TE Bvwg Erkenntnis 2018/5/9 W198 2165826-1

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Veröffentlicht am 09.05.2018
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Entscheidungsdatum

09.05.2018

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W198 2165826-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Karl SATTLER als Einzelrichter in der Beschwerdesache des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. Dr. Martin ENTHOFER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.07.2017, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, hat sein Heimatland verlassen, ist illegal in die Republik Österreich eingereist und hat am 14.01.2016 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

2. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 14.01.2016 gab der Beschwerdeführer an, dass er den Iran vor zwei Monaten gemeinsam mit seiner Familie verlassen habe. Auf der Flucht habe er seine Familie verloren. Der Vater des Beschwerdeführers sei krank gewesen. Der Beschwerdeführer habe mit seiner Mutter im Iran gearbeitet, beide hätten im Iran nicht genug zum Leben verdient. Seine Eltern hätten daher beschlossen, nach Österreich zu flüchten. Die Großeltern mütterlicherseits, vier Onkel sowie eine Tante des Beschwerdeführers würden in Österreich leben.

3. Der Beschwerdeführer wurde am 26.06.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er in XXXX , Iran geboren sei. Er habe sechs Jahre lang die Schule besucht und dann als Schneider-Hilfsarbeiter gearbeitet. Er habe sich nie in Afghanistan aufgehalten. Aus welchem Gebiet in Afghanistan seine Eltern stammen würden, wisse er nicht genau. Er wisse nur, dass sie Hazara seien. Er wisse auch nicht, warum seine Eltern Afghanistan einst verlassen hätten. Er habe keine Angehörigen in Afghanistan. Seine Eltern und seine Geschwister würden im Iran leben. Der Beschwerdeführer habe erfahren, dass diese im Zuge der Flucht an der iranisch-türkischen Grenze nach Afghanistan abgeschoben worden seien; sie seien aber gleich wieder in den Iran zurückgekehrt. Auf die Frage, ob der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat Probleme aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit gehabt habe, gab er an, dass er selber keine Probleme gehabt habe. Allgemein hätten die Hazara jedoch Probleme mit den Taliban und würden von diesen umgebracht werden. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass die finanzielle Lage seiner Familie im Iran schlecht gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe keine Schule mehr besuchen können, weil er arbeiten habe müssen um seiner Familie zu helfen. Nachdem die Großeltern, der Onkel und die Tante des Beschwerdeführers nach Österreich gekommen seien, hätten die Eltern des Beschwerdeführers entschieden, auch nach Österreich zu gehen. Sie hätten gewusst, dass es im Iran keine Zukunft gebe und wollten dem Beschwerdeführer und seinen vier Geschwistern eine bessere Zukunft ermöglichen. Befragt, warum der Beschwerdeführer nicht nach Afghanistan gegangen sei, gab er an, dass dort Krieg herrsche. Außerdem hätten seine Eltern beschlossen, dass die ganze Familie nach Europa gehe. Befragt, was der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan erwarten würde, gab er an, dass er dort niemanden kenne. Er wüsste nicht wohin er gehen solle. Es gebe viele Bombenanschläge und es sei gefährlich dort.

4. Am 07.07.2017 langte bei der belangten Behörde eine Stellungnahme des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers ein. Darin wurde zunächst auf die ausgefolgten Länderberichte repliziert und wurde ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer noch nie in Afghanistan aufgehalten habe und könnte er auf keine Unterstützung in Afghanistan hoffen, da es für Minderjährige keine besonderen Schutzmaßnahmen gebe. Er wäre zudem schutzlos dem Zugriff der Taliban, der Al-Kaida oder des islamischen Staates ausgesetzt, da er aufgrund seines Alters und seiner Kontaktlosigkeit an jedem Ort Afghanistans mit Zwangsrekrutierung zu rechnen hätte.

5. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 18.07.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 18.07.2018 erteilt.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seinem Fluchtgrund, zur Situation im Falle seiner Rückkehr und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung glaubhaft machen können, sondern habe er glaubhaft geschildert, dass er sich noch nie in Afghanistan aufgehalten habe. Aufgrund des Umstandes, dass er im Iran geboren sei, sich nie in Afghanistan aufgehalten habe und in Afghanistan über keine sozialen oder familiären Netzwerke verfüge, erhalte er jedoch subsidiären Schutz zuerkannt.

