TE Bvwg Beschluss 2018/4/27 W228 2170035-1

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Veröffentlicht am 27.04.2018
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Entscheidungsdatum

27.04.2018

Norm

B-VG Art.133 Abs4
VOG §1
VOG §10
VOG §3
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W228 2170035-1/8E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald WÖGERBAUER als Vorsitzenden und den Richter Mag. Reinhard SEITZ sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX1967, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservices, Landesstelle Wien, vom 10.07.2017, GZ: XXXX, betreffend Abweisung des Antrages auf Ersatz des Verdienstentganges gemäß § 1 Abs. 1 und Abs. 3, § 3 und § 10 Abs. 1 VOG beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG idgF zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

XXXX (im Folgenden: Beschwerdeführerin) stellte am 13.06.2014 einen Antrag auf Leistungen nach dem österreichischen Verbrechensopfergesetz (VOG).

Antragsbegründend brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er sich in den Jahren 1967 bis 1984 in diversen Heimen (Säuglingsheim Lainzerstraße, Julius Tandlerheim, Maria Enzersdorf, Kath. Hütteldorf, Lindendorf, Lehrlingsheim Leopoldstadt) befunden habe. Dort sei er misshandelt und mehrmals vergewaltigt worden. Weiters habe ein Freiheitsentzug stattgefunden und habe er keine Besuchserlaubnis erhalten.

Ende Juni 2014 brachte der Beschwerdeführer seinen Jugendamtsakt, eine Aufenthaltsbestätigung sowie einen Patientenbrief und einen Situationsbericht vom Therapiezentrum Ybbs/Donau, eine Bestätigung über seine Leistungshöhe der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) sowie eine Benachrichtigung über Psychotherapiestunden bzw. eine Kostenübernahme von Fahrtkosten vom Weißen Ring beim Sozialministeriumservice ein und reichte die fehlenden Seiten des Antrags nach, wobei er hierbei seinen Antrag konkretisierte und lediglich den Verdienstentgang beantragte. Weiters gab er an, dass er aufgrund der Misshandlungen unter psychischen Gesundheitsschädigungen leide, er sich von 07. Mai 2014 bis 06. Juni 2014 in Ybbs in stationärer Behandlung befunden habe, Frau XXXX seine behandelnde Psychotherapeutin sei und, dass er in den letzten 15 Jahren bei diversen Möbelhäusern als Verkäufer beschäftigt gewesen wäre. Zuvor sei er noch als Installateur, Friseur und Kellner tätig gewesen.

Am 21.08.2014 langte das Entschädigungsschreiben des Weißen Rings sowie ein fachärztlicher Befundbericht von Frau Dr. XXXX bei der belangten Behörde ein. Diese gab an, dass der Beschwerdeführer erstmals am 21. Februar 2013 aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer chronischen mittelgradigen Depression und einer kombinierten Persönlichkeitsstörung ihre Ordination aufgesucht hätte. Die posttraumatische Belastungsstörung zeige die typischen Symptome von Flashbacks, Alpträumen und innerer Unruhe. Der Beschwerdeführer sei in diversen Heimen aufgewachsen und hätte massive Gewalterfahrungen sowie sexuellen Missbrauch erlebt. Er sei in den letzten Jahren bei 34 unterschiedlichen Firmen beschäftigt gewesen und würde sich aus der Arbeitsfähigkeit durch massive Selbstverletzungen wie Fingerfrakturen und ähnliches "retten". Zusätzlich würden er an Angstzuständen, Alpträumen, massiven Durchschlafstörungen, Appetitlosigkeit, schwergradig depressiven Symptomen mit Suizidalität leiden, sodass von einer Arbeitsfähigkeit aus fachärztlicher Sicht nicht auszugehen sei. Ergänzend erwähnt sei noch ein einmonatiger Aufenthalt im Psychiatrischen Krankenhaus Ybbs im Frühsommer dieses Jahres, der aus therapeutischen Gründen durchgeführt worden sei, allerdings keinen Erfolg verzeichnet habe. Offensichtlich bestehe zwischen den Symptomen und den schweren Misshandlungen in der Kindheit ein deutlicher Zusammenhang.

