TE Bvwg Erkenntnis 2018/4/26 W187 2141203-1

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Veröffentlicht am 26.04.2018
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Entscheidungsdatum

26.04.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W187 2141203/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Verein ZEIGE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX, XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm §§ 3 Abs 1, 8 Abs 1 und § 10 Abs 1 Z 3 und § 57 AsylG 2005, iVm § 9 BFA-VG, §§ 52 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen seiner Erstbefragung am XXXX gab der Beschwerdeführer an, dass er aus Ghazni stamme, ledig sei, keine Kinder habe und keine Ausbildung gemacht habe. Zuletzt habe er als Schneidergehilfe gearbeitet. Er habe Afghanistan verlassen, weil er Angst vor einem Kommandanten habe. Dieser habe ihn gezwungen zu tanzen, als er mit seiner Familie nach Kabul umgezogen sei, habe er wieder tanzen müssen. Deshalb sei er in den Iran geschickt worden, den er verlassen habe, weil er keine Dokumente und Angst vor Abschiebung gehabt habe. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor diesem Kommandanten, konkrete Hinweise, dass ihm im Falle einer Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohe gäbe es keine.

2. Der Beschwerdeführer gab an, am 1.1.2000 geboren und somit zum Zeitpunkt der Antragstellung auf internationalen Schutz minderjährig zu sein. Am 25.6.2015 wurde aufgrund des Zweifels an der behaupteten Minderjährigkeit ein Handwurzelröntgen durchgeführt. In weiterer Folge wurde am 30.6.2015 eine multifaktorielle Altersfeststellung durchgeführt. Dabei wurde zum Untersuchungszeitpunkt ein Mindestalter von 19 Jahren und ein wahrscheinliches Alter von 20 bis 22 Jahren festgestellt.

3. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem zu sein. Er stamme ursprünglich aus Ghazni und habe keine Schulbildung. Im Alter von zehn Jahren sei er mit seiner Familie nach Kabul gezogen, wo er vier Jahre gelebt habe. Danach habe er ohne seine Angehörigen vier weitere Jahre im Iran gelebt, wo er als Schneidergehilfe in einer Textilfabrik gearbeitet habe. Seine Familie würde mittlerweile ebenfalls im Iran leben. Er habe bewusst ein falsches Geburtsdatum angegeben, weil man ihm gesagt habe, als Minderjähriger in Österreich leichter Asyl zu bekommen. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der Beschwerdeführer an, immer wieder auf Hochzeiten fremder Personen getanzt zu haben. Er habe bis zu 50 Mal auf solchen Veranstalten auftreten müssen. Um diese Tanzauftritte zu verhindern, sei für seinen Vater ein Umzug von Ghazni nach Kabul die einzige Lösung gewesen. Befragt ob er auch sexuelle Handlungen habe durchführen bzw. über sich ergehen lassen müssen antwortete der Beschwerdeführer, dass er ausschließlich habe tanzen müssen, zudem sei stets sein Vater dabei gewesen. Nach dem Umzug nach Kabul sei zwei Jahre lang nichts passiert, dann sei sein Vater am Arbeitsplatz erkannt worden, woraufhin der Beschwerdeführer abermals ungefähr dreißig Mal auf Hochzeiten auftreten habe müssen. Der Beschwerdeführer sei daraufhin vom Vater in den Iran geschickt worden, seine Geschwister nach XXXX bzw. XXXX, da sein Vater Angst gehabt habe, dass fremde, ihnen unbekannte Leute sich sonst an die Geschwister halten würden. Wenn der Beschwerdeführer noch in Afghanistan aufhältig wäre, würde er sofort getötet werden. Dazu befragt gab er an, gesund zu sein, arbeiten zu können, sich aber ein Leben in Afghanistan nicht mehr vorstellen zu können.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

5. Mit Eingabe vom 29.11.2016 erhob der Beschwerdeführer, unterstützt durch seinen Rechtsberater, fristgerecht vollinhaltlich Beschwerde gegen den spruchgegenständlichen Bescheid.

6. Am 1.2.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seines Rechtsberaters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari vom erkennenden Richter zu seinem Antrag und seiner Beschwerde einvernommen wurde. Die belangte Behörde verzichtete schriftlich auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:

"[...]

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Nein, es geht mir gut.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Ich befand mich letztes Jahr in medizinischer Behandlung. Ich hatte starke Bauchschmerzen und bin ins LKH XXXX gefahren. Ich hatte damals Blut ausgeschieden und die Unterlagen von damals lege ich vor. Seither bin ich nicht mehr zum Arzt gegangen. Ich habe aber dieses Problem noch immer. Ich kann nachts nicht gut schlafen. Weil ich meine Zähne fest zusammenbeiße habe ich eine Plastikschiene für die Zähne bekommen.

[...]

Richter: Geben Sie Ihre Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin am XXXX in der Provinz Ghazni im Distrikt XXXX geboren.

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Ich spreche Farsi und habe in Österreich bisher ein wenig Deutsch gelernt. Ich kann weder lesen noch schreiben, weil ich in Afghanistan nicht in die Schule gegangen bin.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich bin Hazara, schiitischer Moslem und ledig.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Ich habe bis zu meinem zehnten Lebensjahr in Ghazni, XXXX gelebt. Anschließend war ich vier Jahre in Kabul im Stadtteil XXXX aufhältig, danach habe ich Afghanistan verlassen und war vier Jahre im Iran, in Teheran.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan und im Iran gewohnt?

Beschwerdeführer: In Afghanistan hat mein Vater für mich gesorgt. Ich konnte dort nicht in die Schule gehen und ich war auch nicht berufstätig. Als ich in den Iran gegangen bin, habe ich begonnen als Schneider zu arbeiten. Im Herkunftsort sowie in Kabul haben wir ein durchschnittliches Leben geführt. Wir haben in einem gemieteten Haus gelebt. Im Iran war ich alleine und ich habe in der Schneiderei gewohnt und dort geschlafen.

Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: Im Heimatort bin ich zum Koranunterricht gegangen und ich wurde dort von meinem Lehrer sehr oft geschlagen. Ich habe immer wieder meinen Vater erzählt, dass ich dort geschlagen werde, bis er mir erlaubt hat zuhause zu bleiben. In Kabul konnte ich ebenfalls nicht die Schule besuchen, weil wir Probleme hatten und keine staatliche Behörde durfte erfahren wo wir sind.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: Ein Jahr nachdem ich in Österreich einen Asylantrag gestellt habe, ist meine Familie in den Iran gegangen. Mein Vater ist berufstätig, meiner Familie geht es gut. Meine Familie hat im Iran keinen Aufenthaltsstatus.

Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Nein. Soweit ich weiß, leben sehr weit entfernte Verwandte meines Vaters in Afghanistan. Zu diesen bestand aber bereits in Afghanistan kein Kontakt.

Richter: Wollen Ihre Eltern und Geschwister auch nach Österreich kommen?

Beschwerdeführer: Nein. Ich habe sie dazu nicht gefragt und sie haben nichts erzählt.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Ich arbeite derzeit in einer Bäckerei in der Nachtschicht. Ich habe sonst keine anderen Beschäftigungen.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Ja. Ich habe viele Freunde. Ich möchte gerne einige Empfehlungsschreiben sowie ein Schreiben meines Arbeitgebers vorlegen. Zweimal in der Woche spiele ich mit meinen Freunden, die in Graz studieren, Fußball. Einmal in der Woche treffe ich mich mit Österreichern im Zuge eines "Sprachcafés". Auf den Fotos bin ich im Zuge meiner Arbeit zu sehen. Ich habe auch einige Familienfotos vorgelegt, diese stammen zum Teil aus Afghanistan und zum Teil aus dem Iran.

Der Beschwerdeführer legt ein Zertifikat über eine Prüfung Deutsch A1 vom XXXX, eine Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs vom XXXX-XXXX im Ausmaß von 54 Unterrichtseinheiten vom Roten Kreuz, Bezirksstelle XXXX vom XXXX, eine Bestätigung über eine Teilnahme an einem Deutschkurs A1.2 vom XXXX bis XXXX der ISOP, Dreihackengasse 2, 8010 Graz aus dem XXXX 2017, eine Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs A1.1 von XXXX-XXXX der ISOP, Dreihackengasse 2, 8010 Graz vom 22.12.2016, eine Bestätigung der XXXX Bäckerei XXXX vom XXXX über die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Bäckerlehrling vom XXXX mit meinem Lehrzeitende XXXX, den zugehörigen Lehrvertrag, die Beschäftigungsbewilligung des AMS Leibniz vom XXXX für die Lehrstelle, eine Arbeitsbestätigung der Bäckerei vom XXXX mit einem mit den anderen Unterlagen übereinstimmenden Lehrzeitende vom XXXX, ein Schreiben der Plattform "Gemeinsam in XXXX" über seine Integration in XXXX vom XXXX, einen Ausweis der Mall Flüchtlingsinitiative der Universitäten über die Teilnahme am Sportintegrationsprojekt "XXXX" KF Uni Graz vom XXXX - XXXX, XXXX-XXXX und XXXX-XXXX sowie Fotos seiner Familie und des Beschwerdeführers bei verschiedenen Aktivitäten in Österreich vor.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: Nein. Ich habe keine Zeit dafür, weil ich sehr viel arbeite und auch in meiner Freizeit vielen Beschäftigungen nachgehe.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Meine Probleme haben in Ghazni begonnen. Im Ort wurde ein Hochzeitsfest gefeiert und ich bin mit einigen Freunden zu diesem Fest gegangen, weil es unsere Nachbarn waren. ich war erst 9,5 Jahre alt. Ich habe dort auch mit meinen Freunden getanzt. Wenn wir mit dem Tanzen aufgehört haben, haben uns einige ältere Männer dazu aufgefordert erneut zu tanzen. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Nachdem das Fest zu Ende war, bin ich nach Hause gegangen. Einige Tage später sind Männer, die sehr arm gekleidet waren zu unserem Haus gekommen und haben meinem Vater gesagt, dass sie gefallen an mir gefunden haben und sie mich auf Hochzeitsfeste mitnehmen möchten, damit ich für sie tanze. (Anmerkung: Der Beschwerdeführer beginnt zu weinen.) Mein Vater wurde böse auf diese Leute und hat die Männer aus dem Haus geworfen. Danach hat er mich geschlagen und mir vorgeworfen, weshalb ich auf Hochzeiten von fremden Leuten getanzt habe. Da diese Männer sehr mächtig waren, und sie bewaffnete Kommandanten waren, konnte mein Vater nichts gegen sie tun. Nach ungefähr einer Woche, es war ein Donnerstag, sind sie gekommen und haben mich mit Waffengewalt mitgenommen. Ich musste Mädchenkleidung anziehen und für diese Männer tanzen. Ich bin insgesamt 20 Mal von diesen Leuten von zuhause abgeholt worden, zum Tanzen gezwungen worden und wieder nach Hause gekommen. Ich habe immer sehr viel geweint und meinem Vater gesagt, dass ich nicht mehr Mädchenkleidung anziehen will und nicht mehr tanzen möchte. Daraufhin hat mein Vater den Entschluss gefasst, nach Kabul zu flüchten. Ich war ungefähr zehn Jahre alt als wir in einer Nacht Ghazni verlassen haben und nach Kabul geflüchtet sind, wo wir uns vier Jahre aufgehalten haben. Zwei Jahre konnten wir ohne Schwierigkeiten dort leben. Mein Vater war Bauarbeiter und hat für die Familie gesorgt. Ich durfte nicht in die Schule gehen, weil die Gefahr bestand, von den Männern gesichtet zu werden. Nach zwei Jahren sind plötzlich Leute zu unserem Haus gekommen. Sie haben Obst und Süßigkeiten gebracht und gemeint, wir hätten nicht vor ihnen Flüchten sollen. Mein Vater ist davon ausgegangen, dass er in Zuge seiner Arbeit, die er in verschiedenen Stadteilen verrichtet hat, von jemandem gesehen wurde und bis zu unserem Haus verfolgt wurde. Uns war klar, dass es vor diesen Leuten kein Entkommen gibt. Mein Vater hat meine Schwester nach XXXX geschickt und meinen Bruder nach XXXX. zwei Jahre lang musste ich regelmäßig als Tänzer für diese Leute auftreten. Ich habe jeden Tag geweint und meinen Vater ersucht nach einer Möglichkeit zu suchen, dieser Situation zu entkommen. Nach zwei Jahren hat mein Vater einen Schlepper gefunden, mit dem er mich in den Iran geschickt hat. Ich war vier Jahre dort aufhältig und ich habe in einer Schneiderwerkstatt gearbeitet und dort gelebt. Manchmal wenn ich an Freitagen frei hatte, habe ich den Ehemann meiner Tante, der im Iran war, besucht. Ich hatte im Iran keine Aufenthaltsdokumente und ich konnte mich nicht frei bewegen. Wenn manchmal die Schneiderwerkstatt kontrolliert wurde, habe ich mich am WC oder unter einem Tisch versteckt. Ich hatte sehr große Angst dafür festgenommen und nach Kabul zurückgeschoben zu werden. Ich wollte nicht in eine Situation geraten, in der ich wieder tanzen müsste. Ich habe mit meinem Vater gesprochen und ihm gebeten mich dabei zu unterstützen aus dem Iran zu fliehen. Mein Vater hat mich dann nach Österreich geschickt.

