TE Vwgh Erkenntnis 2000/3/15 97/09/0260

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Veröffentlicht am 15.03.2000
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Index

E2D Assoziierung Türkei;
E2D E02401013;
E2D E05204000;
E2D E11401020;
E6J;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
60/04 Arbeitsrecht allgemein;
62 Arbeitsmarktverwaltung;

Norm

61993CJ0434 Ahmet Bozkurt VORAB;
61995CJ0386 Süleyman Eker VORAB;
61997CJ0340 Ömer Nazli VORAB;
ARB1/80 Art14;
ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art6;
AuslBG §1 Abs3;
FrG 1993 §11 Abs1;
FrG 1993 §18 Abs1;
FrG 1997 §16 Abs1 impl;
FrG 1997 §36 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Blaschek, Dr. Rosenmayr und Dr. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Thalhammer, über die Beschwerde des E Ö in W, vertreten durch Dr. Heinrich Vana, Rechtsanwalt in Wien II, Taborstraße 10/2, gegen den Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom 14. April 1997, Zl. 10/13117/697.351/1997, betreffend Feststellung gemäß Art. 6 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Arbeitsmarktservice hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer (ein türkischer Staatsangehöriger) begehrte mit Antrag vom 31. Oktober 1996 die Erlassung eines Feststellungsbescheides darüber, dass er die Voraussetzungen des Art. 6 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 (gemeint im Sinne dessen Abs. 1 dritter Gedankenstrich) erfülle.

Mit dem im Instanzenzug ergangenen, vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 14. April 1997 wurde der Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 66 Abs. 4 AVG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 keine Folge gegeben und damit die Erlassung des begehrten Feststellungsbescheides abgelehnt.

Zur Begründung ihrer Entscheidung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer erfülle "die anspruchsgegründenden Voraussetzungen des Art. 6 des Assoziationsabkommens"; die "Anrechnungskette der Dienstverhältnisse in der 4-Jahresfrist" sei - anders als die Erstbehörde angenommen habe - nicht als unterbrochen anzusehen. Zur "Ordnungsgemäßheit" der Beschäftigung zähle auch das Vorhandensein einer gültigen Aufenthaltsberechtigung im Sinn des Aufenthaltsgesetzes oder eines vor dem 1. Juli 1992 ausgestellten Sichtvermerkes nach dem Fremdengesetz, der noch gültig sei. Der dem Beschwerdeführer 1986 unbefristet erteilte Sichtvermerk sei von der Bundespolizeidirektion Wien (Fremdenpolizeiliches Büro) mit Bescheid vom 8. Jänner 1996 wegen Verstoß gegen das Suchtgiftgesetz für ungültig erklärt worden. Seither verfüge der Beschwerdeführer - laut Auskunft der Aufenthaltsbehörde und der Fremdenbehörde - weder über einen gültigen Sichtvermerk noch über eine Aufenthaltsberechtigung. Da dem Beschwerdeführer keine neue Aufenthaltsberechtigung erteilt worden sei, gelte sein Aufenthalt und auch seine Beschäftigung nicht als "ordnungsgemäß im Sinne des Assoziationsabkommens".

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Der Beschwerdeführer erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid "in seinem aus Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.9.1980 (ARB 1/80) erfließenden Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis in Österreich verletzt". Er beantragt, den angefochtenen Bescheid kostenpflichtig aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt wird.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation

(ARB Nr. 1/80) hat folgenden Wortlaut:

"Art. 6

(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Art. 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat

-

nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

-

nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

-

nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

              2)              Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die auf Grund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.

              3)              Die Einzelheiten der Durchführung der Abs. 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt."

Die belangte Behörde gelangte im Beschwerdefall ausschließlich deshalb zur Verneinung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich des ARB Nr. 1/80, weil sie die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zum Arbeitsmarkt von seiner aufenthaltsrechtlichen Stellung nach einer im Jahr 1996 ergangenen fremdenpolizeilichen Entscheidung über seinen Sichtvermerk abhängig gemacht hat und derart den Aufenthalt und die (bisherige zumindest vierjährige Dauer der) Beschäftigung des Beschwerdeführers als nicht "ordnungsgemäß" beurteilte.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (vgl. etwa das Urteil des EuGH vom 25. September 1997 in der Rechtssache C-36/96, Faik Günaydin u.a. gegen Freistaat Bayern, RNr 49 f) stehen türkischen Arbeitnehmern die durch Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 verliehenen Rechte unabhängig davon zu, dass die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ein spezielles Verwaltungsdokument wie eine Arbeits- oder eine Aufenthaltserlaubnis ausstellen. Die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung im Sinn von Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen aus dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats voraus; sie ist an Hand der Rechtsvorschriften des Aufnahmestaats zu prüfen, die die Voraussetzungen regeln, unter denen der türkische Staatsangehörige in das nationale Hoheitsgebiet gelangt ist und dort eine Beschäftigung ausübt. Liegen diese Voraussetzungen vor, so impliziert Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80, der dem türkischen Arbeitnehmer das Recht verleiht, nach einem bestimmten Zeitraum ordnungsgemäßer Beschäftigung seine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis bei dem gleichen Arbeitgeber oder im gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl weiter auszuüben oder jede Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis seiner Wahl frei aufzunehmen, zwangsläufig, dass dem Betroffenen ein Aufenthaltsrecht zusteht, weil sonst das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf Ausübung einer Beschäftigung völlig wirkungslos wäre (vgl. hiezu auch das Urteil des EuGH vom 6. Juni 1995 in der Rechtssache C-434/93, Ahmet Bozkurt gegen Staatssecretaris van Justitie, RNr 26 bis 28, und die dort angegebene Judikatur). Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis eines türkischen Arbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat wird im Sinn des Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des ARB Nr. 1/80 somit davon abhängig gemacht, dass dieser ein Jahr ununterbrochen eine ordnungsgemäße Beschäftigung bei ein und demselben Arbeitgeber ausgeübt hat (vgl. insoweit das Urteil des EuGH vom 29. Mai 1997 in der Rechtssache C-386/95, Süleyman Eker gegen Land Baden-Würtemberg, RNr. 31).