Am 03.11.2014 langte bei der belangten Behörde der Clearingbericht des Weißen Ring ein. In seinem Clearinggespräch beim Weißen Ring am 22.09.2011 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er das vierte und letzte Kind aus der ersten Ehe seiner Mutter mit seinem Vater gewesen sei. Seine Mutter habe noch zwei weitere Kinder in einer weiteren Beziehung bekommen, dürfte der Prostitution nachgegangen und alkoholabhängig gewesen sein. Sein Vater sei ebenfalls nicht in der Lage gewesen, sich um die vier Kinder zu kümmern. Der Beschwerdeführer sei bereits als Säugling fremd untergebracht gewesen. Es hätten in seiner Kindheit abwechselnd Aufenthalte bei der Mutter und dann wieder Fremdunterbringungen gefolgt. Detaillierte Beschreibungen von Misshandlungen beziehen sich vor allem auf das Heim in Hütteldorf, wo er zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr untergebracht gewesen sei. Er habe psychische und physische Gewalt durch Erzieherinnen erlitten. Beschimpfungen, Verhöhnungen, Unberechenbarkeit und Willkür, Entwertungen, Beschämungen, Erniedrigungen, Vereitelung von freudvollen Tätigkeiten und das Zusehen wie andere erniedrigt und misshandelt wurden, seien alltäglich gewesen. Ebenso habe er Prügel mit den Fäusten, Schläge mit der flachen Hand mit beringten Fingern erhalten, Haarbüschel seien ihm ausgerissen worden, er sei sexuell belästigt (in der Dusche von Erzieherinnen begrapscht und begutachtet) sowie zwei Mal vergewaltigt worden. Belastend sei auch gewesen, dass er als einziger am Wochenende keinen Besuch bekommen habe dürfen. Er würde an Depressionen, Angstzuständen, mangelndem Zugang zu seinen Gefühlen, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Beeinträchtigung der Merkfähigkeit, Problemen mit Autoritäten, Fluchttendenzen, autoaggressivem Verhalten, innerlicher Einengung und Leere und Beeinträchtigung des Selbstwerts leiden. Er sei in seiner Arbeits-, Liebes- und Beziehungsfähigkeit deutlich beeinträchtigt. Die Symptome würden mit großer Wahrscheinlichkeit in Verbindung mit der erlebten Gewalt während der Fremdunterbringungen stehen. Aufgrund der sehr frühen und wechselnden Unterbringungen bei der Mutter, in Krisenzentren und Heimen sei eine eindeutige Zuordnung der Symptomatik nicht möglich.

Am 04.12.2014 langte bei der belangten Behörde ein Schreiben des Beschwerdeführers ein, in welchem nähere Ausführungen betreffend seine Erlebnisse während der Heimaufenthalte getätigt wurden. Es wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer mit ca. 6 oder 7 Jahren im Julius-Tandler-Heim gewesen sei. Dort sei er regelmäßig von den Erzieherinnen auf die Ohren geschlagen worden, bis diese pfiffen. Mit diesen heftigen "Ohrenpantschern" sei regelmäßig gedroht worden. Besonders schlimm sei die Zeit in Hütteldorf gewesen. Dort hätten einige Schwestern und ein Erzieher ein grausames Regime geführt. Alle von ihnen hätten den Beschwerdeführer regelmäßig mit der Hand und der Faust geschlagen und auf ihn eingetreten. Eine häufige Strafe sei die kollektive "Leibeserziehung" gewesen. Hierbei hätte er 30 - 60 Minuten stehen und dabei die Fingerspitzen an den Zehen haben müssen. Diese Strafe sei z.B. eingesetzt worden, wenn im Schlafsaal gesprochen wurde. Eine andere Strafe sei Essensentzug gewesen. Zwei Mal habe ein Erzieher der Beschwerdeführer vergewaltigt. Einmal in der Dusche, wo er von den Prügeln einen blutigen Kopf gehabt habe. Das andere Mal im WC. Damals sei er ungefähr 12 oder 13 Jahre alt gewesen. Diese Erinnerungen würden ihn bis heute verfolgen und quälen. Der Bruder des Beschwerdeführers, welcher selbst ein halbes Jahr in Hütteldorf gewesen sei, könne bezeugen, dass ein Erzieher Buben sexuell belästigt habe. Ungefähr 4 - 5 Mal seien in Hütteldorf am Wochenende fremde Männer gekommen und hätten sich zum Beschwerdeführer ins Bett gelegt. Er habe dann Probleme mit Hämorrhoiden gehabt, weil einer von ihnen ihn so stark verletzt habe. In Eggenburg sei ihm der Beginn einer Installateurlehre aufgezwungen worden. Er habe jedoch niemals Installateur werden wollen.

