TE Bvwg Beschluss 2018/5/9 W124 2174205-1

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Veröffentlicht am 09.05.2018
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Entscheidungsdatum

09.05.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W124 2174205-1/8E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Felseisen als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Indien, vertreten durch den XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl XXXX beschlossen:

A) In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid

behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Die Beschwerdeführerin (nunmehr BF) reiste legal mittels Touristenvisums ins Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am XXXX fand durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der BF statt. Dabei gab sie an, aus dem XXXX in Indien zu stammen und der Religion der Sikhs anzugehören. Sie sei verwitwet und habe eine dreijährige Tochter in Indien, welche bei ihrer Mutter wohne. Befragt zu ihrem Fluchtgrund führte sie aus, dass ihre Schwiegereltern sie nach dem Tod ihres Ehemannes mit jemandem zwangsverheiraten wollten und der BF gedroht hätten, sie sonst umzubringen.

3. Die BF wurde am XXXX beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr BFA) von einem männlichen Organwalter in Anwesenheit einer weiblichen Dolmetscherin einvernommen und brachte im Wesentlichen zu ihrem Fluchtgrund vor, nach dem Tod ihres Ehemannes von ihrer Schwiegerfamilie ziemlich unter Druck gesetzt worden zu sein. Die Schwiegerfamilie habe sie gegen ihren Willen verheiraten wollen. Die BF habe versucht, selbständig zu werden und habe gearbeitet. Sie sei dann zu ihrer Familie gezogen, doch habe ihre Schwiegerfamilie sie trotzdem immer wieder angerufen und unter Druck gesetzt.

Die BF brachte weiter vor, mit einem österreichischen Staatsbürger zusammenzuleben und ein Kind von ihm zu erwarten. Jeder in Indien würde bei einer Rückkehr nach Indien fragen, von wem das Kind sei.

4. Mit dem nun angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).

Das BFA stellte fest, dass die BF über keine wirtschaftlichen und familiären Anknüpfungspunkte in Österreich verfüge. Es sei nicht feststellbar, wer der Vater des noch ungeborenen Kindes sei.

Beweiswürdigend führte das BFA unter anderem aus, dass die Zwangsverheiratung durch die Schwiegereltern unglaubwürdig sei, zumal die BF nach dem Tod ihres Ehemanns über ein Jahr in Indien gelebt habe und daraus zu schließen sei, dass die Familie des angeblich verstorbenen Ehemannes kein Interesse gehabt habe, der BF etwas anzutun.

5. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde der BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der XXXX amtswegig als Rechtsberater zur Seite gestellt.

6. Mit fristgerecht eingebrachter Beschwerde wurde der im Spruch genannte Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten.

Die BF sei verwitwet und habe eine Tochter. Sie sei aus Indien ausgereist, da sie von ihrer Schwiegerfamilie bedroht worden sei. Nach dem Tod ihres Ehemannes im Jahr 2015 habe dessen Familie die BF zwangsverheiraten wollen. Bei einer Rückkehr nach Indien befürchte die BF von der Schwiegerfamilie bedroht oder getötet zu werden.

Die Behörde habe sich mit dem Vorbringen der BF nicht ausreichend auseinandergesetzt und keine Feststellungen zur sozialen Gruppe der verwitweten Frauen in Indien und zu Zwangsehen getroffen.

Die BF habe außerdem vorgebracht, dass sie von ihrem namentlich genannten Lebensgefährten, welcher die österreichische Staatsbürgerschaft besitze, ein Kind erwarte. Die BF wohne mit diesem im gemeinsamen Haushalt und sei von ihm abhängig. Es sei jedenfalls von einem bestehenden Familienleben auszugehen.

Der Beschwerde wurde eine Kopie des Mutter-Kind-Passes beigelegt.

7. Mit Schreiben des bevollmächtigten Vertreters der BF vom XXXX wurden der Meldezettel, der Staatsbürgerschaftsnachweis sowie der Bescheid über dessen Verleihung und der Reisepass des genannten Kindsvaters in Kopie vorgelegt.