6. Gegen Spruchpunkt I. des verfahrensgegenständlich angefochtenen Bescheides wurde mit Schreiben der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 21.07.2017 Beschwerde erhoben. Darin wurde zunächst das Vorbringen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde sowie in der Stellungnahme vom 07.07.2017 wiederholt und wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan der Gefahr der Zwangsrekrutierung ausgesetzt wäre. Aufgrund seines noch jugendlichen Alters sei er für terroristische Organisationen von erhöhtem Interesse. Im konkreten Fall des Beschwerdeführers wäre die Gefahr, Opfer eine Zwangsrekrutierung zu werden, unmittelbar drohend und exponentiell höher als für jeden sonst ansässigen Afghanen; dies da der Beschwerdeführer ohne jeden sozialen Kontakt in Afghanistan sei, zu keinem Stamm gehöre, keiner sonstigen sozialen Gruppe zugehörig sei und auf sich allein gestellt wäre. Zu diesem Problemkreis würden weder Feststellungen betreffend Afghanistan vorliegen, noch finde diese Verfolgungsproblematik Eingang in die angefochtene Entscheidung. Auch würden jedwede Feststellungen dahingehend fehlen, inwiefern Rückkehrer und rückgeschobene Asylwerber einem erhöhten Verfolgungsrisiko unterliegen. Ein konkretes Auseinandersetzen mit dem den Beschwerdeführer treffenden Verfolgungsszenario sei durch die belangte Behörde nicht erfolgt.

7. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 28.07.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, geboren XXXX , gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist schiitischer Moslem, reiste illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am 14.01.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seine Identität steht nicht fest. Der Beschwerdeführer wurde im Iran geboren, wo er bis zu seiner Ausreise aufhältig gewesen ist. In seinem Herkunftsstaat Afghanistan hat er sich nie aufgehalten, sämtliche seiner Angehörigen befinden sich im Iran.

Der Beschwerdeführer hat im Iran sechs Jahre lang die Schule besucht und danach als Schneider-Hilfsarbeiter gearbeitet.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass dem Beschwerdeführer wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara Verfolgung in Afghanistan droht.

Nicht festgestellt werden kann, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Zwangsrekrutierung durch die Taliban, die Al-Kaida oder den islamischen Staat droht.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er sich beinahe sein gesamtes Leben im Iran sowie zuletzt in Europa aufgehalten hat bzw. dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus dem Iran sowie aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, deshalb in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Schiiten

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10-19% geschätzt (AA 9.2016; vgl. auch: CIA 21.10.2016). Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die ethnischen Hazara (USDOS 10.8.2016). Die meisten Hazara Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan sind einige schiitische Belutschen (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Sowohl im Rat der Religionsgelehrten (Ulema), als auch im Hohen Friedensrat sind Schiiten vertreten; beide Gremien betonen, dass die Glaubensausrichtung keinen Einfluss auf ihre Zusammenarbeit habe (AA 9.2016). Afghanische Schiiten und Hazara sind dazu geneigt weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein, als ihre religiösen Brüder im Iran (CRS 8.11.2016).

Die Situation der afghanisch schiitisch-muslimischen Gemeinde hat sich seit dem Ende des Taliban-Regimes wesentlich gebessert (USCIRF 30.4.2015). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung gegen die schiitische Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch gab es Berichte zu lokalen Vorfällen (USDOS 10.8.2016).

Ethnische Hazara sind gesellschaftlicher Diskriminierungen ausgesetzt (USDOS 13.4.2016). Informationen eines Vertreters einer internationalen Organisation mit Sitz in Kabul zufolge, sind Hazara, entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung, keiner gezielten Diskriminierung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt (Vertrauliche Quelle 29.9.2015).

Afghanischen Schiiten ist es möglich ihre Feste öffentlich zu feiern - manche Paschtunen sind über die öffentlichen Feierlichkeiten verbittert, was gelegentlich in Auseinandersetzungen resultiert (CRS 8.11.2016). Im November 2016, hat ein Kämpfer der IS-Terrormiliz, während einer religiösen Zeremonie in der Bakir-al-Olum-Moschee - einer schiitischen Moschee in Kabul - am schiitischen Feiertag Arbain, einen Sprengstoffanschlag verübt (Tolonews 22.11.2016; vgl. auch: FAZ 21.11.2016). Bei diesem Selbstmordanschlag sind mindestens 32 Menschen getötet und 80 weitere verletzt worden (Khaama Press 22.11.2016). In Kabul sind die meisten Moscheen trotz Anschlagsgefahr nicht besonders geschützt (FAZ 21.11.2016). Am 23. Juli 2016 wurde beim schwersten Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte die zweite Großdemonstration der Enlightenment-Bewegung durch den ISKP angegriffen. Es dabei starben über 85 Menschen, rund 240 wurden verletzt. Dieser Schlag richtete sich fast ausschließlich gegen Schiiten (AA 9.2016).

Einige Schiiten bekleiden höhere Ämter (CRS 8.11.2016); sowie andere Regierungsposten. Schiiten verlautbarten, dass die Verteilung von Posten in der Regierung die Demographie des Landes nicht adäquat berücksichtigte. Das Gesetz schränkt sie bei der Beteiligung am öffentlichen Leben nicht ein - dennoch verlautbarten Schiiten - dass die Regierung die Sicherheit in den Gebieten, in denen die Schiiten die Mehrheit stellten, vernachlässigte. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen, während die Ismailiten hauptsächlich in Kabul, den zentralen und nördlichen Provinzen leben (USDOS 10.8.2016).