Am 07.03.2016 wurde ein nervenfachärztliches Gutachten von Dr. XXXX, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, betreffend einen eventuellen kausalen Zusammenhang zwischen den Gesundheitsschädigungen sowie dem beruflichen Werdegang erstellt.

Mit Schreiben vom 30.03.2016 wurde dem Beschwerdeführer das Gutachten vom 07.03.2016 im Rahmen des Parteiengehörs zur Stellungnahme übermittelt.

Am 24.05.2016 langte die Stellungnahme des Beschwerdeführers zum Parteiengehör vom 30.03.2016 bei der belangten Behörde ein. Diese wurde einerseits von seiner Psychotherapeutin Frau XXXX und andererseits von Frau Dr. XXXX verfasst. Der Beschwerdeführer schloss sich beiden Ausführungen vollinhaltlich an und ersuchte um neuerliche Begutachtung durch eine Frau und insbesondere die Berücksichtigung des Tilgungsgesetzes. Frau XXXX brachte im Wesentlichen vor, dass es aufgrund der Vergewaltigungen angemessen gewesen wäre, die Begutachtung von einer Frau durchführen zu lassen. Weiters habe der Gutachter gegen das Tilgungsgesetz verstoßen, da er sich auf Jahrzehnte zurückliegende und daher getilgte Vorstrafen beziehe. Der Beschwerdeführer sei bereits im Alter von drei Monaten der Jugendwohlfahrt übergeben worden. Obwohl bekannt gewesen sei, dass seine Mutter gewalttätig und Alkoholikern gewesen sei, sei er einige Male dieser Familie ausgesetzt worden. Die Zustände in den Heimen seien dokumentiert. Weiters seien die vielen Wechsel zwischen den unterschiedlichen Anstalten und den Aufenthalten bei der Mutter ebenfalls äußerst schädlich gewesen. Frau Dr. XXXX führte sämtliche Diagnosen anderer Kollegen an. So habe Dr. XXXX im Jahr 2013 eine kombinierte Persönlichkeitsentwicklungsstörung diagnostiziert. 2014 habe das Therapiezentrum Ybbs eine posttraumatische Belastungsstörung, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung und eine rezidivierende Depression festgestellt. Laut Gutachten der PVA aus dem Jahr 2015 läge eine kombinierte Persönlichkeitsentwicklungsstörung (mit traumatischen, narzisstischen und emotional instabilen Anteilen und ausgeprägt phobischen Phänomenen) mit komplexer Traumafolgestörung sowie Cannabismissbrauch vor. Frau Dr. XXXX selbst habe eine Agoraphobie, eine posttraumatische Belastungsstörung, eine kombinierte (schizoide und emotional instabile) Persönlichkeitsstörung und rezidivierende teilweise schwergradige depressive Episoden diagnostiziert. Die von Dr. XXXX gestellte Diagnose sei eine kombinierte Persönlichkeitsstörung (schizoid und dissozial). Da die posttraumatische Belastungsstörung Bestandteil der anerkannten Klassifikation sei, müsse diese auch von Herrn Dr. XXXX anerkannt werden. Weiters habe es zwar schon vor den Heimaufenthalten ungünstige Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung gegeben, jedoch hätte der Beschwerdeführer in den Heimen Misshandlungen, sexuelle Belästigungen und zweimalige Vergewaltigungen erlitten, was für Kinder und Jugendliche sehr wohl eine erhebliche Traumatisierung darstelle. Tendenziös sei auch, dass im Gutachten ohne Grund die Delinquenz der Eltern im Sinne einer charakterlichen Anlage erwähnt würde. Weiters würde es willkürlich erscheinen, den Kausalzusammenhang der posttraumatischen Belastungsstörung bei einer zweimaligen Vergewaltigung rundheraus abzustreiten. Die Symptome der Angstüberflutung und die rezidivierende Depression, teilweise mit Suizidalität, würden keine Berücksichtigung im Gutachten erfahren. Es werde daher um nochmaliges Überdenken des Gutachtens und eventuelle Neueinsetzung eines anderen Gutachters ersucht.