8. Mit einem weiteren Schreiben des bevollmächtigten Vertreters der BF vom XXXX wurde mitgeteilt, dass die BF am XXXX ihr Kind zur Welt gebracht habe. Dem Schreiben wurden die Geburtsurkunde, der Meldezettel und der Staatsbürgerschaftsnachweis des Kindes, die Vaterschaftsanerkennung des Kindsvaters und eine Kursbestätigung Deutsch A1 der BF vom XXXX beigelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr 33/2013 idgF, geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu Spruchteil A):

2.1. Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat. Zur Anwendung des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG durch die Verwaltungsgerichte hat der Verwaltungsgerichtshof ausgehend von einem prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht durch das Verwaltungsgericht präzisierend wie folgt festgehalten (VwGH vom 06.07.2016, Ra 2015/01/0123):

"In § 28 VwGVG 2014 ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg cit vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (Hinweis E vom 17. Dezember 2014, Ro 2014/03/0066, mwN). Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden (Hinweis E vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/22/0087, mwN). Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (Hinweis E vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0029, mwN)."

Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof in ständiger Judikatur ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer- Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (vgl. VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 m. w. N., 14.421/1996, 15.743/2000).

Die Behörde hat die Pflicht, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Die Behörde darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 10.04.2013 zu Zl. 2011/08/0169 sowie dazu Walter/Thienel, Verwaltungsverfahren Band I2, E 84 zu § 39 AVG).

2.2. Im gegenständlichen Fall liegt eine Mangelhaftigkeit im Sinne des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vor.

2.2.1. Gemäß § 20 Abs. 1 AsylG ist ein Asylwerber von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, sobald dieser seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung gründet, und der Asylweber nichts anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

Die Bestimmung das § 20 Abs. 1 AsylG soll den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Ab dem Zeitpunkt des Vorbringens eines Eingriffs in die sexuelle Integrität, ist der Asylwerber von einem gleichgeschlechtlichen Organwalter einzuvernehmen, um einer bestehenden Hemmung, vor einem andersgeschlechtlichen Organwalter über sexuelle Übergriffe zu sprechen, entgegen zu wirken. Eine, in einem solchen Fall, durch einen andersgeschlechtlichen Organwalter vorgenommene Beweiswürdigung ist mit dem in § 20 Abs. 1 AsylG aufgestellten Erfordernis nicht in Einklang zu bringen (VwGH vom 19.12.2007, Zl 2005/20/0321).

Die BF brachte sowohl bei der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes als auch bei der Einvernahme vor dem BFA vor, dass ihr durch die Eltern ihres verstorbenen Ehemanns die Zwangsverheiratung droht.

Der Begriff der "sexuellen Selbstbestimmung" ist weit auszulegen. Auch eine Zwangsheirat stellt einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung dar, da Frauen in Zwangsehen inhärent sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 20 AsylG, K5 u. K7; VwGH vom 23.02.2011, 2011/23/0013; VfGH vom 18.09.2015, E 1003/2014).

Die BF hat daher sowohl bei der Erstbefragung als auch bei der Einvernahme vor dem BFA ihre Verfolgung hauptsächlich auf einen Eingriff in ihre sexuelle Integrität gestützt. Der Niederschrift der Einvernahme vom XXXX ist nicht zu entnehmen, dass die BF über den Inhalt des § 20 AsylG in Kenntnis gesetzt wurde oder sie explizit nach einem männlichen Dolmetscher verlangt hat. Die BF hätte daher vor dem BFA zwingend von einem weiblichen Organwalter und einem weiblichen Dolmetscher einvernommen werden müssen.

Das BFA hat daher dadurch, dass die BF am XXXX von einem männlichen Einvernahmeleiter zu ihrer vorgebrachten Zwangsverheiratung einvernommen wurde, die Intention des § 20 AsylG, nämlich allfällige Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung abzubauen, vereitelt.

Die BF hatte nicht ausreichend Gelegenheit zur Darstellung der geltend gemachten Verfolgungsgründe. Die Einvernahme durch einen Organwalter des anderen Geschlechts stellt im gegenständlichen Fall einen gravierenden Ermittlungsmangel dar, zumal das BFA seine Beweiswürdigung auf die Einvernahme vom XXXX stützt.