Unter den Parlamentsabgeordneten befinden sich vier Ismailiten. Manche Mitglieder der ismailitischen Gemeinde beschweren sich über Ausgrenzung von Position von politischen Autoritäten (USDOS 10.8.2015).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (16.11.2015): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan

-

Staatendokumentation des BFA (7.2016): AfPak Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur

http://www.bfa.gv.at/files/berichte/AFGH_Stammes_und%20Clanstruktur_Onlineversion_2016_07.pdf, Zugriff 30.11.2016

-

CIA - Central Intelligence Agency (21.11.2016): The World Factbook

-

Afghanistan,

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/af.html, Zugriff 29.11.2016

-

CRS - Congressional Research Service (8.11.2016): Afghanistan:

Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, https://www.fas.org/sgp/crs/row/RL30588.pdf, Zugriff 30.11.2016

-

FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (21.11.2016): IS bezichtigt sich Anschlags in Kabul,

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/asien/gewalt-in-afghanistan-is-bezichtigt-sich-anschlags-in-kabul-14537621.html, Zugriff 22.11.2016

-

FH - Freedom House (28.4.2015): Freedom of the Press 2015 - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/311145/449187_de.html, Zugriff 21.10.2015

-

Khaama Press (22.11.2016): US reaffirm strong support to Afghanistan after deadly Kabul attack, http://www.khaama.com/us-reaffirm-strong-support-to-afghanistan-after-deadly-kabul-attack-02335, Zugriff 22.11.2016

-

SO - Spiegel Online (21.11.2016): Explosion in Kabul - viele Tote und Verletzte,

http://www.spiegel.de/politik/ausland/afghanistan-explosion-in-kabul-mindestens-acht-tote-a-1122270.html, Zugriff 22.11.2016

-

Tolonews (22.11.2016): Daesh Claims Responsibility For Kabul Mosque Bombing,

http://www.tolonews.com/en/afghanistan/28471-daesh-claims-responsibility-for-kabul-mosque-bombing, Zugriff 22.12.2016

-

USDOS - US Department of State (10.8.2016): 2016 Report on International Religious Freedom - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/328423/469202_de.html, Zugriff 29.11.2016

-

USDOS - US Department of State (13.4.2016): Country Report on Human Rights Practices 2015 - Afghanistan, https://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm#wrapper, Zugriff 17.1.2017

-

Vertrauliche Quelle - eine internationale Organisation, die in Afghanistan ansässig ist (29.9.2015): Informationen zu der Sicherheitslage in Afghanistan. Interview, liegt bei der Staatendokumentation auf

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus. (CRS 12.1.2015). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten. Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (Staatendokumentation des BFA 7.2016).

Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (Staatendokumentation des BFA 7.2016).

Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert (AA 9.2016); sie haben sich ökonomisch und politisch durch Bildung verbessert (CRS 12.1.2015). In der öffentlichen Verwaltung sind sie jedoch nach wie vor unterrepräsentiert. Unklar ist, ob dies Folge der früheren Marginalisierung oder eine gezielte Benachteiligung neueren Datums ist (AA 9.2016). In der Vergangenheit wurden die Hazara von den Pashtunen verachtet, da diese dazu tendierten, die Hazara als Hausangestellte oder für andere niedere Arbeiten einzustellen. Berichten zufolge schließen viele Hazara, auch Frauen, Studien ab oder schlagen den Weg in eine Ausbildung in Informationstechnologie, Medizin oder anderen Bereichen ein, die in den unterschiedlichen Sektoren der afghanischen Wirtschaft besonders gut bezahlt werden (CRS 12.1.2015).

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf (AA 9.2016; vgl. auch: USDOS 13.4.2016). Im Jahr 2015 kam es zu mehreren Entführungen von Angehörigen der Hazara (AA 9.2016; vgl. auch: UDOS 13.4.2016; NYT 21.11.2015; World Hazara Council 10.11.2016; RFE/RL 25.2.2016). Im Jahr 2016 registrierte die UNAMA einen Rückgang von Entführungen von Hazara. Im Jahr 2016 dokumentierte die UNAMA 15 Vorfälle in denen 82 Hazara entführt wurden. Im Jahr 2015 wurden 25 Vorfälle von 224 entführten Hazara dokumentiert. Die Entführungen fanden in den Provinzen Uruzgan, Sar-e Pul, Daikundi, Maidan Wardak und Ghor statt (UNAMA 6.2.2017). Im Juli 2016 sprengten sich mehrere Selbstmordattentäter bei einem großen Protest der Hazara in die Luft, dabei wurden mindestens 80 getötet und 250 verletzt; mit dem IS verbundene Gruppen bekannten sich zu dem Attentat (HRW 12.1.2017).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (Brookings 31.10.2016).