Richter: Wäre es möglich gewesen sich insbesondere in Kabul wegen dieser Männer an die Polizei zu wenden?

Beschwerdeführer: Bei jenen Festen, wo ich als Tänzer aufgetreten bin, befanden sich unter den Gästen auch Polizisten und Kommandanten. Aus Angst konnte ich mich nicht an die Polizei wenden, weil ich wahrscheinlich größere Probleme bekommen hätte.

Richter: Bis zu welchem Alter oder bis zu welcher Größe werden Knaben aufgefordert, auf solchen Festen zu tanzen?

Beschwerdeführer: Dafür gibt es keine Grenze. Sie können die Jugendlichen so lange dazu zwingen wie es ihnen passt. Es gab dort auch andere Jugendliche, einige von ihnen waren mit dieser Arbeit zufrieden, es gab aber auch welche, die dazu gezwungen worden waren.

Richter: Tanzen auf diesen Festen auch Erwachsene?

Beschwerdeführer: Nein. Diese Männer kommen gruppenweise und jede Gruppe hat seinen eigenen Tänzer und die Tänzer werden nach der Reihe aufgefordert zu tanzen.

Richter: Wie alt sind diese Tänzer?

Beschwerdeführer: Einige von ihnen waren genau so alt wie ich, einige andere waren älter als ich.

Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?

Beschwerdeführer: Ja, wenn ich nicht für diese Leute getanzt hätte, hätten sie mir Gewalt angetan. Sie waren alle bewaffnet und ich wäre vielleicht erschossen worden. Wenn ich weiterhin dort geblieben wäre, hätte es auch sein können, dass ich vergewaltigt werde.

Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan bedroht?

Beschwerdeführer: Mittlerweile hat meine Familie ebenfalls das Land verlassen. Damals stand mein Vater mir zur Seite. Er ist mitgegangen und hat verhindert, dass ich vergewaltigt werde. Sollte ich jetzt zurückkehren, wäre ich diesen Leuten ausgeliefert.

Richter: Würden Männer Sie vergewaltigen?

Beschwerdeführer: Ja. Bevor meine Familie geflüchtet ist, wurde sie von diesen Leuten bedroht. Sie haben gemeint, dass sie bisher mit meiner Familie gut umgegangen sind, aber wenn sie mich finden, wir kein nettes Verhalten von ihnen zu erwarten hätten. Diese Männer wissen nicht, dass ich mich im Ausland befinde. Sie glauben, dass ich in Kabul Umgebung befinde und mich vor ihnen verstecke.

Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Beschwerdeführer: Im Iran hat der Ehemann meiner Tante gelebt. Er und mein Vater haben miteinander gesprochen und mit Hilfe eines Schleppers konnte ich den Iran verlassen. Ich wurde in die Türkei gebracht, anschließend kam ich nach Griechenland und über die Länder Mazedonien, Serbien und Ungarn bin ich nach Österreich gekommen.

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Während ich im Iran gearbeitet habe, habe ich das Geld meinem Vater geschickt. Diese Ersparnisse hat mein Vater für meine Fluchtreise ausgegeben. Er hat sich auch Geld vom Ehemann meiner Tante geliehen.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Weil ich nicht nach Afghanistan zurückkehren kann und mein Leben dort in Gefahr ist. Ich bin bedroht worden. Meine Eltern sind nicht dort, um mich zu beschützen.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Es ist für mich sehr schwer, mir vorzustellen wieder dorthin zurückzukehren. Ich kann mich an diese Leute sehr gut erinnern. Sie haben dort Zigaretten und Marihuana geraucht, die Räume waren voller Rauch. Ich kann kaum schlafen, weil ich immer wieder an diese Zeit denken muss. Ich glaube, dass die Hölle besser ist, als die Zeit die ich damals hatte.

Richter: Wenn Sie nach Afghanistan zurückkehren müssten, glauben Sie, dass Sie wieder tanzen müssten?

Beschwerdeführer: Ich muss mit Sicherheit wieder für diese Leute tanzen. Ich bin sehr gefährdet dort. Bei der letzten Kontaktaufnahme mit meiner Familie haben sie damit gedroht, mich zu töten, falls sie mich finden.

Rechtsvertreter: Sie sind offensichtlich Opfer des berüchtigten Bachi Bazi geworden. Haben diese dabei erlebten Erlebnisse Einfluss auf Ihre nachfolgende sexuelle Orientierung ausgeübt?

Beschwerdeführer: Seit diesen Erlebnissen kann ich nicht mehr auf Feste oder Hochzeitsfeste gehen. Ich kann nicht tanzen, weil mir Männer das angetan haben, mag ich Männer nicht mehr.

Rechtsvertreter: Welche Angst haben Sie genau gehabt? Hatten Sie Angst tanzen zu müssen oder vor Vergewaltigung und Missbrauch?

Beschwerdeführer: Ich war im Besitz dieser Leute. Ich durfte keine eigenständige Meinung haben und ich musste alles tun, was von mir verlangt wurde.

[...]

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den Namen Mahdi NOORI, ist afghanischer Staatsangehöriger, geboren am 12.6.1997 und somit volljährig, und stellte am 12.6.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Der Beschwerdeführer spricht Dari und kann diese Sprache auch lesen und schreiben. Er ist ledig und hat keine Kinder. Er hat als Schneidergehilfe sowie als Bäckerlehrling gearbeitet, sonstige Ausbildungen konnten nicht festgestellt werden. Er ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und mit den afghanischen Sitten und Traditionen vertraut. Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2015 reiste der Beschwerdeführer nach Europa. Dass der Beschwerdeführer, wie er angab, aus Ghazni stammt und vier Jahre vor seiner Ausreise nach Europa in den Iran übersiedelte, konnte nicht festgestellt werden.

1.2 Zu seinen Fluchtgründen und der Rückkehr nach Afghanistan

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan Jahr 2015 verlassen und reiste nach Europa.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich weder bedroht noch verfolgt.

Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan weder auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Hazara noch auf Grund seiner Religionszugehörigkeit als schiitischer Moslem eine konkret gegen ihn gerichtete psychische bzw physische Gewalt.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer einer konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt war oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan, zu befürchten hätte.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Rückführung in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit dem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw der Gefährdung seines Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre.

Zudem konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Kabul nicht im Stande wäre, für ein ausreichendes Auskommen und eine Sicherung seiner Grundbedürfnisse zu sorgen und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt wäre, in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten.

1.3 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer hält sich seit Juni 2015 in Österreich auf. Er reiste illegal in das Bundesgebiet ein und hatte nie ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich verschiedene Deutschkurse und absolvierte die Prüfung Deutsch A1 und absolviert derzeit eine Lehre als Bäcker. Er hat an unterschiedlichen Integrationsprojekten teilgenommen.

In Österreich leben keine nahen Verwandten oder sonstige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

(Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 2.3.2017, zuletzt aktualisiert am 25.9.2017):

1.4.1 Aktualisierung der Sicherheitslage - Q3.2017

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil; die Regierung und die Taliban wechselten sich während des Berichtszeitraumes bei Kontrolle mehrerer Distriktzentren ab - auf beiden Seiten waren Opfer zu beklagen (UN GASC 21.9.2017). Der Konflikt in Afghanistan ist gekennzeichnet von zermürbenden Guerilla-Angriffen, sporadischen bewaffneten Zusammenstößen und gelegentlichen Versuchen Ballungszentren zu überrennen. Mehrere Provinzhauptstädte sind nach wie vor in der Hand der Regierung; dies aber auch nur aufgrund der Unterstützung durch US-amerikanische Luftangriffe. Dennoch gelingt es den Regierungskräften kleine Erfolge zu verbuchen, indem sie mit unkonventionellen Methoden zurückschlagen (The Guardian 3.8.2017).

Der afghanische Präsident Ghani hat mehrere Schritte unternommen, um die herausfordernde Sicherheitssituation in den Griff zu bekommen. So hielt er sein Versprechen den Sicherheitssektor zu reformieren, indem er korrupte oder inkompetente Minister im Innen- und Verteidigungsministerium feuerte, bzw. diese selbst zurücktraten; die afghanische Regierung begann den strategischen 4-Jahres Sicherheitsplan für die ANDSF umzusetzen (dabei sollen die Fähigkeiten der ANDSF gesteigert werden, größere Bevölkerungszentren zu halten); im Rahmen des Sicherheitsplanes sollen Anreize geschaffen werden, um die Taliban mit der afghanischen Regierung zu versöhnen; Präsident Ghani bewilligte die Erweiterung bilateraler Beziehungen zu Pakistan, so werden unter anderen gemeinsamen Anti-Terror Operationen durchgeführt werden (SIGAR 31.7.2017).

Zwar endete die Kampfmission der US-Amerikaner gegen die Taliban bereits im Jahr 2014, dennoch werden, laut US-amerikanischem Verteidigungsminister, aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage 3.000 weitere Soldaten nach Afghanistan geschickt. Nach wie vor sind über 8.000 US-amerikanische Spezialkräfte in Afghanistan, um die afghanischen Truppen zu unterstützen (BBC 18.9.2017).

Sicherheitsrelevante Vorfälle

In den ersten acht Monaten wurden insgesamt 16.290 sicherheitsrelevante Vorfälle von den Vereinten Nationen (UN) registriert; in ihrem Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) für das dritte Quartal, wurden 5.532 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert - eine Erhöhung von 3% gegenüber dem Vorjahreswert. Laut UN haben sich bewaffnete Zusammenstöße um 5% erhöht und machen nach wie vor 64% aller registrierten Vorfälle aus. 2017 gab es wieder mehr lange bewaffnete Zusammenstöße zwischen Regierung und regierungsfeindlichen Gruppierungen. Im Gegensatz zum Vergleichszeitraums des Jahres 2016, verzeichnen die UN einen Rückgang von 3% bei Anschlägen mit Sprengfallen [IEDs - improvised explosive device], Selbstmordangriffen, Ermordungen und Entführungen - nichtsdestotrotz waren sie Hauptursache für zivile Opfer. Die östliche Region verzeichnete die höchste Anzahl von Vorfällen, gefolgt von der südlichen Region (UN GASC 21.9.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden in Afghanistan von 1.1.-31.8.2017 19.636 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (Stand: 31.8.2017) (INSO o.D.).

Zivilist/innen

Landesweit war der bewaffnete Konflikt weiterhin Ursache für Verluste in der afghanischen Zivilbevölkerung. Zwischen dem 1.1. und 30.6.2017 registrierte die UNAMA 5.243 zivile Opfer (1.662 Tote und 3.581 Verletzte). Dies bedeutet insgesamt einen Rückgang bei zivilen Opfern von fast einem 1% gegenüber dem Vorjahreswert. Dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan fielen zwischen 1.1.2009 und 30.6.2017 insgesamt 26.512 Zivilist/innen zum Opfer, während in diesem Zeitraum 48.931 verletzt wurden (UNAMA 7.2017).

Im ersten Halbjahr 2017 war ein Rückgang ziviler Opfer bei Bodenoffensiven zu verzeichnen, während sich die Zahl ziviler Opfer aufgrund von IEDs erhöht hat (UNAMA 7.2017).

Die Provinz Kabul verzeichnete die höchste Zahl ziviler Opfer - speziell in der Hauptstadt Kabul: von den 1.048 registrierten zivilen Opfer (219 Tote und 829 Verletzte), resultierten 94% aus Selbstmordattentaten und Angriffen durch regierungsfeindliche Elemente. Nach der Hauptstadt Kabul verzeichneten die folgenden Provinzen die höchste Zahl ziviler Opfer: Helmand, Kandahar, Nangarhar, Uruzgan, Faryab, Herat, Laghman, Kunduz und Farah. Im ersten Halbjahr 2017 erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer in 15 von Afghanistans 34 Provinzen (UNAMA 7.2017)

High-profile Angriffe

Der US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR), verzeichnete in seinem Bericht für das zweite Quartal des Jahres 2017 mehrere high-profil Angriffe; der Großteil dieser fiel in den Zeitraum des Ramadan (Ende Mai bis Ende Juni). Einige extremistische Organisationen, inklusive dem Islamischen Staat, behaupten dass Kämpfer, die während des Ramadan den Feind töten, bessere Muslime wären (SIGAR 31.7.2017).