Am 15.06.2016 wurde der ärztliche Dienst um Überprüfung und Ergänzung des vom Sozialministeriumservice erstellten Gutachtens gebeten.

Am 30.06.2016 langte bei der belangten Behörde ein Bescheid der PVA ein. Hier wurde festgestellt, dass nunmehr eine dauerhafte Berufsunfähigkeit vorliegt.

Am 19.07.2016 langte bei der belangten Behörde das medizinische Gutachten der PVA ein.

Das Gutachten der PVA wurde am 20.07.2016 an den ärztlichen Dienst übermittelt.

Am 24.09.2016 wurde ein nervenfachärztliches Ergänzungsgutachten von Dr. XXXX, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, erstellt.

Mit Schreiben vom 15.11.2016 wurde dem Beschwerdeführer das Ergänzungsgutachten vom 24.09.2016 im Rahmen des Parteiengehörs zur Stellungnahme übermittelt.

Am 02.12.2016 langte die Stellungnahme des Beschwerdeführers zum Parteiengehör vom 15.11.2016 bei der belangten Behörde ein. Hierbei gab er bekannt, dass der von ihm nach wie vor als befangen abgelehnte Gutachter Dr. XXXX gegen das Tilgungsgesetz verstoßen habe, er dies jedoch ausdrücklich zurückweise. Die Voreingenommenheit des Gutachters zeige sich auch bei der Beurteilung der posttraumatischen Belastungsstörung in dem er von einem "inflationären" Gebrauch ausgehe und ihm damit das Vorspiegeln eines psychischen Krankheitsbildes vorwerfe sowie der behandelnden Ärztin und Psychotherapeutin vorwerfe, Scheindiagnosen zu erstellen. Der Beschwerdeführer habe den überwiegenden Teil seiner Kindheit und Jugend in den Heimen verbringen müssen. Die Erinnerung daran würde ihn ständig quälen und einschränken. Er sei im Heim in keiner Weise auf das Leben "draußen" vorbereitet worden. Dieser Mangel an Orientierung, die kargen und zumeist unpassenden Bildungsangebote und vor allem die schweren Traumatisierungen hätten es ihm unmöglich gemacht beruflich Fuß zu fassen und hätten auch zu seiner vorzeitigen Pensionierung geführt. Er beantrage eine zweite unbefangene Sachverständige. Eine Verneinung dieses Antrages wäre aus seiner Sicht rechtswidrig.

Am 10.07.2017 erließ die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid, mit welchem der Antrag des Beschwerdeführers vom 13.06.2014 auf Ersatz des Verdienstentganges gemäß