Ausführliche Informationen zu den Hazara, können dem Dossier der Staatendokumentation (7.2016) entnommen werden.

Quellen:

-

Brookings - The Brookings Institution (31.10.2016): Afghanistan Index,

https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2016/07/21csi_20161031_afghanistan_index.pdf, Zugriff 23.1.2017

-

CRS - Congressional Research Service (15.10.2015): Afghanistan:

Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, https://www.fas.org/sgp/crs/row/RL30588.pdf, Zugriff 23.1.2017

-

GIZ (1.2017): Afghanistan - Gesellschaft, http://liportal.giz.de/afghanistan/gesellschaft/, Zugriff 23.1.2017

-

HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/334684/476436_de.html, Zugriff 24.1.2017)

-

NYT - The New York Times (21.11.2015): Afghan Kidnappers Prey on Hazaras,

https://www.nytimes.com/2015/11/22/world/asia/kidnappings-escalate-in-afghanistan.html?_r=0, Zugriff 24.1.2017

-

RFE/RL - Radio Free Europe Radio Liberty (25.2.2016): Mass Abduction Of Hazaras In Afghanistan Raises Fears Of Islamic State, http://www.rferl.org/a/afghanistan-hazaras-mass-abduction-islamic-state/26869255.html, Zugriff 24.1.2017

-

Staatendokumentation des BFA (7.2016): Dossier der Staatendokumentation, AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur,

http://www.bfa.gv.at/files/berichte/AFGH_Stammes_und%20Clanstruktur_Onlineversion_2016_07.pdf, Zugriff 23.1.2017

-

UNAMA - United Nations Mission in Afghanistan (6.2.2017):

Afghanistan Annual Report on Protection of Civilians in Armed Conflict: 2016,

https://unama.unmissions.org/sites/default/files/protection_of_civilians_in_armed_conflict_annual_report_2016_feb2017.pdf, Zugriff 7.7.2017

-

USDOS - US Department of State (13.4.2016): Country Report on Human Rights Practices 2015 - Afghanistan, https://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm#wrapper, Zugriff 17.1.2017

-

World Hazara Council (10.11.2015): The killing and kidnapping of Hazaras since January 2015,

http://www.worldhazaracouncil.org/wp-content/uploads/2015/11/HazaraTargetKilling20151.pdf, Zugriff 24.1.2016

Situation betreffend Rekrutierung bzw. Zwangsrekrutierung durch die Taliban

Allgemeines

Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden.

Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, wie berichtet wird, weiterhin Kinder - sowohl Jungen als auch Mädchen - um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen einzusetzen, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln und als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung zu dienen.

(Auszug aus folgender Quelle: UNHCR-Richtlinien, diese bilden einen Bestandteil der Feststellungen und des vorliegenden Erkenntnisses, Pkt III.A.3. a))

[...] Zusätzlich haben die Taliban eine Sondereinheit für Selbstmordattentäter eingerichtet. Selbstmordattentate sind ressourcenintensiv und die Taliban investieren sehr viel in diese Angriffe. Daher wird nachdrücklich betont, dass die für Selbstmordattentate rekrutierten Personen vertrauenswürdig sein müssen. Die Ausbildung soll den Selbstmordattentätern ausreichende mentale Stärke für die Durchführung des geplanten Attentats geben. Die religiöse und ideologische Überzeugung ist für alle Personen, die für solche Aufgaben ausgewählt werden, besonders wichtig. Selbstmordattentäter spielen bei komplexen, koordinierten Angriffen, zum Beispiel in der Stadt Kabul, eine bedeutsame Rolle: Bei solchen Angriffen machen die Selbstmordattentäter den Scharfschützen den Weg frei (Gespräch mit einem Analytiker in Kabul, Mai 2017). [...]

Ausmaß unmittelbaren Zwanges

Quellen von Landinfo haben bestätigt, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen (Gespräch mit NGO A in Kabul, Mai 2017).

Nach Aussagen der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Afghanistan (UNAMA) ist die Gruppe der Stammesältesten gezielten Tötungen ausgesetzt (UNAMA & OHCHR 2017, S. 64). Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Der Analytiker Borham Osman (berichtet in EASO 2016, S. 24) hat auf Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfen verweigert haben, verwiesen. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Mehrere Gesprächspartner von Landinfo, einschließlich einer NGO, die in Taliban-kontrollierten Gebieten arbeitet (NGO A, Kabul, Mai 2017), meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher heute vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen.

Bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft müssen Kämpfer vor Ort mobilisiert werden. In einem solchen Fall mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Nach Osman (zitiert in EASO 2016, S. 24) kann die erweiterte Familie allerdings auch eine Zahlung leisten anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich frei zu kaufen.

Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (Gespräch mit einer internationalen Organisation; Gespräch mit einem Thinktank, Gespräch mit einem örtlichen Journalisten April/Mai 2017).

Es ist eine Kombination verschiedener Faktoren, die Personen dazu bewegt, sich den Taliban anzuschließen. Allerdings gibt es nur sehr begrenzte Informationen über den Einsatz unmittelbarer Gewalt im Zusammenhang mit der Rekrutierung und Mobilisierung unter der Schutzherrschaft der Taliban. In Gesprächen mit Landinfo im Herbst 2010 meinte Giustozzi, dies sei bedingt durch die Tatsache, dass die Taliban im Zusammenhang mit ihrer Expansion noch nicht genötigt waren, Zwangsmaßnahmen anzuwenden. In dem Artikel Afghanistan: Human Rights and Security Situation aus 2011 trifft er folgende Feststellung:

Zwangsrekrutierungen waren bislang noch kein herausragendes Merkmal dieses Konflikts. Die Aufständischen bedienen sich Zwangsrekrutierungen nur sehr vereinzelt, vor allem, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache der Aufständischen nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Giustozzi 2011, S. 6).

Die Angaben Giustozzis über im November 2015 erfolgten Zwangsrekrutierungen (Gespräch Oslo) stehen nicht im Widerspruch zu seiner 2011 getätigten Einschätzung. Das relativ eindeutige Bild über Rekrutierungen durch die Taliban deutet darauf hin, dass die Organisation Zwangsrekrutierungen nicht systematisch betreibt und dass Personen, die sich gegen eine Mobilisierung wehren, keine rechtsverletzenden Reaktionen angedroht werden. Zahlreiche Gesprächspartner von Landinfo in Kabul (April 2016) waren der Ansicht, dass die Taliban keine Zwangsrekrutierungen durchführen. Eine NGO (April 2016) verwies darauf, dass es sehr einfach sei zu desertieren (Gespräch in Kabul, April 2016). Erklärungen eines nationalen Thinktanks zufolge (April 2016) stünde eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis den im Paschtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit (s. z.B. Landinfo 2011) entgegen. Eine internationale Organisation (April 2016) verwies auf ein Argument, das seitens Landinfo im Zusammenhang mit einer quellenkritischen Bewertung von Informationen über die Zwangsrekrutierung aufgeworfen worden war: bei den Quellen handle es sich oft um Personen oder Gruppen, die Anschuldigungen betreffend Zwangsrekrutierungen im Eigeninteresse erheben, etwa Personen, die von den Sicherheitskräften festgenommen wurden oder die als Binnenvertriebene (IDPs) anerkannt werden möchten.

Die Beantwortung einer Anfrage zur Rekrutierung durch Landinfo im Februar 2012 kommt zu dem Schluss, dass es nur in Ausnahmefällen zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban gekommen ist. Die Antwort bezieht sich auf Gespräche, die Landinfo im Oktober 2011 in Kabul geführt hat (Landinfo 2012). Es gibt keine Angaben, die darauf hindeuten, dass sich das Ausmaß von Zwangsrekrutierungen in den vergangenen Jahren erhöht hat. Das geänderte Konfliktschema und die Tatsache, dass die Taliban ihre Truppen professionalisiert haben, bedeuten auch, dass unmittelbare Zwangsrekrutierungen vermutlich sehr gering verbreitet sind. Dies wurde in Gesprächen von Landinfo im April/Mai 2017 in Kabul bestätigt; unmittelbare Zwangsrekrutierungen erfolgen in sehr beschränktem Ausmaß und lediglich in Ausnahmefällen. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Eine Quelle äußerte den Gedanken, dass es "schwierig sei, einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden/etwas zu kämpfen".

Strukturelle Gegebenheiten

Es sind in erster Linie die strukturellen Gegebenheiten, die als eine Form von Zwang in der Rekrutierung durch die Taliban betrachtet werden können. Strukturelle Gegebenheiten können allgemeine kulturelle, religiöse oder soziale Faktoren sein, gepaart mit eingeschränktem Vertrauen in den Staatsbildungsprozess. Traditionsbedingte Verpflichtungen im Zusammenhang mit Stammesgruppen und örtlichen Machtgruppen bedeuten, dass Menschen als Ergebnis von Entscheidungen (Bildung von Allianzen), auf die sie selbst wenig Einfluss haben, Teil der Taliban werden. Lokale Drahtzieher spielen in dem Prozess, wie sich die Taliban in einem Gebiet etablieren und die Kontrolle erlangen, eine zentrale Funktion. Wenn ein zentraler Kommandant bzw. Stammesältester ein Bündnis mit den Taliban eingeht, so geschieht dies vielfach zur Sicherung der Interessen der Gemeinschaft (Hammer & Jensen 2016). Gleichzeitig könnte sich dies, sowohl durch ein geändertes Feindbild als auch hinsichtlich der Mobilisierungserwartungen auf die Zivilbevölkerung in dieser Gegend auswirken. [...]