Im Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) wurden von den Vereinten Nationen folgende High-profile Angriffe verzeichnet:

Ein Angriff auf die schiitische Moschee in der Stadt Herat, bei dem mehr als 90 Personen getötet wurden (UN GASC 21.9.2017; vgl.: BBC 2.8.2017). Zu diesem Attentat bekannte sich der ISIL-KP (BBC 2.8.2017). Taliban und selbsternannte ISIL-KP Anhänger verübten einen Angriff auf die Mirza Olang Region im Distrikt Sayyad in der Provinz Sar-e Pul; dabei kam es zu Zusammenstößen mit regierungsfreundlichen Milizen. Im Zuge dieser Kämpfe, die von 3.-5.August anhielten, wurden mindestens 36 Menschen getötet (UN GASC 21.9.2017). In Kabul wurde Ende August eine weitere schiitische Moschee angegriffen, dabei wurden mindestens 28 Zivilist/innen getötet; auch hierzu bekannte sich der ISIL-KP (UN GASC 21.9.2017; vgl.: NYT 25.8.2017).

Manche high-profile Angriffe waren gezielt gegen Mitarbeiter/innen der ANDSF und afghanischen Regierungsbeamte gerichtet; Zivilist/innen in stark bevölkerten Gebieten waren am stärksten von Angriffen dieser Art betroffen (SIGAR 31.7.2017).

"Green Zone" in Kabul

Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017).

Eine Erweiterung der sogenannten Green Zone ist geplant; damit wird Verbündeten der NATO und der US-Amerikaner ermöglicht, auch weiterhin in der Hauptstadt Kabul zu bleiben ohne dabei Risiken ausgesetzt zu sein. Kabul City Compound - auch bekannt als das ehemalige Hauptquartier der amerikanischen Spezialkräfte, wird sich ebenso innerhalb der Green Zone befinden. Die Zone soll hinkünftig vom Rest der Stadt getrennt sein, indem ein Netzwerk an Kontrollpunkten durch Polizei, Militär und privaten Sicherheitsfirmen geschaffen wird. Die Erweiterung ist ein großes öffentliches Projekt, das in den nächsten zwei Jahren das Zentrum der Stadt umgestalten soll; auch sollen fast alle westlichen Botschaften, wichtige Ministerien, sowie das Hauptquartier der NATO und des US-amerikanischen Militärs in dieser geschützten Zone sein. Derzeit pendeln tagtäglich tausende Afghaninnen und Afghanen durch diese Zone zu Schulen und Arbeitsplätzen (NYT 16.9.2017).

Nach einer Reihe von Selbstmordattentaten, die hunderte Opfer gefordert haben, erhöhte die afghanische Regierung die Sicherheit in der zentralen Region der Hauptstadt Kabul - dieser Bereich ist Sitz ausländischer Botschaften und Regierungsgebäude. Die Sicherheit in diesem diplomatischen Bereich ist höchste Priorität, da, laut amtierenden Polizeichef von Kabul, das größte Bedrohungsniveau in dieser Gegend verortet ist und eine bessere Sicherheit benötigt wird. Die neuen Maßnahmen sehen 27 neue Kontrollpunkte vor, die an 42 Straßen errichtet werden. Eingesetzt werden mobile Röntgengeräte, Spürhunde und Sicherheitskameras. Außerdem werden 9 weitere Straßen teilweise gesperrt, während die restlichen sechs Straßen für Autos ganz gesperrt werden. 1.200 Polizist/innen werden in diesem Bereich den Dienst verrichten, inklusive spezieller Patrouillen auf Motorrädern. Diese Maßnahmen sollen in den nächsten sechs Monaten schrittweise umgesetzt werden (Reuters 6.8.2017).

Eine erweiterter Bereich, die sogenannte "Blue Zone" soll ebenso errichtet werden, die den Großteil des Stadtzentrums beinhalten soll - in diesem Bereich werden strenge Bewegungseinschränkungen, speziell für Lastwagen, gelten. Lastwagen werden an einem speziellen externen Kontrollpunkt untersucht. Um in die Zone zu gelangen, müssen sie über die Hauptstraße (die auch zum Flughafen führt) zufahren (BBC 6.8.2017; vgl. Reuters 6.8.2017).

ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte

Die Stärkung der ANDSF ist ein Hauptziel der Wiederaufbaubemühungen der USA in Afghanistan, damit diese selbst für Sicherheit sorgen können (SIGAR 20.6.2017). Die Stärke der afghanischen Nationalarmee (Afghan National Army - ANA) und der afghanischen Nationalpolizei (Afghan National Police - ANP), sowie die Leistungsbereitschaft der Einheiten, ist leicht gestiegen (SIGAR 31.7.2017).

Die ANDSF wehrten Angriffe der Taliban auf Schlüsseldistrikte und große Bevölkerungszentren ab. Luftangriffe der Koalitionskräfte trugen wesentlich zum Erfolg der ANDSF bei. Im Berichtszeitraum von SIGAR verdoppelte sich die Zahl der Luftangriffe gegenüber dem Vergleichswert für 2016 (SIGAR 31.7.2017).

Die Polizei wird oftmals von abgelegen Kontrollpunkten abgezogen und in andere Einsatzgebiete entsendet, wodurch die afghanische Polizei militarisiert wird und seltener für tatsächliche Polizeiarbeit eingesetzt wird. Dies erschwert es, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen. Die internationalen Truppen sind stark auf die Hilfe der einheimischen Polizei und Truppen angewiesen (The Guardian 3.8.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

Taliban

Die Taliban waren landesweit handlungsfähig und zwangen damit die Regierung erhebliche Ressourcen einzusetzen, um den Status Quo zu erhalten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive im April, haben die Taliban - im Gegensatz zum Jahr 2016 - keine größeren Versuche unternommen Provinzhauptstädte einzunehmen. Nichtsdestotrotz, gelang es den Taliban zumindest temporär einige Distriktzentren zu überrennen und zu halten; dazu zählen der Distrikt Taywara in der westlichen Provinz Ghor, die Distrikte Kohistan und Ghormach in der nördlichen Provinz Faryab und der Distrikt Jani Khel in der östlichen Provinz Paktia. Im Nordosten übten die Taliban intensiven Druck auf mehrere Distrikte entlang des Autobahnabschnittes Maimana-Andkhoy in der Provinz Faryab aus; die betroffenen Distrikte waren: Qaramol, Dawlat Abad, Shirin Tagab und Khwajah Sabz Posh. Im Süden verstärkten die Taliban ihre Angriffe auf Distrikte, die an die Provinzhauptstädte von Kandahar und Helmand angrenzten (UN GASC 21.9.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Die Operationen des ISIL-KP in Afghanistan sind weiterhin auf die östliche Region Afghanistans beschränkt - nichtsdestotrotz bekannte sich die Gruppierung landesweit zu acht nennenswerten Vorfällen, die im Berichtszeitraum von den UN registriert wurden. ISIL-KP verdichtete ihre Präsenz in der Provinz Kunar und setze ihre Operationen in Gegenden der Provinz Nangarhar fort, die von den ANDSF bereits geräumt worden waren. Angeblich wurden Aktivitäten des ISIL-KP in den nördlichen Provinzen Jawzjan und Sar-e Pul, und den westlichen Provinzen Herat und Ghor berichtet (UN GASC 21.9.2017).

