich der Beschwerdeführer wegen seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit schikaniert und diskriminiert gefühlt haben mag, ist vor dem Hintergrund der anhand der Länderdokumentationen festgestellten Situation im Herkunftsstaat Türkei grundsätzlich nachvollziehbar, jedoch nicht objektivierbar. Die diesbezüglich herangezogenen Quellen (siehe II.2.2.2 Situation der KurdInnen und II.2.2.5 Aleviten), gehen übereinstimmend davon aus, dass die meisten Kurden in die türkische Gesellschaft integriert, viele auch assimiliert sind. Damit verkennt der Asylgerichtshof nicht, dass es noch Nachteile, etwa den Gebrauch der Sprache, gibt und gegenüber Angehörigen der kurdischen Bevölkerungsgruppe und auch gegenüber Aleviten vereinzelt Ressentiments seitens der türkischen Zivilbevölkerung bestehen, es ist aber auszuschließen, dass türkische Staatsbürger kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit allein aufgrund ihrer Abstammung oder Religion - ohne Hinzutreten von Besonderheiten - systematischen staatlichen Repressionen unterworfen sind.

Der Asylgerichtshof geht auch davon aus, dass die politischen Aktivitäten des Beschwerdeführers - Verteilen von Flugblättern, Plakate aufhängen und der Verkauf von Konzertkarten - ebenso wie jene des Onkels als Obmann eines kurdischen Kulturvereins in Österreich im geschilderten Ausmaß stattgefunden haben, dass ihm daraus Probleme entstanden wären oder würden, hat der Beschwerdeführer jedoch nicht vorgebracht. Ebenso ist es durchaus möglich, dass ein Zimmer im Wohnhaus der Familie des Beschwerdeführers vor 8 Jahren durch einen Molotowcocktial zerstört worden ist. Weitere Konsequenzen oder ein Bedrohungsszenario haben sich jedoch für den Beschwerdeführer keine daraus ergeben, da die Familie des Beschwerdeführers nach wie vor ohne Probleme in diesem Haus lebt. [...]".

Zweiter Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 08.09.2017

Am 08.09.2017 stellte der Beschwerdeführer den zweiten und gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung gab er zum Fluchtgrund befragt an, dass er in der Türkei an einer kurdischen Demonstration teilgenommen habe. Dabei habe ihn jemand mit einem Messer niedergestochen. Der Beschwerdeführer habe Anzeige erstatten wollen, jedoch habe die Polizei den Beschwerdeführer wegen Provokation angezeigt. Da sein Vater Angst um den Beschwerdeführer gehabt habe, habe er ihn nach Österreich geholt. Zudem hätte der Beschwerdeführer im Zuge des Militärdienstes als Kurde gegen sein eigenes Volk kämpfen müssen.

Bei der niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) führte der Beschwerdeführer ergänzend zur Erstbefragung aus, dass neben seinen Eltern und seinem Bruder auch seine Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind in Österreich leben würden.

Im Falle einer Rückkehr in die Türkei könne es sein, dass der Beschwerdeführer festgenommen und sofort seinen Wehrdienst antreten müsse. Er sei zudem Mitglied bei der PKK und sein Onkel sei Obmann des Vereins in XXXX . Auch aus diesem Grund würde er in der Türkei sofort verhaftet. In Österreich habe der Beschwerdeführer auch an Demonstrationen teilgenommen und gebe es davon Videoaufzeichnungen des türkischen Staates. Nach dem Bruch des Waffenstillstandes mit der PKK sei es sehr gefährlich für den Beschwerdeführer, in die Türkei zurückzukehren, insbesondere auch seit dem Putschversuch im Jahr 2016.

In weitere Folge wurde von der vermeintlichen Lebensgefährtin des Beschwerdeführers eine Stellungnahme eingebracht, wonach zu dem Beschwerdeführer keine Verbindung bestehe. Eine Vaterschaft zu ihrem Sohn sei zwar vermutet, jedoch auch angezweifelt und weder festgestellt, noch anerkannt worden. Ebenso bestehe absolut kein Interesse an einem Kontakt.

Der zweite Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wurde in weiterer Folge vom BFA mit Bescheid vom 07.03.2018, Zl. XXXX gem. § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG wurde nicht erteilt, gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gem. § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt III.).