Auch zuletzt in seiner Entscheidung vom 10. Februar 2000 (mündlich verkündet in der Rechtssache C-340/97, Ömer Nazli u.a. gegen Stadt Nürnberg) führte der EuGH aus, die unmittelbare Wirkung des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 führe dazu, dass dem türkischen Arbeitnehmer unmittelbar aus dem ARB Nr. 1 /80 nicht nur ein individuelles Recht auf Beschäftigung zustehe, vielmehr impliziere die praktische Wirksamkeit dieses Rechts darüber hinaus zwangsläufig ein entsprechendes Aufenthaltsrecht, das ebenfalls auf dem Gemeinschaftsrecht beruhe. Zwar werde durch den ARB Nr. 1/80 die Befugnis der Mitgliedstaaten, einem türkischen Staatsangehörigen die Einreise in das Hoheitsgebiet und die Ausübung einer ersten unselbständigen Erwerbstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet zu verwehren, nicht berührt und stehe auch grundsätzlich nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, die Bedingungen seiner Beschäftigung bis zum Ablauf des in Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich leg. cit. genannten Jahres zu regeln, jedoch gestatte Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1 /80 nach ständiger Rechtsprechung einem Mitgliedstaat nicht, einseitig den Inhalt des Systems der schrittweisen Eingliederung der türkischen Staatsangehörigen in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats zu verändern. Dieser sei deshalb nicht mehr befugt, aufenthaltsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen, die die Ausübung der Rechte beeinträchtigen können, die dem Betroffenen, der die entsprechenden Voraussetzungen erfülle und daher also bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat eingegliedert sei, ausdrücklich durch den ARB Nr. 1/80 verliehen werden (vgl. das genannte Urteil des EuGH vom 10. Februar 2000, RNr. 28,29,30).

Die belangte Behörde hat, indem sie die Beschäftigung und den Aufenthalt des Beschwerdeführers ausschließlich deshalb als "nicht ordnungsgemäß" beurteilte, weil die Fremdenpolizei im Jahr 1996 den dem Beschwerdeführer 1986 unbefristet ausgestellte Sichtvermerk für ungültig erklärte, die - der dargestellten Rechtsprechung des EuGH entnehmbare - Rechtslage verkannt, war der Beschwerdeführer doch vor dem Zeitpunkt des Ergreifens der genannten fremdenpolizeilichen Maßnahme unbestrittenermaßen mehr als vier Jahre durchgehend beschäftigt und konnte derart sein Aufenthaltsrecht bzw. eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis bereits unmittelbar auf Art. 6 Abs. 1 des ARB Nr. 1/80 stützen (vgl. insoweit auch das Urteil des EuGH vom 16. Dezember 1992 in der Rechtssache C-237/91, Kazim Kus gegen Landeshauptstadt Wiesbaden, RNr. 27 ff). Die 1996 nach innerstaatlichen Rechtsvorschriften getroffene fremdenpolizeiliche Maßnahme, seinen unbefristeten Sichtvermerk für ungültig zu erklären, kann dem Beschwerdeführer bei der im Beschwerdefall gegebenen Sach- und Rechtslage nicht entgegengehalten werden, durfte die Ausübung der vom Beschwerdeführer gestützt auf Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 erlangten (mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union am 1. Jänner 1995 wirksam gewordenen) Rechtsstellung von einem Mitgliedstaat doch weder an Bedingungen geknüpft noch eingeschränkt werden.

Das somit auf Gemeinschaftsrecht (Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80) beruhende Aufenthaltsrecht kann dem Beschwerdeführer auch unter Bedachtnahme auf den Anlass für die fremdenpolizeiliche Maßnahme - ein Verstoß gegen das Suchtgiftgesetz - nicht ohne weiteres abgesprochen werden, hat die belangte Behörde im Beschwerdefall doch nicht festgestellt, dass das persönliche Verhalten des Beschwerdeführers auf eine konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung in Österreich hindeute und derart die Voraussetzungen für seine mit Art. 14 Abs. 1 ARB Nr. 1 /80 in Einklang stehenden Ausweisung vorlägen bzw. inwieweit eine solche gerechtfertigt wäre (vgl. in dieser Hinsicht nochmals das genannte Urteil des EuGH vom 1. Februar 2000, RNr. 50 ff, Vorlagefrage 2).

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit § 41 AMSG und der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 416/1994.

Der Aufwand für die tatsächlich entrichteten Stempelgebühren war nicht zu ersetzen, da der Beschwerdeführer im Rahmen der Verfahrenshilfe mit Beschluss vom 30. Mai 1997 von deren Entrichtung befreit wurde.

Wien, am 15. März 2000

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2000:1997090260.X00

Im RIS seit

12.02.2002

Zuletzt aktualisiert am

15.11.2011
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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