§ 1 Abs. 1 und Abs. 3, § 3 und § 10 Abs. 1 VOG abgewiesen wurde. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass nicht in Zweifel gezogen werde, dass der Beschwerdeführer während seiner Heimaufenthalte Opfer von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch geworden sei. Das Vorliegen von rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlungen iSd § 1 Abs. 1 Z 1 VOG könne mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Es könne jedoch nicht festgestellt werden, dass die Gesundheitsschädigungen des Beschwerdeführers mit der nach dem VOG maßgeblichen Wahrscheinlichkeit auf die festgestellten Misshandlungen zurückzuführen wären. Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Verdienstentganges seien daher schon deshalb nicht erfüllt. Hinzu komme, dass nach § 1 Abs. 1 Z 1 VOG mit Wahrscheinlichkeit feststehen müsse, dass die durch die festgestellten Misshandlungen erlittene (psychische) Gesundheitsschädigung den beruflichen Werdegang dermaßen beeinträchtigt hat, dass der Beschwerdeführer heute nicht den Beruf ausübt, dem er bei Nichterleben der Misshandlungen nachgehen könnte und er deshalb heute noch immer einen Verdienstentgang erleide. Die bloß abstrakte Möglichkeit der Verursachung reiche nicht aus. Das Ansuchen um Verdienstentgang könne nicht bewilligt werden, da das Vorliegens eins verbrechenskausalen Verdienstentganges zum Zeitpunkt der Antragstellung (bzw. Antragsfolgemonat Juli 2014) im fiktiven schadenfreien Verlauf nicht mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne.

Gegen diesen Bescheid vom 10.07.2017 erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 16.08.2017 fristgerecht Beschwerde. Begründend wurde ausgeführt, dass zunächst festzuhalten sei, dass die von der belangten Behörde festgestellte mehrfache Vergewaltigung durch einen Erzieher keineswegs bloß eine Misshandlung, sondern das Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs nach § 206 Abs. 1 StGB darstelle. Des Weiteren übergehe die belangte Behörde den von der Mutter des Beschwerdeführers verwirklichten Tatbestand des Quälens und Vernachlässigen unmündiger, jünger oder wehrloser Personen nach § 92 Abs. 1 StGB. Dieser von seiner Mutter verwirklichte Straftatbestand sei daher für die rechtliche Beurteilung der Voraussetzungen nach dem VOG mit zu berücksichtigen. Dass die sonstigen vom Beschwerdeführer geschilderten Misshandlungen nicht festgestellt werden konnten, werde im Übrigen rechtswidrig darauf gestützt, dass dazu lediglich die Depositionen des Beschwerdeführers vorliegen würden. Die in der angefochtenen Entscheidung aufgestellte Behauptung, wonach die für den Anspruch nach dem VOG relevanten Tatumstände nicht allein auf die Angabe eines im Tatzeitpunkt Unmündigen gestützt werden können, entbehre jeglicher Logik und sei daher als willkürlich einzustufen. Des Weiteren werde ausgeführt, dass die belangte Behörde die von der den Beschwerdeführer behandelnden Fachärztin für Psychiatrie und seiner Psychotherapeutin erstellte Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung ausdrücklich nicht feststellt. Beweiswürdigend führte die belangte Behörde dazu zunächst aus, dass sich die subjektive Darstellung der Symptome für eine posttraumatische Belastungsstörung in der Regel einer objektiven Prüfung entziehe. Folgte man dieser Schlussfolgerung, so könnte dieses Krankheitsbild niemals für eine Bescheid- oder Urteilsfeststellung angenommen werden. Darüber hinaus habe die belangte Behörde die vom Beschwerdeführer vorgelegten Befunde ausgeblendet. Dazu komme, dass die ein Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung untermauernden Befundungen und Diagnosen der PVA als für das gegenständliche Verfahren unmaßgeblich verworfen werden. Die Ausführungen des Sachverständigen Dr. XXXX in seiner Stellungnahme vom 24.09.2016 würden eine Voreingenommenheit zeigen, weil er von einem "inflationären" Gebrauch der Diagnose PTBS ausgehe und damit dem Beschwerdeführer das Vorspiegeln eines psychischen Krankheitsbildes vorwerfe sowie der ihn behandelnden Ärztin und seiner Psychotherapeutin unterstelle, Scheindiagnosen zu erstellen. Da die belangte Behörde den berechtigten Antrag des Beschwerdeführers auf Bestellung eines neuen, unbefangenen Sachverständigen abgelehnt hat, sei der Beschwerdeführer in seinen Verfahrensrechten verletzt worden. In eventu wäre im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ein neuer Sachverständiger mit der Prüfung der vom Beschwerdeführer geltend gemachten, durch seine Mutter und den Heimerziehern zugefügten Leiden hervorgerufenen posttraumatischen Belastungsstörung zu betrauen.