Im sich zuspitzenden Kampf gegen den ISIL-KP können sowohl die ANDSF, als auch die Koalitionskräfte auf mehrere wichtige Erfolge im zweiten Quartal verweisen (SIGAR 31.7.2017): Im Juli wurde im Rahmen eines Luftangriffes in der Provinz Kunar der ISIL-KP-Emir, Abu Sayed, getötet. Im August wurden ein weiterer Emir des ISIL-KP, und drei hochrangige ISIL-KP-Führer durch einen Luftangriff getötet. Seit Juli 2016 wurden bereits drei Emire des ISIL-KP getötet (Reuters 13.8.2017); im April wurde Sheikh Abdul Hasib, gemeinsam mit 35 weiteren Kämpfern und anderen hochrangigen Führern in einer militärischen Operation in der Provinz Nangarhar getötet (WT 8.5.2017; vgl. SIGAR 31.7.2017). Ebenso in Nangarhar, wurde im Juni der ISIL-KP-Verantwortliche für mediale Produktionen, Jawad Khan, durch einen Luftangriff getötet (SIGAR 31.7.2017; vgl.: Tolonews 17.6.2017).

Politische Entwicklungen

Die Vereinten Nationen registrierten eine Stärkung der Nationalen Einheitsregierung. Präsident Ghani und CEO Abdullah einigten sich auf die Ernennung hochrangiger Posten - dies war in der Vergangenheit Grund für Streitigkeiten zwischen den beiden Führern gewesen (UN GASC 21.9.2017).

Die parlamentarische Bestätigung einiger war nach wie vor ausständig; derzeit üben daher einige Minister ihr Amt kommissarisch aus. Die unabhängige afghanische Wahlkommission (IEC) verlautbarte, dass die Parlaments- und Distriktratswahlen am 7. Juli 2018 abgehalten werden (UN GASC 21.9.2017).

1.4.2 Aktualisierung der Sicherheitslage - Q2.2017

Den Vereinten Nationen zufolge war die Sicherheitslage in Afghanistan im Berichtszeitraum weiterhin volatil: zwischen 1.3. und 31.5.2017 wurden von den Vereinten Nationen 6.252 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert - eine Erhöhung von 2% gegenüber dem Vorjahreswert. Bewaffnete Zusammenstöße machten mit 64% den Großteil registrierter Vorfälle aus, während IEDs [Anm.:

improvised explosive device] 16% der Vorfälle ausmachten - gezielte Tötungen sind hingegen um 4% zurückgegangen. Die östlichen und südöstlichen Regionen zählten auch weiterhin zu den volatilsten; sicherheitsrelevante Vorfälle haben insbesondere in der östlichen Region um 22% gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Die Taliban haben hauptsächlich folgende Provinzen angegriffen: Badakhshan, Baghlan, Farah, Faryab, Helmand, Kunar, Kunduz, Laghman, Sar-e Pul, Zabul und Uruzgan. Talibanangriffe auf afghanische Sicherheitskräfte konnten durch internationale Unterstützung aus der Luft abgewiesen werden. Die Anzahl dieser Luftangriffe ist mit einem Plus von 112% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Jahres 2016 deutlich gestiegen (UN GASC 20.6.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden in Afghanistan 11.647 sicherheitsrelevante Vorfälle von 1.1.-31.5.2017 registriert (Stand: 31.5.2017) (INSO o.D.).

ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte

Laut einem Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums behielten die ANDSF, im Berichtszeitraum 1.12.2016-31.5.2017 trotz aufständischer Gruppierungen, auch weiterhin Kontrolle über große Bevölkerungszentren: Die ANDSF waren im Allgemeinen fähig große Bevölkerungszentren zu schützen, die Taliban davon abzuhalten gewisse Gebiete für einen längeren Zeitraum zu halten und auf Talibanangriffe zu reagieren. Die ANDSF konnten in städtischen Gebieten Siege für sich verbuchen, während die Taliban in gewissen ländlichen Gebieten Erfolge erzielen konnten, in denen die ANDSF keine dauernde Präsenz hatten. Spezialeinheiten der afghanischen Sicherheitskräfte (ASSF - Afghan Special Security Forces) leiteten effektiv offensive Befreiungsoperationen (US DOD 6.2017).

Bis Ende April 2017 lag die Truppenstärke der afghanischen Armee [ANA - Afghan National Army] bei 90,4% und die der afghanischen Nationalpolizei [ANP - Afghan National Police] bei 95,1% ihrer Sollstärke (UN GASC 20.6.2017).

High-profile Angriffe

Als sichere Gebiete werden in der Regel die Hauptstadt Kabul und die regionalen Zentren Herat und Mazar-e Sharif genannt. Die Wahrscheinlichkeit, hier Opfer von Kampfhandlungen zu werden, ist relativ geringer als zum Beispiel in den stark umkämpften Provinzen Helmand, Nangarhar und Kunduz (DW 31.5.2017).

Hauptstadt Kabul

Kabul wird immer wieder von Attentaten erschüttert (DW 31.5.2017).

Am 31.5.2017 kamen bei einem Selbstmordattentat im hochgesicherten Diplomatenviertel Kabuls mehr als 150 Menschen ums Leben und mindestens 300 weitere wurden schwer verletzt als ein Selbstmordattentäter einen Sprengstoff beladenen Tanklaster mitten im Diplomatenviertel in die Luft sprengte (FAZ 6.6.2017; vgl. auch:

al-Jazeera 31.5.2017; The Guardian 31.5.2017; BBC 31.5.2017; UN News Centre 31.5.2017). Bedeutend ist der Angriffsort auch deswegen, da dieser als der sicherste und belebteste Teil der afghanischen Hauptstadt gilt. Kabul war in den Wochen vor diesem Anschlag relativ ruhig (al-Jazeera 31.5.2017).

