Entscheidungsdatum
27.04.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W151 2120606-1/38E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Doris KOHL, MCJ über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, dieser vertreten durch Stefan KOJETINSKY, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2016, Zl. XXXX, wegen § 3 AsylG 2005 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF, (AsylG) der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 28.08.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am darauf folgenden Tag fand vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF im Beisein eines Dolmetschers, welcher in die Sprache Dari übersetzte, statt. Dort gab der BF an, sein Name sei XXXX, geboren am XXXX in der Provinz Uruzgaan, Gemeinde XXXX, Dorf XXXX, afghanischer Staatsangehöriger, Angehörige der Volksgruppe der Hazare und schiitischer Moslem. Er sei ledig und spreche Dari. Er habe 5 Jahre die Grundschule besucht. Zuletzt habe er als Hilfsarbeiter (Gartenarbeiten) gearbeitet und im Iran gelebt. Seine Familie befinde sich weiterhin in Afghanistan.
Zum Fluchtgrund gab der BF an, dass er seine Heimat aufgrund von Grundstücksschwierigkeiten mit Verwandten verlassen habe. Der Streit sei auch der Grund für den Tod des Vaters gewesen. Es sei um die Besitzverhältnisse gegangen. Hätte die Familie des BF versucht das Land zu bewirtschaften, hätte es Krieg mit den Verwandten gegeben. Der BF hätte dann seinen Tod fürchten müssen. Der BF sei darum illegal in den Iran gereist, wo er aber von den Behörden aufgegriffen und festgenommen worden sei. Nach Afghanistan hätte er nicht mehr zurückkehren können, da er keine Lebensgrundlage habe. Bei einer Rückkehr habe er Angst von den Verwandten getötet zu werden.
3. Am 13.01.2015 langte die Vollmacht für den MigrantInnenverein St. Marx und den Obmann Rechtsanwalt Dr. Lennart Binder LL.M. ein.
4. Am 03.06.2015 wurden ärztliche sowie Deutschkurs Bestätigungen zum Nachweis der Integration des BF vorgelegt.
5. Der BF wurde am 15.12.2015 vor dem BFA, RD Steiermark, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari einvernommen. Dabei brachte der BF vor, dass seine bisher getätigten Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Ein Identitätsdokument habe er nicht, der BF legte aber diverse Unterlagen (Deutschkurs- sowie Arztbestätigungen) vor. Der BF gab weiters an fünf Jahre die Koranschule besucht und als Hirte gearbeitet zu haben. Im Moment stehe er in ärztlicher Behandlung und bekomme Medikamente gegen die Schmerzen. Er habe Verletzungen, die von den Taliban verursacht worden seien. Der BF habe bis vor zwei Jahren in Afghanistan gelebt, sei daraufhin in den Iran gegangen, von wo aus er nach Europa gereist sei. In Afghanistan habe er noch eine Tante väterlicherseits, die in XXXX lebe. Der Vater des BF sei im Jänner oder Februar 2008 verstorben. Die Mutter des BF habe erneut geheiratet und sei mit ihrem neuen Mann zusammen gezogen. Der BF sei aber im alten Haus, in der Nähe der Tante, wohnen geblieben. Die Familie habe Grundstücke besessen; diese hätten dem Vater des BF gehört. Nach dessen Tod hätten die Cousins väterlicherseits diese vereinnahmt und sich zu eigen gemacht. Darum habe es Streitigkeiten mit den Cousins des Vaters gegeben.