Gegen diesen Bescheid wurde vom Vertreter des Beschwerdeführers fristgerecht Beschwerde erhoben. Darin wurde vorgebracht, dass der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz aufgrund der geänderten politischen und gesellschaftlichen Lage in der Türkei gestellt worden sei. Das BFA hätte jedenfalls eine andere Entscheidung treffen müssen. Zudem wurde beantragt, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

1.3. Zur Lage in der Türkei wird - wie bereits vom BFA - Folgendes festgestellt und werden die im angefochtenen Bescheid enthaltenen Feststellungen wörtlich wiedergegeben:

1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 5.3.2018, UN-Sonderberichterstatter für Folter zu Foltervorwürfen und Verhalten der Regierung (relevant für Abschnitt: 6. Folter und unmenschliche Behandlung)

Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, äußerte ernste Besorgnis über die zunehmenden Vorwürfe von Folter und anderer Misshandlungen im Polizeigewahrsam seit Ende seines offiziellen Besuchs im Dezember 2016. Melzer zeigte sich beunruhigt angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans zu haben, brutalen Verhörmethoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu zwingen, andere zu belasten. Zu den Missbrauchsfällen gehören schwere Schläge, Elektroschocks, Übergießen mit eisigem Wasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe.

Der Sonderberichterstatter sagte, dass die Regierungsstellen offenbar keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen haben, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden, in denen Folter behauptet wird, angeblich von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf jene Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, welche Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht.

Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, scheint laut Melzer jedoch ein Klima der Straffreiheit, Selbstzufriedenheit und Duldung gefördert zu haben, das dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018).

Der Sonderberichterstatter vermutet, dass sich angesichts der Massenentlassungen innerhalb der Behörden Angst breit gemacht hat, sich gegen die Regierung zu stellen. Staatsanwälte untersuchen Foltervorwürfe nicht, um nicht selber in Verdacht zu geraten (SRF 1.3.2018)

Quellen:

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OHCHR - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (27.2.2018): Turkey: UN expert says deeply concerned by rise in torture allegations,

http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22718&LangID=E, Zugriff 5.3.2018

-

SRF - Schweizer Radio und Fernsehen (1.3.2018): Foltervorwürfe an Türkei - Schläge, Elektroschocks, Eiswasser, sexuelle Übergriffe, https://www.srf.ch/news/international/foltervorwuerfe-an-tuerkei-schlaege-elektroschocks-eiswasser-sexuelle-uebergriffe, Zugriff 5.3.2018

KI vom 12.2.2018, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 6. Folter und unmenschliche Behandlung,

12. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet, 13.1. Opposition, 16. Religionsfreiheit)

In einer Resolution zur Menschenrechtslage in der Türkei erkennt das Europäische Parlament (EP) das Recht und die Pflicht der türkischen Regierung an, die Täter des Putschversuches vom 16.7.2016 vor Gericht zu stellen. Es hebt jedoch hervor, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär derzeit als Vorwand dafür herangezogen wird, die legitime und gewaltfreie Opposition noch stärker zu unterdrücken und die Medien und die Zivilgesellschaft durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, dass sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Das EP ist zutiefst beunruhigt darüber, dass sich die Lage in den Bereichen Grundrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei stetig verschlechtert und dass es der Justiz an Unabhängigkeit mangelt. Das EP verurteilt, dass Justiz und Verwaltung Gebrauch von willkürlichen Verhaftungen und Schikanen machen, um Zehntausende zu verfolgen und fordert die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, all diejenigen umgehend und bedingungslos freizulassen, die nur inhaftiert wurden, weil sie ihrer rechtmäßigen Tätigkeit nachgegangen sind und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ausgeübt haben, und die in Gewahrsam gehalten werden, obwohl keine eindeutigen Beweise für Straftaten vorliegen. Das EP fordert, dass in der Türkei der Ausnahmezustand aufgehoben und die Notstandsdekrete zurückgenommen werden, und die türkische Regierung im Sinne der Rechtsstaatlichkeit allen Personen, die restriktiven Maßnahmen ausgesetzt waren, die Gelegenheit gibt, geeignete und wirksame Rechtsbehelfe einzulegen, wobei hierbei die Unschuldsvermutung ein Grundprinzip ist. Das EP fordert die Türkei auf, die "Untersuchungskommission zu Notstandsverfahren" so rasch wie möglich zu reformieren, damit diese zu einer soliden und unabhängigen Kommission wird, die in der Lage ist, alle Fälle einzeln zu behandeln, die überaus große Anzahl von Anträgen, die sie erhält, wirksam zu bearbeiten und sicherzustellen, dass die juristische Überprüfung nicht unangemessen verzögert wird. Die Entscheidungen der Kommission sind öffentlich zugänglich zu machen. Das EP bekräftigt, dass die allgemein gefassten türkischen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung nicht dafür genutzt werden sollten, Bürger und die Medien dafür zu bestrafen, dass sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben und verurteilt in diesem Zusammenhang, dass mindestens 148 wissenschaftliche Mitarbeiter öffentlicher und privater Universitäten in Istanbul, die die Petition "Akademiker für den Frieden" unterzeichnet hatten, verhaftet und vor Gericht gestellt wurden. Das EP verurteilt ebenso die jüngsten Festnahmen von Journalisten, Aktivisten, Ärzten und gewöhnlichen Bürgern, die sich kritisch über den türkischen Militäreinsatz in Afrin äußerten und ist zutiefst beunruhigt über die humanitären Folgen des Militäreinsatzes.