Zunächst übernahm keine Gruppe Verantwortung für diesen Angriff; ein Talibansprecher verlautbarte nicht für diesen Vorfall verantwortlich zu sein (al-Jazeera 31.5.2017). Der afghanische Geheimdienst (NDS) macht das Haqqani-Netzwerk für diesen Vorfall verantwortlich (The Guardian 2.6.2017; vgl. auch: Fars News 7.6.2017); schlussendlich bekannte sich der Islamische Staat dazu (Fars News 7.6.2017).

Nach dem Anschlag im Diplomatenviertel in Kabul haben rund 1.000 Menschen, für mehr Sicherheit im Land und eine Verbesserung der Sicherheit in Kabul demonstriert (FAZ 2.6.2017). Bei dieser Demonstration kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften (The Guardian 2.6.2017); dabei wurden mindestens sieben Menschen getötet und zahlreiche verletzt (FAZ 2.6.2017).

Auf der Trauerfeier für einen getöteten Demonstranten- den Sohn des stellvertretenden Senatspräsidenten - kam es am 3.6.2017 erneut zu einem Angriff, bei dem mindestens 20 Menschen getötet und 119 weitere verletzt worden waren. Polizeiberichten zufolge, waren während des Begräbnisses drei Bomben in schneller Folge explodiert (FAZ 3.6.2017; vgl. auch: The Guardian 3.6.2017); die Selbstmordattentäter waren als Trauergäste verkleidet (The Guardian 3.6.2017). Hochrangige Regierungsvertreter, unter anderem auch Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, hatten an der Trauerfeier teilgenommen (FAZ 3.6.2017; vgl. auch: The Guardian 3.6.2017).

Herat

Anfang Juni 2017 explodierte eine Bombe beim Haupteingang der historischen Moschee Jama Masjid; bei diesem Vorfall wurden mindestens 7 Menschen getötet und 15 weitere verletzt (Reuters 6.6.2017; vgl. auch: TMN 7.6.2017). Zu diesem Vorfall hat sich keine Terrrorgruppe bekannt (TMN 7.6.2017; vgl. auch: US News 12.6.2017). Sirajuddin Haqqani - stellvertretender Leiter der Taliban und Führer des Haqqani Netzwerkes - verlautbarte, die Taliban wären für diese Angriffe in Kabul und Herat nicht verantwortlich (WP 12.6.2017).

Mazar-e Sharif

Auf der Militärbase Camp Shaheen in der nördlichen Stadt Mazar-e Sharif eröffnete Mitte Juni 2017 ein afghanischer Soldat das Feuer auf seine Kameraden und verletzte mindestens acht Soldaten (sieben US-amerikanische und einen afghanischen) (RFE/RL 17.6.2017).

Die Anzahl solcher "Insider-Angriffe" [Anm.: auch green-on-blue attack genannt] hat sich in den letzten Monaten erhöht. Unklar ist, ob die Angreifer abtrünnige Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte sind oder ob sie Eindringlinge sind, die Uniformen der afghanischen Armee tragen (RFE/RL 17.6.2017). Vor dem Vorfall im Camp Shaheen kam es dieses Jahr zu zwei weiteren registrierten Insider-Angriffen: der erste Vorfall dieses Jahres fand Mitte März auf einem Militärstützpunkt in Helmand statt: ein Offizier des afghanischen Militärs eröffnete das Feuer und verletzte drei US-amerikanische Soldaten (LWJ 11.6.2017; vgl. auch: al-Jazeera 11.6.2017).

Der zweite Vorfall fand am 10.6.2017 im Zuge einer militärischen Operation im Distrikt Achin in der Provinz Nangarhar statt, wo ein afghanischer Soldat drei US-amerikanische Soldaten tötete und einen weiteren verwundete; der Angreifer wurde bei diesem Vorfall ebenso getötet (BBC 10.6.21017; vgl. auch: LWJ 11.6.2017; DZ 11.6.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

Afghanistan ist mit einer anhaltenden Bedrohung durch mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke, die in der AfPak-Region operieren, konfrontiert; zu diesen Gruppierungen zählen unter anderem die Taliban, das Haqqani Netzwerk, der Islamische Staat und al-Qaida (US DOD 6.2017).

Taliban

Die Fähigkeiten der Taliban und ihrer Operationen variieren regional signifikant; sie verwerten aber weiterhin ihre begrenzten Erfolge, indem sie diese auf sozialen Medien und durch Propagandakampagnen als strategische Siege bewerben (US DOD 6.2017).

Die Taliban haben ihre diesjährige Frühjahrsoffensive "Operation Mansouri" am 28. April 2017 eröffnet (UN GASC 20.6.2017; vgl. auch:

BBC 7.5.2017). In einer Stellungnahme verlautbarten sie folgende Ziele: um die Anzahl ziviler Opfer zu minimieren, wollen sie sich auf militärische und politische Ziele konzentrieren, indem ausländische Kräfte in Afghanistan, sowie ihre afghanischen Partner angegriffen werden sollen. Nichtdestotrotz gab es bezüglich der Zahl ziviler Opfer keine signifikante Verbesserung (UN GASC 20.6.2017).

Während des Berichtszeitraumes der Vereinten Nationen gelang es den Taliban den strategischen Distrikt Zaybak/Zebak in der Provinz Badakhshan zu erobern (UN GASC 20.6.2017; vgl. auch: Pajhwok 11.5.2017); die afghanischen Sicherheitskräfte konnten den Distrikt einige Wochen später zurückerobern (Pajhwok 11.5.2017). Kurzfristig wurden auch der Distrikt Sangin in Helmand, der Distrikt Qal'ah-e Zal in Kunduz und der Distrikt Baha' al-Din in Takhar von den Taliban eingenommen (UN GASC 20.6.2017).

Bei einer Friedens- und Sicherheitskonferenz in Kabul wurde unter anderem überlegt, wie die radikal-islamischen Taliban an den Verhandlungstisch geholt werden könnten (Tagesschau 6.6.2017).