Zu seinem Fluchtgrund brachte der BF vor, dass es im Juli/August 2009 zu einem Vorfall mit den Taliban gekommen sei, an dem ihm schwere Verletzungen zugefügt worden seien. Der Vater des BF sei Polizist gewesen, aber schon ein Jahr vor der Attacke verstorben. Der BF habe zu dieser Zeit schon alleine im Wohnhaus der Familie gelebt. Die Taliban seien gekommen und hätten ihn nach Waffen gefragt. Da der BF keine Auskunft geben habe können, sei er gefoltert worden und habe diverse Verletzungen (Verletzung an der linken Schulter, zwei Verletzungen am Bauch, Verletzungen an der rechten Hand, an der sich eine Schnittverletzung befinde und ihm drei Fingerspitzen abgetrennt worden seien) davongetragen. Der BF sei ohnmächtig geworden. Seine Tante habe ihn dann am nächsten Morgen bewusstlos im Elternhaus aufgefunden. Eine Anzeige bei der Polizei habe der BF nicht erstattet, weil man ihn dort nicht angehört hätte. Es sei zu keinen weiteren Bedrohungen durch die Taliban gekommen. Es habe aber im Juni/Juli 2011 einen Vorfall mit den Cousins des Vaters gegeben; es habe schon immer Schwierigkeiten mit ihnen gegeben. Der BF sei gerade auf dem Heimweg von seiner Tante väterlicherseits gewesen als er von zwei Cousins des Vaters angegriffen worden sei. Dabei sei der BF schwer verletzt worden. Er habe eine Schussverletzung am linken Knie und Stichwunden am linken Ober- und Unterschenkel erlitten. Als Grund des Angriffes führte der BF an, dass er vom Vater die Grundstücke und das Haus geerbt habe. Die Tante des BF habe den Schuss gehört und habe gemeinsam mit ihrem Mann den BF angeschossen gefunden. Ihr Ehemann habe den BF bis zum Haus der Tante getragen, wo der BF von einem Arzt versorgt worden sei. Er habe sechs oder sieben Monate im Haus der Tante gelebt. Sie habe die Tiere des BF verkauft; mit diesem Geld habe der BF in den Iran fliehen können. Auch diesen Vorfall habe der BF nicht bei der Polizei angezeigt, weil er keine Hilfe hätte erwarten können, da die Cousins einflussreiche Leute seien. Die Cousins hätten das Haus und die Grundstücke in Beschlag genommen. Im Iran habe sich der BF illegal aufgehalten und habe Angst gehabt, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Eine innerstaatliche Fluchtalternative gebe es für den BF nicht, da die Cousins sehr einflussreich seien. Der BF gehe davon aus, dass die Cousins denken würden, dass sie ihn getötet hätten. Der BF habe noch Verwandte (Brüder) im Iran.
Der BF wurde über die aktuellen Länderfeststellungen informiert, er lehnte eine genaue Belehrung diesbezüglich aber ab.
4. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das Bundesasylamt mit Bescheid vom 18.01.2016, Zahl: XXXX, den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs.1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) ab, erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zu (Spruchpunkt II.) und erteilte dem BF gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 18.01.2017 (Spruchpunkt III).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der BF sei in seinem Herkunftsstaat in der Vergangenheit keiner Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten ausgesetzt gewesen und drohe ihm eine solche auch nicht. Somit könne nicht festgestellt werden, dass dem BF in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität - oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität - drohe. Der BF wäre jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan in einer aussichtslosen Lage.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass die Identität des BF mangels Vorlage eines unbedenklichen Identitätsdokumentes nicht feststehe. Der BF sei aber bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig.
