Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 10. April 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Albu als Schriftführer in der Übergabesache des Shaban S*****, AZ 314 HR 25/17g des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss dieses Gerichts vom 10. November 2017, GZ 314 HR 25/17g-12, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Oberstaatsanwalt Mag. Artner, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 10. November 2017, GZ 314 HR 25/17g-12, verletzt § 38 Abs 2 EU-JZG iVm Art 15 Abs 1 EuAlÜbk sowie § 20 Abs 1 zweiter Satz EU-JZG iVm § 32 Abs 1 zweiter Satz ARHG.
Text
Gründe:
Im Verfahren AZ 111 Hv 46/17y des Landesgerichts für Strafsachen Wien wurde der kosovarische Staatsangehörige Shaban S***** aufgrund eines Auslieferungsersuchens des Bundesministeriums für Justiz am 24. Mai 2017 unter dem Vorbehalt der Spezialität von Albanien nach Österreich ausgeliefert (vgl ON 37, ON 51 und ON 57 S 7 ff [S 13 und 21]).
Mit – infolge Rechtsmittelverzichts (ON 81 S 9) – rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 10. August 2017, GZ 111 Hv 46/17y-82, wurde er des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 5, 129 Abs 1 Z 1, Abs 2 Z 1, § 130 Abs 2 erster Fall, Abs 3 (Abs 1 erster Fall), § 15 StGB und weiterer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Zu AZ 311 HR 162/17g des Landesgerichts für Strafsachen Wien ist gegen Shaban S***** derzeit ein Verfahren zur Auslieferung an die schweizerische Eidgenossenschaft zum Zweck des (restlichen) Vollzugs (von einem Jahr, drei Monaten und 21 Tagen) einer über ihn mit rechtskräftigem Urteil des Strafgerichts des Bezirks La Broye vom 1. Oktober 2008 verhängten Freiheitsstrafe anhängig.
Weiters wurde gegen Shaban S***** zu AZ 314 HR 25/17g des Landesgerichts für Strafsachen Wien aufgrund eines Europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Aachen vom 31. März 2017, AZ 903 AR 19/17 (ON 3), ein Verfahren zur Übergabe an die Bundesrepublik Deutschland geführt. Mit Beschluss vom 10. November 2017 (ON 12) ordnete das Landesgericht für Strafsachen Wien aufgrund einer Einverständniserklärung des Shaban S***** (ON 7 S 5) gemäß § 20 Abs 2 EU-JZG die vereinfachte Übergabe an die deutschen Behörden an und stellte fest, dass eine Spezialitätswirkung nicht besteht. Gemäß § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG wurde die Übergabe zufolge Vollzugs der im Verfahren AZ 111 Hv 46/17y des Landesgerichts für Strafsachen Wien verhängten Freiheitsstrafe aufgeschoben.
Mit Schreiben vom 8. Dezember 2017 teilte die (von diesem Beschluss in Kenntnis gesetzte; vgl ON 13) Staatsanwaltschaft Aachen mit, dass um die Überstellung des Shaban S***** nicht mehr ersucht wird, weil die Fahndung gelöscht und das zugrundeliegende Ermittlungsverfahren nach § 154 (Abs 1 Z 1) dStPO eingestellt worden sei (ON 14). Am 15. Dezember 2017 hat die Staatsanwaltschaft Wien das Übergabeverfahren beendet (ON 1 S 8 f).