(Auszug aus dem "Landinfo report Afghanistan: Afghanistan:

Rekrutierung durch die Taliban [Afghanistan: Rekruttering til Taliban]" übersetzt von Dipl.-Dolmetscherin Mag.a Michaela Spracklin im Auftrag der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [S. 10, 18, 19])

Laut Antonio Giustozzi werden in den gesellschaftlichen Strukturen in Afghanistan Entscheidungen von Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Anführern von Gemeinschaften getroffen. Sie entscheiden über die Mobilisierung von Kämpfern, und Afghanen sprechen nicht von "Zwangsrekrutierung", da sie nicht in Kategorien individueller Rechte denken. Die von den Führern getroffenen Entscheidungen sind legitim und werden von den gesellschaftlichen Einheiten (Familie und Stamm) akzeptiert. "Zwangsrekrutierung" ist daher ein Konzept, das sich nicht aus dem gesellschaftlichen Kontext Afghanistans ergibt.

In Monthly IDP-Updates des UNHCR hieß es, Binnenvertriebene hätten Zwangsrekrutierungen durch Aufständische gemeldet, beispielsweise in: Paktya (Ende 2014); Distrikt Tagab von Kapisa (Dezember 2014); Provinzen Logar und Herat (Februar 2015). In diesen Berichten wird jedoch nicht erläutert, was genau unter "Zwangsrekrutierung" zu verstehen ist, und es liegen auch keine Angaben zu den beteiligten Akteuren oder zur Prävalenz vor.

Patricia Gossman (HRW) sagt, Zwangsrekrutierung dürfe nicht nur dahin gehend verstanden werden, dass Talibankämpfer in eine Familie eindringen, sich deren Kinder schnappen und ihnen mit vorgehaltener Waffe befehlen, für sie zu kämpfen. Die Akteure der Rekrutierung sind nämlich schon da, sind diesen Kindern bekannt und überreden sie zum Mitmachen. Manchmal üben sie auf die Familien Druck aus. Nötigung oder Druck kann von einem Familienmitglied ausgehen, das schon bei den Taliban ist. Mitunter erhalten Familien Geld, damit Söhne zu den Taliban gehen. Es gibt also Zwang oder Nötigung, aber nicht immer Gewalt.

Nach Aussage von Borhan Osman steht die Prävalenz von Zwangsrekrutierungsstrategien in direktem Verhältnis zu dem Druck, unter dem eine bewaffnete Gruppe steht. In vielen Gebieten gelten die Taliban als siegreiche Kraft und verfügen über zahlreiche freiwillige Kämpfer, sodass sie bei der Rekrutierung auf Nötigung verzichten können. In anderen Gebieten mag der Druck für die Taliban, neue Kämpfer aufzutun, größer sein, aber auch dann werden Zwang oder Nötigung bei der Rekrutierung nur in Ausnahmefällen eingesetzt.

Osman weist auf die neue Lösung hin, die die Taliban für dieses Problem des Mangels gefunden haben: die mobilen Sondereinsatzkräfte (s. den Abschnitt Mobile Taliban-Einheiten), die zur Bereinigung einer Situation in ein Gebiet geschickt werden können. Dank dieser neuen militärischen Struktur muss auf lokaler Ebene weniger auf Zwangsrekrutierung zurückgegriffen werden.

Auf die Frage nach der Verpflichtung, gefallene oder kampfunfähig gewordene Kämpfer durch andere Familienmitglieder zu ersetzen (die im EASO-Bericht von 2012 erwähnte Praxis von "Einberufungen" , antwortete Osman, dies komme ihm sehr seltsam vor. Er glaube eher, die Taliban würden der Familie Achtung zollen und sie sogar nach dem Tod des Familienmitglieds finanziell unterstützen).

(Auszug aus folgender Quelle, EASO: Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan - Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen, September 2016, S. 23)

Rückkehr

Seit Jänner 2016 sind mehr als 700.000 nicht registrierte Afghanen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt (Thomson Reuters Foundation 12.1.2017); viele von ihnen sind, laut Internationalem Währungsfonds (IMF), hauptsächlich aus Pakistan, aus dem Iran, Europa und anderen Regionen nach Afghanistan zurückgekehrt. Viele Afghan/innen, die jahrzehntelang im Ausland gelebt haben, kehren in ein Land zurück und sind Konflikten, Unsicherheit und weitreichender Armut ausgesetzt. Aufgrund schwieriger wirtschaftlicher Bedingungen, sind Rückkehrer/innen im Allgemeinen arm. Auch wenn reichere Rückkehrer/innen existieren, riskiert ein typischer rückkehrender Flüchtling in die Armut abzurutschen (RFL/RE 28.1.2017). Die meisten Rückkehrer/innen (60%) entschlossen sich - laut UNHCR - in den städtischen Gegenden Kabuls, Nangarhar und Kunduz niederzulassen (UNHCR 6.2016).