Die Angaben bezüglich des wahren Wohnortes des BF (in der Ersteinvernahme: bei Tante, zweite Befragung: im Elternhaus) seien widersprüchlich. Genau so sei es unglaubhaft, dass die Taliban erst ca. eineinhalb Jahre nach dem Tod des Vaters beim BF wegen angeblicher Waffen nachgefragt hätten. Dieser Eindruck sei dadurch verstärkt worden, dass der BF davon in der Ersteinvernahme nichts erwähnt habe. Unklar stelle sich ebenso dar, wie der Vater des BF nun ums Leben gekommen sei. In der Ersteinvernahme habe der BF vorgebracht, dass der Vater aufgrund der Schwierigkeiten mit den Verwandten verstorben sei währenddessen er davon in der nächsten Einvernahme gar nicht mehr gesprochen habe. Gerade wenn der Vater des BF durch die Verwandten getötet worden sei, hätte sich dies extrem auf den BF ausgewirkt. Ebenso sei es zu unterschiedlichen Angaben in Bezug auf die Bewirtschaftung der Grundstücke gekommen. Weiters sei unglaubwürdig, dass die Verwandten den BF erst im Jahr 2011 und nicht zeitnah zum Tod des Vaters angegriffen hätten, wo der BF doch schon seit einigen Jahren alleine und schutzlos gewesen sei. Die Behörde erachte als glaubhaft, dass der BF seine Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe. Dies sei auch auf seine Aussage in der Ersteinvernahme zurückzuführen. Insgesamt handle es sich um eine fiktive Geschichte. Das Vorbringen des BF sei widersprüchlich und nicht plausibel gewesen. Es handle sich um keine asylrelevante Verfolgung.
Rechtlich beurteilend wurde ausgeführt, dass der BF keine Verfolgung seiner Person oder eine wohlbegründete Furcht vor einer Verfolgung in keinster Weise glaubhaft machen habe können, weshalb der Antrag auf internationalen Schutz aufgrund des Fehlens der Flüchtlingseigenschaft abzuweisen gewesen sei.
Subsidiärer Schutz wurde dem BF zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aufgrund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Afghanistan bestehe. Aufgrund der allgemeinen instabilen Sicherheitslage in Afghanistan insbesondere die unzureichende Sicherheit bei Reisebewegungen innerhalb des Landes ging die belangte Behörde von einer solchen realen Gefahr einer Bedrohung aus.
5. Für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wurde dem BF am 19.01.2016 mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG der Verein Menschenrechte Österreich gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig als Rechtsberater zur Seite gestellt.
6. Mit dem am 30.01.2016 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingebrachten Schriftsatz vom selben Tag, erhob der BF Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des oben genannten Bescheides wegen unrichtiger Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Darin wurde beantragt, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, und den angefochtenen Bescheid im Spruchpunkt I. dahingehend abzuändern, dass dem BF Asyl gewährt werde, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die 1. Instanz zurückzuverweisen.
Nach einer kurzen Zusammenfassung des Sachverhalts brachte der BF vor, dass die Erklärung der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens des BF durch die Behörde nicht nachvollziehbar sei und sich die Beweiswürdigung nur aus Zitaten und Textbausteinen zusammensetzen würde. Nach der ständigen Judikatur sei auch bei einer Verfolgung durch Privatpersonen bzw. private Gruppierungen eine Asylrelevanz zu erkennen, wenn der Staat nicht gewillt oder in der Lage sei, diese Verfolgungshandlungen zu unterbinden. Dazu wurde das Erkenntnis des VwGH 2011/23/0064 zitiert. Die afghanischen Behörden könnten eine Schutzfähigkeit nicht gewährleisten. Von der Behörde seien keine Recherchen zu den vorgebrachten Fluchtgründen getätigt worden. Der BF habe das konkret fluchtauslösende Ereignis ausführlich und konkret im Detail geschildert. Weiters seien die Spuren der Folter und Angriffe noch immer ersichtlich. Das Vorbringen des BF sei glaubwürdig und hinreichend substantiiert. Es stelle eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens dar, dass es die Behörde verabsäumt habe, sich mit der konkreten Situation des BF und der aktuellen Situation in Afghanistan auseinanderzusetzen. Es habe kein amtswegiges Ermittlungsverfahren stattgefunden und sei es somit zu keiner rechtlichen Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des BF gekommen.
7. Die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 04.02.2016 vom BFA vorgelegt.
8. Vor dem BVwG wurde durch die erkennende Richterin in der gegenständlichen Rechtssache am 14.04.2016 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein seiner Vertreterin sowie eines Dolmetsch für die Sprache Dari durchgeführt, zu der der BF persönlich erschien. Die belangte Behörde entschuldigte ihr Fernbleiben. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.