Das EP zeigt sich zutiefst beunruhigt über Berichte, wonach Häftlinge misshandelt und gefoltert worden sind, und fordert die türkischen Staatsorgane auf, diese Vorwürfe sorgfältig zu prüfen. Das EP fordert erneut die Veröffentlichung des Berichts des Ausschusses zur Verhütung von Folter des Europarates ("CPT-Bericht").

Das EP verurteilt den Beschluss des türkischen Parlaments auf das Schärfste, die Immunität zahlreicher Abgeordneter auf verfassungswidrige Weise aufzuheben, wodurch der Weg für die kürzlich erfolgte Festnahme von zehn Mitgliedern der Opposition - darunter die beiden Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP) - bereitet und sechs Mitgliedern der Opposition das Mandat aberkannt wurde. Es verurteilt die Inhaftierung von 68 kurdischen Bürgermeistern und die willkürliche Absetzung gewählter Kommunalvertreter, wodurch die demokratische Struktur der Türkei weiter ausgehöhlt wird. Das EP fordert nachdrücklich die sofortige und bedingungslose Freilassung all derjenigen, die ohne Vorliegen irgendwelcher Beweise in Gewahrsam gehalten werden.

Das EP ist zutiefst beunruhigt über die Missachtung der Religionsfreiheit, die sich etwa in der zunehmenden Diskriminierung von Christen und sonstigen religiösen Minderheiten äußert.

Das EP hegt angesichts der Entscheidung des Istanbuler Strafgerichts, die beiden Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay nicht aus der Haft zu entlassen, obwohl das Verfassungsgericht ihre Freilassung mit der Begründung angeordnet hatte, in der Haft seien ihre Rechte verletzt worden, schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Funktionsweise des Justizsystems in der Türkei (EP 8.2.2018).

Das türkische Außenministerium wies die Resolution des Europäischen Parlaments zurück und vermeldete, dass die Resolution weit davon entfernt sei, die gegenwärtigen Bedingungen zu verstehen, mit denen die Türkei konfrontiert ist. Die Türkei würde die Resolution als "null und nichtig" betrachten (HDN 9.2.2018).

Quellen:

-

EP - Europäisches Parlament (8.2.2018): Die aktuelle Menschenrechtslage in der Türkei - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Februar 2018 zur aktuellen Lage der Menschenrechte in der Türkei (2018/2527(RSP)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2018-0040+0+DOC+PDF+V0//DE, Zugriff 12.2.2018

-

HDN - Hürriyet Daily News (9.2.2018): European Parliament's 'rights in Turkey' resolution null and void: Turkish Foreign Ministry,

http://www.hurriyetdailynews.com/european-parliaments-rights-in-turkey-resolution-null-and-void-turkish-foreign-ministry-127039, Zugriff 12.2.2018

KI vom 29.1.2018, Festnahmen wegen Kritik an der türkischen Militäroperation in Syrien (relevant für Abschnitt: 12. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet)

Dutzende türkische Social-Media-Nutzer, darunter auch Journalisten, wurden festgenommen, weil sie die Offensive der Türkei gegen die syrisch-kurdische Miliz YPG kritisiert haben, die Ankara als Bedrohung für die Grenzsicherheit sieht. Die türkische Internetbehörde überwacht Nutzer, die Inhalte teilen, welche die türkischen Truppen an der Front demoralisieren oder die einheimische Öffentlichkeit beeinflussen könnten. Das Büro des Premierministers erlässt direkt Zugangsverbote für solche Inhalte, und gegen Nutzer, die solche Beiträge teilen, wird eine Untersuchung eingeleitet (Ahval 26.1.2018, vgl. Standard 23.1.2018). Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte bereits am 21.1.2018 verkündet, dass jeder, der sich gegen die türkische Afrin-Offensive ausspricht, Terroristen unterstütze (DS 21.1.2018). Diesbezüglich Verdächtige werden wegen "Beleidigung von Amtsträgern", "Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit in der Öffentlichkeit", "Beleidigung des Präsidenten" oder "Propaganda für terroristische Vereinigungen" angeklagt (AA 27.1.2018).