Präsident Ghani verlautbarte mit den Taliban reden zu wollen:

sollten die Taliban dem Friedensprozess beiwohnen, so werde die afghanische Regierung ihnen erlauben ein Büro zu eröffnen; dies sei ihre letzte Chance (WP 6.6.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Der IS-Zweig in Afghanistan - teilweise bekannt als IS Khorasan - ist seit dem Jahr 2015 aktiv; er kämpft gegen die Taliban, sowie gegen die afghanischen und US-amerikanischen Kräfte (Dawn 7.5.2017; vgl. auch: DZ 14.6.2017). Der IS hat trotz verstärkter Militäroperationen, eine Präsenz in der Provinz Nangarhar (UN GASC 20.6.2017; vgl. auch: DZ 14.6.2017).

Mehreren Quellen zufolge, eroberte der IS Mitte Juni 2017 die strategisch wichtige Festung der Taliban Tora Bora; bekannt als Zufluchtsort bin-Ladens. Die Taliban negieren den Sieg des IS und verlautbarten die Kämpfe würden anhalten (DZ 14.6.2017; vgl. auch:

NYT 14.6.2017; IBT 14.6.2017). Lokale Stammesälteste bestätigten hingen den Rückzug der Taliban aus großen Teilen Tora Boras (Dawn 16.6.2017).

1.4.3 Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung erarbeitet (IDEA o.D.), und im Jahre 2004 angenommen (Staatendokumentation des BFA 7.2016; vgl. auch: IDEA o.D.). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahre 1964. Bei Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann und Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation des BFA 3.2014; vgl. Max Planck Institute 27.1.2004). Die Innenpolitik ist seit der Einigung zwischen den Stichwahlkandidaten der Präsidentschaftswahl auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) von mühsamen Konsolidierungsbemühungen geprägt. Nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern der Regierung unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah sind kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 schließlich alle Ministerämter besetzt worden (AA 9.2016). Das bestehende Parlament bleibt erhalten (CRS 12.1.2017) - nachdem die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen wegen bisher ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden konnten (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017).

Parlament und Parlamentswahlen

Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wähler/innen. Seit Mitte 2015 ist die Legislaturperiode des Parlamentes abgelaufen. Seine fortgesetzte Arbeit unter Ausbleiben von Neuwahlen sorgt für stetig wachsende Kritik (AA 9.2016). Im Jänner 2017 verlautbarte das Büro von CEO Abdullah Abdullah, dass Parlaments- und Bezirksratswahlen im nächsten Jahr abgehalten werden (Pajhwok 19.1.2017). Die afghanische Nationalversammlung besteht aus dem Unterhaus, Wolesi Jirga, und dem Oberhaus, Meshrano Jirga, auch Ältestenrat oder Senat genannt. Das Unterhaus hat 249 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze und für die Minderheit der Kutschi 10 Sitze im Unterhaus reserviert (USDOS 13.4.2016 vgl. auch: CRS 12.1.2017). Das Oberhaus umfasst 102 Sitze. Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für Behinderte bestimmt. Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von 25% im Parlament und über 30% in den Provinzräten. Ein Sitz im Oberhaus ist für einen Sikh- oder Hindu- Repräsentanten reserviert (USDOS 13.4.2016). Die Rolle des Zweikammern-Parlaments bleibt trotz mitunter erheblichem Selbstbewusstsein der Parlamentarier begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit der kritischen Anhörung und auch Abänderung von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Regierungsarbeit destruktiv zu behindern, deren Personalvorschläge z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse teuer abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus spielt hier eine unrühmliche Rolle und hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht (AA 9.2016).

Parteien

Der Terminus Partei umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015). Die afghanische Parteienlandschaft ist mit über 50 registrierten Parteien stark zersplittert. Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf fehlende strukturelle Elemente (wie z.B. ein Parteienfinanzierungsgesetz) zurückzuführen, sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange - werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016).

Im Jahr 2009 wurde ein neues Parteiengesetz eingeführt, welches von allen Parteien verlangte sich neu zu registrieren und zum Ziel hatte ihre Zahl zu reduzieren. Anstatt wie zuvor die Unterschrift von 700 Mitgliedern, müssen sie nun 10.000 Unterschriften aus allen Provinzen erbringen. Diese Bedingung reduzierte tatsächlich die Zahl der offiziell registrierten Parteien von mehr als 100 auf 63, trug aber scheinbar nur wenig zur Konsolidierung des Parteiensystems bei (USIP 3.2015).

Unter der neuen Verfassung haben sich seit 2001 zuvor islamistisch-militärische Fraktionen, kommunistische Organisationen, ethno-nationalistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Gruppen zu politischen Parteien gewandelt. Sie repräsentieren einen vielgestaltigen Querschnitt der politischen Landschaft und haben sich in den letzten Jahren zu Institutionen entwickelt. Keine von ihnen ist eine weltanschauliche Organisation oder Mobilmacher von Wähler/innen, wie es Parteien in reiferen Demokratien sind (USIP 3.2015). Eine Diskriminierung oder Strafverfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten nach Rückkehr aus dem Ausland ist nicht anzunehmen. Auch einige Führungsfiguren der RNE sind aus dem Exil zurückgekehrt, um Ämter bis hin zum Ministerrang zu übernehmen. Präsident Ashraf Ghani verbrachte selbst die Zeit der Bürgerkriege und der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren weitgehend im pakistanischen und US-amerikanischen Exil (AA 9.2016).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Im afghanischen Friedens- und Versöhnungsprozess gibt es weiterhin keine greifbaren Fortschritte. Die von der RNE sofort nach Amtsantritt konsequent auf den Weg gebrachte Annäherung an Pakistan stagniert, seit die afghanische Regierung Pakistan der Mitwirkung an mehreren schweren Sicherheitsvorfällen in Afghanistan beschuldigte. Im Juli 2015 kam es erstmals zu direkten Vorgesprächen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban über einen Friedensprozess, die aber nach der Enthüllung des jahrelang verschleierten Todes des Taliban-Führers Mullah Omar bereits nach der ersten Runde wieder eingestellt wurden. Die Reintegration versöhnungswilliger Aufständischer bleibt weiter hinter den Erwartungen zurück, auch wenn bis heute angeblich ca. 10.000 ehemalige Taliban über das "Afghanistan Peace and Reintegration Program" in die Gesellschaft reintegriert wurden (AA 9.2016).

Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG)

Nach zweijährigen Verhandlungen (Die Zeit 22.9.2016), unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das der Hezb-e Islami Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtet sich die Gruppe alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Einen Tag nach Unterzeichnung des Friedensabkommen zwischen der Hezb-e Islami und der Regierung, erklärte erstere in einer Stellungnahme eine Waffenruhe (The Express Tribune 30.9.2016). Das Abkommen beinhaltet unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, int. Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lasse

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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