9. Mit Erkenntnis vom 27.09.2016 wies das BVwG die Beschwerde des BF als unbegründet ab, da der BF durch seine vagen, wenig konkreten und unsubstantiierten Angaben keine asylrelevante Verfolgung vorbringen konnte.
10. Dagegen erhob der BF mit Schreiben vom 09.01.2017 durch seine rechtliche Vertretung Beschwerde wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung Fremder untereinander gemäß Art i des BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung und Verletzung des Rechts auf Asylgewährung (Art 18 Grundrechtecharta), und Art 47 der Grundrechtecharta. Begründend wurde ausgeführt, dass das BVwG, trotz Hinweis des BF auf die erlittene Folter durch die Taliban samt Angabe der Verletzungen, den Angaben zur Folter in seiner Einvernahme sowie den vorgelegten ärztlichen Bestätigungen, von einem unglaubwürdigen Überfall durch die Taliban ausgehe, ohne dies näher zu begründen. Somit liege Willkür im verfassungsrechtlichen Sinn vor, da der Sachverhalt nicht berücksichtigt worden sei. Zudem wurde auf die mangelnde Qualifikation des Dolmetschers hingewiesen. Insbesondere sei es bei Datumsangaben und Umrechnung von Daten in den gregorianischen Kalender überfordert gewesen. Diese unrichtigen Übersetzungen seien kausal für die negative Entscheidung. Aufgrund der mangelnden Qualifikation des Dolmetschers sei das Verfahren zu wiederholen.
11. Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 08.06.2017, XXXX, wurde das Erkenntnis des BVwG vom 27.09.2016 wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander aufgehoben.
12. Mit den Ladungen für die Verhandlung am 03.10.2017 vom 17.08.2017 wurden dem BF die aktuellen Länderinformationen (Länderinformation, Stand 22.06.2017; die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchsuchender des hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) vom 19. April 2016 inklusive Begleitbrief vom selben Tag) zur Kenntnis gebracht.
13. Aufgrund der Verlegung der Verhandlung wurde dem BF mit Parteiengehör vom 28.12.2017 das aktualisierte Länderinformationsblatt vom 21.12.2017 zur Kenntnis gebracht.
14. Mit Schreiben des BF vom 07.02.2018 wurde eine Stellungnahme zu den bereits zuvor zugesendeten Länderberichten vom 21.12.2107 eingebracht.
15. Vor dem BVwG wurde durch die erkennende Richterin in der gegenständlichen Rechtssache am 08.02.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein seines Rechtsvertreters sowie eines Dolmetsch für die Sprache Dari durchgeführt, zu der der BF persönlich erschien. Die belangte Behörde entschuldigte ihr Fernbleiben. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.
Der BF wurde vom erkennenden Gericht eingehend zu seinen Verletzungen, zu den persönlichen Lebensumständen sowie zu seinen Fluchtgründen befragt.
Der BF legte zwei Befunde (13.04.2017 FA Dr. Nemetz über Nervenleitgeschwindigkeit und Befund über eine Röntgenuntersuchung vom 07.04.2017 des linken Knies aufgrund eines Streckdefizits links nach einer Schussverletzung) vor. Weiters legte der BF ein ÖSD - Zertifikat vom 25.09.2017 über die bestandene Prüfung A2 vor sowie einen Dienstvertrag über ein Dienstverhältnis bei der XXXX vor.
16. Mit Parteiengehör vom 02.03.2018 wurde dem BF das aktuelle Länderinformationsblatt vom 30.01.2018 zur Kenntnis gebracht.