IOM verlautbarte eine Erhöhung von 50.000 Rückkehrer/innen gegenüber dem Vorjahr. UNHCR hat im Jahr 2016 offiziell 372.577 registrierte Afghanen in die Heimat zurückgeführt. Laut UNHCR und IOM waren der Großteil der Rückkehrer junge Männer aus dem Iran, die auf der Suche nach Arbeit oder auf dem Weg nach Europa waren (Thomson Reuters Foundation 12.1.2017). Der Minister für Flüchtlinge und Repatriierung sprach sogar von einer Million Flüchtlinge, die im letzten Jahr nach Afghanistan zurückgekehrt sind - davon sind über 900.000 freiwillig in ihre Heimat zurückgekehrt sind (Khaama Press 17.1.2017).

Als "verwestlicht" wahrgenommene Personen:

Berichten zufolge werden Personen von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen, die vermeintlich Werte und/oder ein Erscheinungsbild angenommen haben, die mit westlichen Ländern in Verbindung gebracht werden, und denen deshalb unterstellt wird, die Regierung und die internationale Gemeinschaft zu unterstützen.

UNHCR ist auf Grundlage der vorangegangenen Analyse der Ansicht, dass - je nach den Umständen des Einzelfalls - für solche Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund ihrer (zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aufgrund anderer relevanter Gründe bestehen kann.

(Zusammenfassung aus folgender Quelle: UNHCR Richtlinien, Pkt III.A.1.j und l).

Dokumentierte Fälle eines gezielten Vorgehens gegen zurückkehrende Afghanen auf Grundlage einer "Verwestlichung", weil diese in Europa gereist wären oder dort gelebt hätten, westliche Ausweisdokumente in ihrem Besitz oder Ideen angenommen hätten, welche als "unafghanisch", "westlich" oder "europäisch" angesehen werden, sind spärlich. Uneinheitliche Beschreibungen aus Quellen nennen vereinzelte Berichte vermeintlicher Entführungen oder sonstige, auf Einzelne abzielende Verfolgungshandlungen, oder, dass nicht für jede Person ein Risiko besteht, aber, dass solche Handlungen vorkommen, wobei allerdings der Grad und die Verbreitung schwierig zu quantifizieren sind, oder aber, dass Verfolgung nicht spezifisch vorkomme wegen des Asylwerbens oder des Bereisens westlicher Länder.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus folgender Quelle: EASO, Country of Origin Report Afghanistan "Individuals targeted under societal and legal norms", Dezember 2017, [abrufbar unter:

https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/Afghanistan_targeting_society.pdf, abgerufen am 23.03.2018; in Folge: "EASO-Bericht Verfolgung Einzelner unter gesellschaftlichen und rechtlichen Normen"]" S. 92)

Afghanen, welche aus dem Westen zurückkehren wurden oft von anderen als Quelle für Mittel oder Wohlstand empfunden, nachdem sie Zeit im Ausland verbracht haben. Rückkehrer fürchten Entführungen für Schutzgeld aus diesem Grund oder, dass deren Kinder für Schutzgeld verschleppt werden. Die Australische Regierung stellte in einem Bericht aus 2015 fest, dass es vereinzelte Berichte über behauptete Entführungen nach der Rückkehr gibt. In ähnlicher Weise kommt ein Forschungsprojekt über Rückkehrmigration von Europa nach Afghanistan der Wissenschaftler Ceri Oeppen and Nassim Majidi, publiziert im Jahr 2015, zum Schluss, dass eine kleine Minderheit (der in der Studie behandelten afghanischen Rückkehren aus Europa) mit spezifische Bedrohungen nach deren Rückkehr, im Regelfall durch gewaltsames Verlangen nach Geld. Im Jahr 2015, brachte ein Artikel über zurückkehrende Afghanen aus dem Vereinigten Königreich das Beispiel, welcher geschlagen und zum Zweck der Schutzgelderpressung entführt wurde, welchem es jedoch gelang, zu entkommen. Dr. Schuster gab an, dass ihr drei Fälle bekannt seien, wo zurückkehrende Afghanen wegen deren empfundenen/gefühlten Wohlstands bedroht oder geschlagen wurden. Weitere Beispiele von durch Kriminalität verfolgten Migranten konnten innerhalb der Zeitbeschränkung nicht gefunden werden.