Der OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Harlem Désir, forderte am 26.1.2018 die türkischen Behörden auf, die Terrorismusanklagen gegen Journalisten fallen zu lassen und diese freizulassen. Désir äußerte auch seine Besorgnis über die Anweisungen für die Berichterstattung über die Militäraktionen in der Region Afrin, die Redakteuren und Reportern bei einer Pressekonferenz seitens des Premierministers Binali Yildirim, des stellvertretenden Premierministers Bekir Bozdag und Verteidigungsministers Nurettin Canikli erteilt wurden. Désir erinnerte daran, dass Journalisten nicht zum Inhalt instruiert werden sollten und dass die Pressefreiheit jederzeit geachtet werden muss. Es sei die Aufgabe eines Journalisten, unterschiedliche Ansichten zu präsentieren und die Öffentlichkeit zu informieren, auch wenn der Inhalt Kritik enthält (OSCE 26.1.2018).

Quellen:

? Ahval (26.1.2018): Turkey asks Twitter, Facebook, YouTube to remove posts on Afrin op,

https://ahvalnews.com/freedom-speech/turkey-asks-twitter-facebook-youtube-remove-posts-afrin-op, Zugriff 29.1.2018

? AA - Anadolu Agency (27.1.2018): Turkey remands 16 for PYD/PKK promotion on social media,

http://aa.com.tr/en/turkey/turkey-remands-16-for-pyd-pkk-promotion-on-social-media/1044501, Zugriff 29.1.2018

? DS - Daily Sabah (21.1.2018): Anyone who opposes Turkey's Afrin op will be siding with terrorists: FM Çavusoglu, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2018/01/21/anyone-who-opposes-turkeys-afrin-op-will-be-siding-with-terrorists-fm-cavusoglu, Zugriff 29.1.2018

? OSCE - Organization for Security and Co-operation in Europe (26.1.2018): OSCE media freedom representative calls on Turkey to release detained journalists and respect everyone's right to express ideas freely, http://www.osce.org/fom/368261, Zugriff 29.1.2018

? Der Standard (23.1.2018): Feldzug gegen Kurden: Kein Platz für Kritiker bei Erdogans Krieg,

https://derstandard.at/2000072760808/Kurdenmiliz-Tuerkische-Armee-bombardiert-Doerfer-in-Syrien?ref=rec, Zugriff 29.1.2018

KI vom 11.1.2018, Notstandsdekret Nr.696 - Straffreiheit von Zivilpersonen bei Gewalttaten zur Putschverhinderung _Verlängerung des Ausnahmezustandes (relevant für Abschnitt: 4. Rechtsschutz/Justizwesen)

Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht. Das Notstandsdekret befasst sich unter anderem mit der Straffreiheit von Zivilisten, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Konkret heißt es unter Artikel 121, dass das Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt wird, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017).

Das aktuelle Dekret Nr.696 löste jedoch einen Sturm der Entrüstung aus. Es stellt alle Misshandlungen der Putschnacht und alle weiteren Folterhandlungen, die im Zusammenhang mit der Putschnacht stehen, von der Strafverfolgung frei. Kritiker sprechen von einer Generalamnestie und befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste, da im Dekret nicht präzisiert sei, für welchen Zeitraum diese "Straffreiheit" gelten solle. Da der Begriff des "Terrors" in der Türkei so weitgefasst und vage sei, könne ein Bürger, der einen umstürzlerischen Geist wittert und eigenmächtig zur Tat schreitet, nun vor Gericht als Widerstandskämpfer durchgehen. Rechtsanwälte und Juristen, die sich zum Dekret positioniert haben, erklärten, dass vor allem der Zusatz "in diesem Zusammenhang nachfolgende Ereignisse" problematisch sei (FNS 31.12.2017). Der türkische Justizminister Abdülhamit Gül bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vgl. FNS 31.12.2017).

Der Europarat prüfe laut Direktor für Kommunikation, Daniel Holtgen, derzeit die jüngsten Notstandsverordnungen (nebst Dekret 696 auch Dekret 695) der türkischen Regierung. Das Gremium überwache, ob die neuesten Notstandsverordnungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar seien (HDN 28.12.2017).