Die Beschwerde wurde unter Anschluss der Akten des Verfahrens am 08.09.2017 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Mit Schreiben vom 14.09.2017, 03.11.2017 und 05.03.2018 ersuchte die PVA das Bundesverwaltungsgericht um Auskunft über den Ausgang des Verfahrens.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

Gemäß § 9 Abs. 2 Z 1 VwGVG ist belangte Behörde in den Fällen des Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat - vorliegend sohin das Sozialministeriumsservice, Landesstelle Wien.

Gemäß § 9d Abs. 1 Verbrechensopfergesetz (VOG) entscheidet über Beschwerden gegen Bescheide nach diesem Bundesgesetz das Bundesverwaltungsgericht durch einen Senat, dem ein fachkundiger Laienrichter angehört. Es liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.).

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Die zentrale Regelung zur Frage der Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte bildet § 28 VwGVG.

"§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist."

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Zu A) Zurückverweisung der Beschwerde:

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nach dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063 insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat oder, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat oder, wenn die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.

Der angefochtene Bescheid erweist sich aus folgenden Gründen als mangelhaft:

Auf Seite 17 des angefochtenen Bescheides führte die belangte Behörde aus, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er im Heim Hütteldorf regelmäßig geschlagen, getreten, er zwei Mal von einem Erzieher vergewaltigt sowie ihm das Essen entzogen worden sei, als wahr angenommen werden könne, da auch andere ehemalige Zöglinge dieses Heimes von ähnlichen Vorfällen berichten. Weiters führte die belangte Behörde bezüglich der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Vorfälle im Heim Hütteldorf jedoch aus, dass "zu den übrigen vorgebrachten Misshandlungen nicht mir der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit gesicherte Feststellungen getroffen werden konnten", weil lediglich die Aussagen des Beschwerdeführers vorliegen würden. Die belangte Behörde hat es jedoch unterlassen, den Bruder des Beschwerdeführers, der selbst ein halbes Jahr im Heim Hütteldorf aufhältig war, - wie vom Beschwerdeführer in der Stellungnahme vom 25.11.2014 beantragt - als Zeugen einzuvernehmen. Sie hat dadurch eine - unzulässige - vorauseilende Beweiswürdigung vorgenommen. Nach Ansicht des erkennenden Senates hätte aber die belangte Behörde nicht a priori davon ausgehen dürfen, dass eine Einvernahme des Bruders des Beschwerdeführers als Zeuge nicht geeignet gewesen wäre, einen verfahrensrelevanten Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten.

Die Feststellungen, die die Basis des dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegenden Gutachtens von Dr.XXXX vom 07.03.2016 bilden, sind daher - aufgrund der unterlassenen Zeugeneinvernahme - krass mangelhaft und besteht daher die Möglichkeit, dass dieser Umstand das Ergebnis des Gutachtens verfälscht hat.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung der Voraussetzungen für Hilfeleistungen nach dem VOG als bloß ansatzweise ermittelt erweist, sodass grundlegende und geeignete Ermittlungen und darauf aufbauende Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde die oben angeführte Zeugeneinvernahme durchzuführen haben und auf Basis der darauf beruhenden Feststellungen ein neues Gutachten, in welchem sich der Gutachter auch mit den vorliegenden Befunden betreffend das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung auseinanderzusetzen haben wird, erstellen zu lassen.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird der Beschwerdeführer mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat daher den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien zurückzuverweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

In der Beurteilung durch das Bundesverwaltungsgericht wurde ausgeführt, dass im erstbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, vielmehr orientiert sich der vorliegende Beschluss an der aktuellen Rechtsprechung (26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063 und 24.02.2016, Zl. Ra 2015/08/0209) des Verwaltungsgerichtshofes zur Anwendung des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung,
Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W228.2170035.1.00

Zuletzt aktualisiert am

15.05.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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