Das BFA hat daher völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt. Der unterlaufene erhebliche Verfahrensmangel macht eine neuerliche Einvernahme der BF unter Beachtung des § 20 Abs. 1 AsylG und unter Zugrundelegung aktueller Länderfeststellungen unentbehrlich.

2.2.2. Das BFA hat außerdem keine ausreichenden Länderfeststellungen betreffend die von der BF vorgebrachten Zwangsverheiratung und der Stellung der BF als verwitwete Frau bzw. Mutter eines unehelichen Kindes durchgeführt.

2.2.3. Des Weiteren hat das BF völlig mangelhafte Ermittlungen hinsichtlich des Privat- und Familienlebens der BF durchgeführt, indem es die BF zu ihrer Lebensgemeinschaft mit einem österreichischen Staatsangehörigen diesbezüglich unzureichend befragt hat und ohne weitere Begründung von keinem schützenswerten Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK ausgegangen ist.

Wie die Beschwerdeschrift zutreffend aufzeigt, ist der Begriff des Familienlebens nicht auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR 13.06.1979, Fall Marckx und VfGH vom 22.09.2011, B1405/10 mit Hinweisen auf VfSlg. 16.928/2003 und VfGH 22.6.2009, U1031/09).

Das BFA wird dementsprechend das Privat- und Familienleben in geeigneter Form und unter Einbeziehung der zwischenzeitlichen Geburt der gemeinsamen Tochter der BF und ihres Lebensgefährten, insbesondere in Hinblick auf die österreichische Staatsbürgerschaft der minderjährigen Tochter, zu ermitteln haben.

2.3. Angesichts derart ungeeigneter Ermittlungsschritte bzw. gravierender Ermittlungslücken erscheint eine sachgerechte Beurteilung der Beschwerde auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse der belangten Behörde als völlig ausgeschlossen, wobei hinsichtlich der Beurteilung ein vom bekämpften Bescheid abweichendes Ergebnis nicht auszuschließen ist.

Der unterlaufene erhebliche Verfahrensmangel macht eine neuerliche Einvernahme der BF unter Beachtung des § 20 Abs. 1 AsylG und unter Zugrundelegung aktueller und vollständiger Länderfeststellungen, insbesondere betreffend Zwangsehe und die Situation von verwitweten Frauen bzw. von Müttern unehelicher Kinder unentbehrlich. Des Weiteren wird die BF ausführlich zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich befragt werden müssen.

Besondere Gesichtspunkte, die aus der Sicht des Verwaltungsgerichtes gegen eine Kassation des angefochtenen Bescheides sprechen würden, sind im vorliegenden Fall nicht erkennbar. So können keine Anhaltspunkte dafür erkannt werden, dass eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in der Sache im Interesse der Raschheit gelegen wäre. Das Verfahren würde durch eine Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht keine Beschleunigung erfahren, zumal das BFA als asyl- und fremdenrechtliche Spezialbehörde anzusehen ist und wesentlich rascher und effizienter die notwendigen Ermittlungen nachholen kann. Aus der Aktenlage ergeben sich weiters auch keine Hinweise, wonach die Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre. Vielmehr ist angesichts der Einrichtung und Ausstattung des Bundesamtes als asyl- und fremdenrechtliche Spezialbehörde vom Gegenteil auszugehen.

2.4. Im gegebenen Zusammenhang handelt es sich sohin um einen wesentlichen Verfahrensmangel, der mit besonders gravierenden Ermittlungslücken einhergeht, deren Behebung nur durch die neuerliche Befragung der BF unter Beachtung des § 20 Abs. 1 AsylG und einer Nachholung der verabsäumten Ermittlungen zu bewirken ist. Auch vor dem Hintergrund verwaltungsökonomischer Überlegungen und den Effizienzkriterien des § 39 Abs. 2 AVG macht das Bundesverwaltungsgericht von dem ihm in § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG eingeräumten Ermessen Gebrauch.

Der angefochtene Bescheid ist daher gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit an das Bundesamt zurückzuverweisen.

2.5. Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 leg. cit. kann eine Verhandlung entfallen, wenn u.a. bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zum Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde
Sachverhaltsfeststellung, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W124.2174205.1.00

Zuletzt aktualisiert am

18.05.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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