Der stellvertretende Premierminister und Regierungssprecher Bekir Bozdag verkündete am 8.1.2018, dass der Ausnahmezustand verlängert werde (Anadolu 8.1.2018). Die formale Zustimmung des Parlaments, in welchem die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit innehält, vorausgesetzt, wäre dies die sechste Verlängerung seit dem 21.7.2016. Während des Ausnahmezustandes sind die Grundrechte eingeschränkt und die Notstandsdekrete sind nicht vor dem Verfassungsgericht anfechtbar (Standard 8.1.2018).

Quellen:

-

AA - Anadolu Agency (8.1.2018): State of emergency to be extended 'once again',

http://aa.com.tr/en/todays-headlines/state-of-emergency-to-be-extended-once-again/1025440, Zugriff 11.1.2018

-

FNS - Friedrich Naumann Stiftung (31.12.2017): TÜRKEI BULLETIN 24/17 (Berichtszeitraum: 18. - 31. Dezember 2017), http://bit.ly/2CaXijh, Zugriff 11.1.2018

-

HDN - Hürriyet Daily News (28.12.2017): CoE examining latest decree laws, likely to ask for information from Ankara: Official, http://www.hurriyetdailynews.com/coe-examining-latest-decree-laws-likely-to-ask-for-information-from-ankara-official-124923, Zugriff 11.1.2018

-

Turkishpress (25.12.2017): Türkei: Streit um Notstandsdekret 696, https://turkishpress.de/news/politik/25-12-2017/tuerkei-streit-um-notstandsdekret-696, Zugriff 11.1.2018

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Der Standard (8.1.2018): Ausnahmezustand in der Türkei soll zum sechsten Mal verlängert werden, https://derstandard.at/2000071713337/Ausnahmezustand-in-der-Tuerkei-soll-zum-sechsten-Mal-verlaengert-werden?ref=rss, Zugriff 11.1.2018

KI vom 29.11.2017, Stand der Verhaftungen (relevant für Abschnitt: 2. Politische Lage).

Das türkische Innenministerium teilte am 27.11.2017 mit, dass im November 2.589 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen wurden, wodurch sich die Gesamtzahl der im Zeitraum Oktober-November inhaftierten Personen auf 5.747 erhöht hat. Innenminister Süleyman Soylu veranschlagte am 16.11.2017 die Gesamtzahl der Inhaftierten mit 48.739. Soylu sagte auch, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden. Die türkischen Behörden glauben, dass ByLock ein Kommunikationsmittel unter den Anhängern der Gülen-Gruppe ist (TM 27.11.2017). Die regierungskritische Website, Turkey Purge, zählte allerdings bereits am 3.11.2017 rund 61.250 Inhaftierungen nebst rund 129.000 Verhaftungen sowie 146.700 Entlassungen seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 (TP 3.11.2017).

Ein Staatsanwalt in Istanbul hat laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am 29.11.2017 in einer landesweiten Operation Haftbefehle gegen 360 mutmaßliche Gülen-Mitglieder in den Streitkräften erlassen (Anadolu 29.11.2017).

Quellen:

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Anadolu Agency (29.11.2017): Turkey issues arrest warrants for FETO suspects,

http://aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-issues-arrest-warrants-for-feto-suspects/984501, Zugriff 29.11.2017

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Turkish Minute (27.11.2017): Turkey detains close to 6,000 over Gülen links in last two months, https://www.turkishminute.com/2017/11/27/turkey-detains-close-to-6000-over-gulen-links-in-last-two-months/, Zugriff 29.11.2017

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Turkish Purge (3.11.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, Zugriff 29.11.2017

KI vom 23.10.2017, Intervention des Menschenrechtskommissar des Europarates zur Festnahme von Journalisten und Meinungsfreiheit (relevant für Abschnitt: 12. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet)

Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, hat sich in einem laufenden Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg für die Freilassung in Untersuchungshaft gehaltenen Journalisten in der Türkei stark gemacht. Die Haftentscheidungen nannte er "willkürlich und unverständlich" (Der Standard 19.10.2017).

Das fortdauernde Muster von Verletzungen der Meinungsfreiheit aufgrund der geltenden Rechtsvorschriften und ihrer Auslegung durch die Gerichte erfüllen laut Muižnieks nicht die in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegten Normen. Sowohl der Kommissar als auch sein Vorgänger haben bereits mehrfach die weitverbreiteten Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei hervorgehoben, unterstrichen durch den Umstand, dass die Türkei Gegenstand der höchsten Zahl von Urteilen des Gerichtshofs zu