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 10. November 2017, GZ 314 HR 25/17g-12, mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Rechtliche Beurteilung
Nach § 20 Abs 2 EU-JZG hat das (österreichische) Gericht sogleich nach der Vernehmung der betroffenen Person zum Europäischen Haftbefehl eines Mitgliedstaats, sofern sie sich (nach entsprechender Belehrung, vgl § 20 Abs 1 EU-JZG) zu gerichtlichem Protokoll mit der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls einverstanden erklärt und einwilligt, ohne Durchführung eines förmlichen Verfahrens übergeben zu werden, die Übergabe
– soweit die Voraussetzungen dafür vorliegen – anzuordnen, wobei mit dieser vereinfachten Übergabe keine Spezialitätswirkungen verbunden sind. Nach § 31 Abs 2 Z 5 EU-JZG darf eine Person, die aufgrund eines von einer österreichischen Justizbehörde erlassenen Europäischen Haftbefehls an Österreich übergeben wurde, an einen anderen Mitgliedstaat übergeben werden, wenn sie nach ihrer Übergabe auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität (ausdrücklich) verzichtet.
Wurde die von einem Europäischen Haftbefehl betroffene Person jedoch – wie hier – von einem Drittstaat (§ 2 Z 9 EU-JZG) nach Österreich ausgeliefert, bleibt die Verpflichtung der Republik Österreich zur Beachtung des Grundsatzes der Spezialität nach § 38 Abs 2 EU-JZG – hier zufolge Art 15 Abs 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (EuAlÜbk), weil die Voraussetzungen des Art 14 Abs 1 lit b EuAlÜbk nicht vorliegen (ON 48 und 85 der Akten AZ 111 Hv 46/17y des Landesgerichts für Strafsachen Wien) – auch bei anstehender Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen diese Person unberührt. Das zuständige Gericht hat in einer solchen Konstellation jene Unterlagen, die zur Erwirkung der Zustimmung des Drittstaats zur Übergabe der betroffenen Person erforderlich sind, unverzüglich dem Bundesministerium für Justiz vorzulegen (§ 38 Abs 2 zweiter Satz EU-JZG; vgl Hinterhofer in WK2 EU-JZG § 38 Rz 3 f).
Hinzu kommt, dass die Erklärung der Einwilligung in eine vereinfachte Übergabe nur dann wirksam ist, wenn sie alle Europäischen Haftbefehle und Ersuchen um Auslieferung (oder um Verhängung der Auslieferungshaft) gleichermaßen umfasst (§ 20 Abs 1 zweiter Satz EU-JZG iVm § 32 Abs 1 zweiter Satz ARHG; vgl Hinterhofer/Schallmoser in WK2 EU-JZG § 20 Rz 11; Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 32 Rz 3). Nur bei einer solcherart wirksamen Einverständniserklärung der betroffenen Person wäre das Gericht verhalten gewesen, über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls – soweit die Voraussetzungen vorliegen – gemäß § 20 Abs 2 EU-JZG zu entscheiden (§ 23 Abs 2 erster Satz EU-JZG), und danach die Akten einschließlich des Übergabebeschlusses nach dem EU-JZG sowie der Zustimmung zur vereinfachten Auslieferung nach dem ARHG dem Bundesministerium für Justiz vorzulegen (§ 23 Abs 2 zweiter Satz EU-JZG; Hinterhofer/Schallmoser in WK2 EU-JZG § 23 Rz 6 ff; vgl ON 13 zweiter Absatz).
Indem das Landesgericht für Strafsachen Wien unter Verletzung des Grundsatzes der Spezialität und darüber hinaus ohne wirksame Einverständniserklärung des Shaban S***** dessen Übergabe an die deutschen Behörden angeordnet hat, verletzte es § 38 Abs 2 EU-JZG iVm Art 15 Abs 1 EuAlÜbk sowie § 20 Abs 1 zweiter Satz EU-JZG iVm § 32 Abs 1 zweiter Satz ARHG.
Zufolge Beendigung des Übergabeverfahrens sah sich der Oberste Gerichtshof jedoch nicht veranlasst, die Gesetzesverletzung mit konkreter Wirkung (§ 292 letzter Satz StPO) zu verknüpfen.
Textnummer
E121338European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:0110OS00026.18K.0410.000Im RIS seit
09.05.2018Zuletzt aktualisiert am
22.07.2021