(Auszug aus folgender Quelle: EASO-Bericht Verfolgung unter gesellschaftlichen und rechtlichen Normen, Pkt. 8.5)

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und Religion des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer brachte glaubhaft vor, im Iran geboren worden zu sein und dort sein gesamtes Leben verbracht zu haben, wohingegen er sich nie in seinem Herkunftsstaat Afghanistan aufgehalten hätte, in welchem er auch über keine verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkte verfüge. Schon das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat entsprechende Feststellungen getroffen.

2.2. Der Beschwerdeführer - welcher über keinerlei unmittelbare Wahrnehmungen hinsichtlich der Gegebenheiten in seinem Herkunftsstaat verfügt - hat weder eine konkrete Verfolgung, noch eine individuelle Bedrohung durch staatliche Organe oder Privatpersonen vorgebracht. Angesichts der Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer nie in Afghanistan aufgehalten hat, sich nie politisch betätigte und von keinen Problemen mit den Behörden seines Herkunftsstaates betroffen gewesen ist, ging die belangte Behörde zutreffend vom Nichtbestehen eines realen Risikos einer individuellen Verfolgung des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückkehr aus, zumal auch der Beschwerdeführer selbst zu keinem Zeitpunkt ein konkretes Vorbringen in diese Richtung erstattet hat.

2.3. Auch darüber hinaus vermochte der Beschwerdeführer eine individuelle und konkrete Betroffenheit von Verfolgung aufgrund seiner Eigenschaft als Hazara und Schiit nicht aufzuzeigen:

Wie festgestellt, hielt sich der Beschwerdeführer nie in Afghanistan auf und konnte mit seinem Vorbringen keine konkret auf seine Person bezogene Gefährdung im Zusammenhang mit seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit dartun. Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der schiitischen Minderheit der Hazara keine Gefahr einer Verfolgung im Herkunftsstaat unterliege, beruht auf den eigenen Angaben des Beschwerdeführers, der eine solche Bedrohung im Verfahren nicht substantiiert behauptet, vielmehr dezidiert verneint hat, sowie auf den Feststellungen über die Situation der Volksgruppe der Hazara im Herkunftsstaat. Dazu ist auch auf das aktuelle Urteil des EGMR vom 05.07.2016 (EGMR AM/NL, 05.07.2016, 29.094/09) zu verweisen, das insbesondere feststellt, dass auch die Angehörigkeit zur Minderheit der Hazara nicht dazu führt, dass im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan eine unmenschliche Behandlung drohen würde (in diesem Sinne auch die Revisionszurückweisungen des Verwaltungsgerichtshofs vom 10.08.2017, Ra 2017/20/0041, vom 23.01.2018, Ra 2017/18/0377-6, sowie vom 30.01.2018, Ra 2017/20/0406).

Dafür, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan alleine aufgrund seiner schiitischen Religionszugehörigkeit verfolgt werden würde, finden sich in den herangezogenen Länderberichten ebenfalls keine Anhaltspunkte.

2.4. Die Feststellungen, dass dem Beschwerdeführer auf Grund seines mehrjährigen Aufenthalts im Iran und in Europa keine konkret gegen ihn gerichtete physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan droht, ergeben sich aus seinem diesbezüglich lediglich allgemein gehaltenen Beschwerdevorbringen, mit dem er mögliche Gewalthandlungen gegen seine Person nicht hinreichend substantiiert aufzuzeigen vermochte.

2.5. Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr nach Afghanistan keiner Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt wäre, ergibt sich daraus, dass die diesbezüglichen Ausführungen in der Stellungnahme vom 07.07.2017 sowie in der Beschwerde als zu vage und unsubstantiiert zu beurteilen sind, um daraus eine konkrete und individuell gegen den Beschwerdeführer gerichtete Bedrohung in Afghanistan ableiten zu können. Es ist zudem festzuhalten, dass der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde eine Furcht vor einer möglichen Zwangsrekrutierung mit keinem Wort erwähnte. Aus den Ausführungen des Beschwerdeführers lässt sich keine aktuelle, maßgebliche Verfolgung des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr nach Afghanistan ableiten. Denn die bloße Angst vor einer Zwangsrekrutierung des Beschwerdeführers reicht nicht aus, um von einer maßgeblichen Bedrohung auszugehen.

2.6. Den im Beschwerdeschriftsatz aufgezeigten möglichen Bedrohungsaspekten (allgemeine Sicherheitslage, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, mangelnde Vertrautheit mit den Gegebenheiten im Herkunftsstaat sowie Fehlen familiärer Unterstützungsmöglichkeiten) wurde durch die Gewährung subsidiären Schutzes fallgegenständlich hinreichend Rechnung getragen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:

Gemäß § 9 Abs. 2 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, und § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA.

Da sich die gegenständliche Beschwerde gegen einen Bescheid des BFA richtet, ist das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung zuständig.

Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr 33/2013 idgF, geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG),

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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