Artikel 10 der Konvention ist. Der Kommissar stellte fest, dass die Mehrzahl der Strafverfahren gegen Journalisten auf der Grundlage unbegründeter Vorwürfe und ohne sachliche Beweise außer ihrer rein journalistischen Tätigkeit eingeleitet wurde. Der Kommissar zeigte sich betroffen von der mangelnden Berücksichtigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung bei der Beurteilung durch das Gericht und überdies von der offensichtlich unplausiblen Einschätzung, wonach die Angeklagten zugleich sowohl Propaganda für die Gülen-Bewegung als auch für die PKK betrieben hätten, zwei Organisationen, die in Gegnerschaft zu einander stehen. Zudem fehlten sachliche Beweise, die irgendeinen Zusammenhang zwischen den Verdächtigen und diesen Organisationen herstellen, abgesehen von kritischen Zeitungsartikeln zu Fragen, die von öffentlichem Interesse sind. Generell stellte der Kommissar fest, dass die Maßnahmen, die mit Freiheitsentzug gegen Journalisten verbunden sind, nicht nur ungerechtfertigt und unverhältnismäßig waren, sondern auch zu einem Klima der Selbstzensur beitragen, nämlich für jeden investigativen Journalisten, der Recherchen betreibt und über das Verhalten und Handeln staatlicher Stellen berichtet. Der Kommissar stellte fest, dass die Anwendung restriktiver Maßnahmen gegen Journalisten und Journalistinnen sowie Menschenrechtsanwälte während des Ausnahmezustands dramatisch zugenommen hat, obwohl sich die Rechtsgrundlage für die Untersuchungshaft nicht geändert hat. Muižnieks nahm erneut mit Bedauern zur Kenntnis, dass die Journalisten in den meisten Fällen auf der Grundlage fadenscheiniger Anschuldigungen und mit sehr wenig oder gar keinem Prima-Facie-Beweis festgenommen wurden (CoE-CommDH 10.10.2017).

Rund 900 Journalisten und Journalistinnen wurde in der Türkei die Akkreditierung entzogen, was einem Berufsverbot gleichkommt. Die Anzahl der Inhaftierten Journalisten ist strittig: Berufsverbände beziffern die Zahl der Inhaftierten Kollegen und Kolleginnen auf

156. Justizminister Abdülhamit Gül behauptete, keine belastbaren Informationen über den Beruf der im Gefängnis sitzenden Personen zu haben, während sein Vorgänger Bekir Bozdag noch wusste, dass 30 Journalisten inhaftiert waren. Die geringste Schätzung hingegen lieferte im Juli 2017 Präsident Erdogan ab, als er behauptete, lediglich zwei Journalisten seien in türkischer Haft. Auf dem UN-Gipfel in New York Ende September meinte er, dass die meisten gar keine Journalisten, sondern Terroristen sind (TT 17.10.2017). Turkish Purge gibt (Stand 8.10.2017) 302 betroffene Journalisten und Journalistinnen an, wobei 170 inhaftiert sind und der Rest ihren Prozess auf freiem Fuß erwartet (TP 8.10.2017).

Quellen:

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CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (10.10.2017): Third party intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights under Article 36, paragraph 3, of the European Convention on Human Rights [CommDH(2017)29], https://rm.coe.int/third-party-intervention-10-cases-v-turkey-on-freedom-of-expression-an/168075f48f, Zugriff 23.10.2017

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TP - Turkey Purge (8.10.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, 23.10.2017

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TT - Tiroler Tageszeitung (17.10.2017): "Straftat Journalismus" in der Türkei,

http://www.tt.com/politik/konflikte/13563141-91/straftat-journalismus-in-der-t%C3%Bcrkei.csp, Zugriff 23.10.2017

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Der Standard (19.10.2017): Deutsch-türkischer Journalist Yücel bringt Ankara in Zugzwang,

https://derstandard.at/2000066252315/Europaeischen-Gerichtshof-fuer-MenschenrechteAnkara-wegen-deutsch-tuerkischem-Journalisten-Yuecel-vor, Zugriff 23.10.2017

KI vom 31.8.2017, Geheimdienst unter Kontrolle des Staatspräsidenten, Verlängerung der maximalen Untersuchungshaft (relevant für die Abschnitte: . 4. Rechtsschutz/Justizwesen und 5. Sicherheitsbehörden)

Mit dem Dekret 694, das am 25.8.2017 in Kraft trat, wurde der Geheimdienst MIT, der bisher dem Ministerpräsidenten unterstand, dem Präsidenten unterstellt. Auch wurde eine neue Institution namens Nationales Geheimdienstkoordinierungskomitee (MIKK) ins Leben gerufen, das vom Präsidenten geleitet wird. Der Geheimdienst erhält erstmals das Recht, gegen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte nach Belieben zu ermitteln. Laut dem Dekret muss der Präsident künftig Ermittlungen gegen den Geheimdienstchef genehmigen (Focus 25.8.2017; vgl. AM 30.8.2017). Der Geheimdienst kann überdies zu jederzeit seine Mitarbeiter entlassen. Hierzu war bislang eine komplexe Prozedur von Nöten (AM 30.8.2017)

Per Dekret wurde gleichzeitig die maximale Untersuchungshaft von fünf auf sieben Jahre ausgeweitet. Das gilt für Beschuldigte, denen die Unterstützung von Terrororganisationen, Spionage oder eine Beteiligung an dem Putschversuch vom Juli 2016 vorgeworfen werden. Staatspräsident Erdogan ermächtigte sich überdies, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen (HB 28.8.2017). Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen (AL 30.8.2017)

Quellen:

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AM - Al Monitor (30.8.2017): Erdogan hastens executive presidency with new decree,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/turkey-emergency-decree-redesigns-vital-intstitutions.html, Zugriff 31.8.2017

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Focus (25.8.2017): Geheimdienst und neue Entlassungwelle: Erdogan baut per Dekret seine Macht aus, http://www.focus.de/politik/ausland/erdogan-im-groessenwahn-geheimdienst-und-neue-entlassungwelle-erdogan-baut-per-dekret-seine-macht-aus_id_7516131.html, Zugriff 31.8.2017

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HB - Handelsblatt (28.8.2017): Sieben Jahre Haft - ohne Urteil, http://www.handelsblatt.com/politik/international/neues-dekret-von-erdogan-sieben-jahre-haft-ohne-urteil/20247280.html, Zugriff 31.8.2017

KI vom 9.8.2017, Beschwerden an die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (relevant für Abschnitt: 4. Rechtsschutz/Justizwesen)

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (the Commission on Examination of the State of Emergency Procedures), die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereine und Firmen entgegenzunehmen. Innerhalb von drei Wochen [Stand 7.8.2017] wurden bislang rund 38.500 Beschwerden bei der Kommission eingereicht (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund

70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017).

Quellen:

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Bianet - BIA News Desk (7.8.2017): Constitutional Court Rejects 70,771 Applications Regarding State of Emergency, http://bianet.org/english/law/188906-constitutional-court-rejects-70-771-applications-regarding-state-of-emergency, Zugriff 9.8.2017

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HDN - Hürriyet Daily News (8.8.2017): Turkish state of emergency commission receives over 38,000 appeals, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-state-of-emergency-commission-receives-over-38000-appeals-.aspx?pageID=238&nID=116469&NewsCatID=338, Zugriff 9.8.2017

KI vom 19.7.2017, Verlängerung des Ausnahmezustandes (relevant für Abschnitt: 2. Politische Lage)

Am 17.7.2017 wurde der Ausnahmezustand ein viertes Mal verlängert. Eine Mehrheit im Parlament in Ankara stimmte dem Beschluss der Regierung über eine Verlängerung um weitere drei Monate zu. Damit gilt der nach dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres verhängte Ausnahmezustand mindestens bis zum 19.10.2017. Dies ermöglicht Staatspräsident Erdogan weiterhin per Dekret zu regieren. Die beiden größten Oppositionsparteien - die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP - forderten sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes, da dieser ansonsten drohe zum Dauerzustand zu werden (TS 17.7.2017, vgl. FAZ 17.7.2017).

Quellen:

? FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.7.2017): Türkisches Parlament verlängert abermals Ausnahmezustand, http://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei/seit-putschversuch-tuerkisches-parlament-verlaengert-abermals-ausnahmezustand-15110851.html, Zugriff 19.7.2017

? tagesschau.de (17.7.2017): Türkei verlängert Ausnahmezustand, http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-865.html, Zugriff 19.7.2017

KI vom 19.7.2017, Verhaftung von Mitarbeitern von Amnesty International - wachsender Druck auf NGOs (relevant für Abschnitt: 8. Nichtregierungsorganisationen)

Am 18.7.2017 verhängte ein Gericht über sechs Menschenrechtsaktivisten, darunter die Direktorin von Amnesty International -Türkei die Untersuchungshaft, nachdem diese am 5.7.2017 festgenommen worden waren. Die Staatsanwaltschaft bezichtigte die Aktivisten der Unterstützung und Begünstigung einer terroristischen Organisation. Welche Terrororganisation gemeint war, blieb unklar. Untersuchungen wegen Terrorfinanzierung und Spionage wären laut Staatsanwaltschaft ebenfalls im Gange. Bereits im Juni 2017 wurde der Vorsitzende von Amnesty International -Türkei, Taner Kiliç, wegen vermeintlicher Unterstützung der Gülen-Bewegung inhaftiert (HDN 18.7.2017, Standard 18.7.2017). Seit dem Putschversuch wurden mehr als 1.000 NGOs verboten. Überdies berichteten auch internationale NGOs, wie Human Rights Watch, über Schmierkampagnen der staatlich kontrollierten Medien und Einschüchterung von Mitarbeitern. Auch die deutschen politischen Stiftungen, welche in der Türkei aktiv sind, melden einen zunehmenden Druck seitens der Behörden (Zeit 18.7.2017).

Quellen:

? HDN - Hürriyet Daily News (13.7.2017): Turkish court arrests six human rights activists on terror charges, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-court-arrests-six-human-rights-activists-on-terror-charges-.aspx?pageID=238&nID=115634&NewsCatID=339, Zugriff 19.7.2017

? Standard Online (18.7.2017): Türkei verhängt Untersuchungshaft über Amnesty-Landeschefin,

http://derstandard.at/2000061432083/Tuerkei-Sechs-Menschenrechtsaktivisten-in-Untersuchungshaft, Zugriff 19.7.2017

? Zeit online (18.7.2017): Erdogans Kampf gegen Menschenrechtler, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/tuerkei-amnesty-international-festnahme-recep-tayyip-erdogan, Zugriff 19.7.2017

KI vom 19.7.2017, Stand der Massenverhaftungen und Entlassungen wegen vermeintlicher Unterstützung der Gülen-Bewegung (relevant für Abschnitt: 2. Politische Lage)

Am Vorabend des Jahrestages des gescheiterten Putschversuches vom 15.7.2016 verlautete das türkische Justizministerium, dass bis dato

50.510 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert wurden, darunter 7.267 Militärangehörige, 8.815 Angestellte der Polizei, rund 100 Gouverneure und deren Stellvertreter und über 2.000 MitarbeiterInnen der Justiz. 169.013 Personen hätten laut Ministerium noch rechtliche Verfahren zu erwarten und nach rund

8.100 wird wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung noch gefahndet. Über 43.000 Personen wurden nach vorläufiger Festnahme wieder entlassen (HDN 13.7.2017, bianet 13.7.2017). Mit der Notstandsverordnung vom 14.7.2017 wurden zusätzlich 7.395 öffentlich Bedienstete entlassen (HDN 15.7.2017). Die regierungskritische Internetplattform "Turkey Purge" zählte mit Stand 19.7.2017 rund

145.700 Entlassungen, darunter über 4.400 Richter und Staatsanwälte, sowie 56.100 Inhaftierungen (TP 19.7.2017).

In der Türkei nahm am 17.7.2017 eine von der Regierung eingerichtete Kommission ihre Arbeit auf, die Beschwerden gegen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst im Zusammenhang mit dem Putschversuch prüfen soll. Betroffene hätten nun zwei Monate Zeit, ihre Beschwerden einzureichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat sich bislang nicht mit den Entlassungen beschäftigt, sondern Kläger aus der Türkei aufgefordert, sich zunächst an die neue Kommission zu wenden (Zeit 17.7.2017).

Quellen:

? Bianet (13.7.2017): Ministry of Justice: 50,510 People Arrested in Coup Attempt Investigations,

https://bianet.org/english/politics/188268-ministry-of-justice-50-510-people-arrested-in-coup-attempt-investigations, Zugriff 19.7.2017

? HDN - Hürriyet Daily News (13.7.2017): 50,510 people arrested in Gülen probe since coup attempt: Ministry, http://www.hurriyetdailynews.com/50510-people-arrested-in-gulen-probe-since-coup-attempt-ministry.aspx?pageID=238&nID=115486&NewsCatID=509, Zugriff 19.7.2017

? HDN - Hürriyet Daily News (15.7.2017): Turkey dismisses over 7,000 police, soldiers, ministry officials with new emergency decree, http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-dismisses-over-7000-police-soldiers-ministry-officials-with-new-emergency-decree-.aspx?pageID=238&nID=115540&NewsCatID=341, Zugriff 19.7.2017

? TP - TurkeyPurge (19.7.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, Zugriff 19.7.2017

? Zeit Online (17.7.2017): Türkei verlängert erneut Ausnahmezustand, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/tuerkei-parlament-ausnahmezustand-verlaengerung, Zugriff 19.7.2017

KI vom 27.4.2017, Massenverhaftungen und Entlassungen innerhalb der Polizei (relevant für Abschnitt: 5. Sicherheitsbehörden)

In der Türkei sind am 26.4.2017 9.103 Poli

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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