17. Mit Schreiben vom 07.03.2018 nahm der BF zur aktuellen prekären Sicherheitslage in Afghanistan Stellung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der BF ist afghanischer Staatsbürger, aus der Provinz Uruzgan stammend, der in seinem Heimatdorf gelebt hat, danach in den Iran flüchtete und von dort nach Europa reiste. Der Vater des BF ist bereits verstorben, die Mutter hat erneut geheiratet. Der BF ist am XXXX geboren. Der BF ist ledig. Der BF ist Hazare, schiitischen Glaubens und spricht Dari. Der BF besitzt eine fünfjährige Schulbildung (Koranschule) und hat als Hirte gearbeitet. In Afghanistan besaß die Familie des BF Grundstücke und ein Haus.
Er befindet sich seit spätestens 28.08.2014 in Österreich. Er ist illegal in das Bundesgebiet eingereist. Der BF ist unbescholten. Der BF verfügt über kein Identitätsdokument.
1.2. Zum Gesundheitszustand des BF:
Der BF leidet an früheren Verletzungen.
Der BF weist Narben von Verletzungen im Bereich des Oberarmes und der Schulter links sowie am Bauch auf. Diese Verletzungen sind während des fluchtauslösenden Talibanangriffs entstanden und wurden diese dem BF von den Taliban mit einer Zange zugefügt. Im Zuge dieses Angriffs wurden dem BF auch drei Fingerkuppen an der rechten Hand entfernt. Auch besteht eine ca. fünf cm lange Narbe in der Handfläche.
Ebenso bestehen folgende Narben von Verletzungen an den Beinen: eine Schussverletzung am linken Knie, Messerstiche am linken Ober- und Unterschenkel sowie eine 20 cm lange Narbe am rechten Oberschenkel.
Die medizinischen Probleme betreffend das linke Knie und die damit einhergehenden nervlichen Probleme und Lähmungserscheinungen haben sich seit September 2016 verschlechtert. Diesbezüglich steht der BF in Dauerbehandlung. Ebenso leidet der BF weiterhin an Schmerzen infolge der ausgeheilten Schuss- sowie Stichverletzungen an den Beinen.
Der BF muss daher zwingend Medikamente einnehmen.
1.3. Zum Fluchtgrund:
Die Taliban haben den BF persönlich bedroht und gefoltert, und ihm die oben angeführten Verletzungen zugefügt, deshalb musste der BF aus Afghanistan flüchten und wird dieser asylrelevante Fluchtgrund des BF festgestellt.
Eine individuelle Bedrohung des BF aufgrund der Tätigkeit des Vaters als Polizist konnte hingegen nicht festgestellt werden.
Auch die vorgebrachten Grundstücksschwierigkeiten und der daraus folgende Angriff der Cousins väterlicherseits waren nicht dazu geeignet eine asylrelevante Verfolgung darzulegen.
Eine persönliche Bedrohung des BF aufgrund seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit konnte nicht festgestellt werden.
Der BF ist im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat aufgrund der individuellen Bedrohung durch die Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt.
Bei der Heimatprovinz des BF handelt es sich um eine volatile Provinz, in der eine besonders hohe Talibanpräsenz herrscht. Die Provinz Uruzgan stellt sich als eine sehr umkämpfte Region dar.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden zugrunde gelegt:
a) nachstehende Länderberichte über die Lage/Sicherheitslage in Afghanistan,
b) die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchsuchender des hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) vom 19. April 2016.
Ad a) Nachstehende Länderberichte wurden herangezogen:
• Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Wien am 02.03.2017, (letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018)
"Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen
KI vom 30.01.2018: Angriffe in Kabul (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)
Landesweit haben in den letzten Monaten Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (The Guardian; vgl. BBC 29.1.2018). Die Gewalt Aufständischer gegen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen hat in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban erhöhen ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (Asia Pacific 30.1.2018).
Im Stadtzentrum und im Diplomatenviertel wurden Dutzende Hindernisse, Kontrollpunkte und Sicherheitskameras errichtet. Lastwagen, die nach Kabul fahren, werden von Sicherheitskräften, Spürhunden und weiteren Scannern kontrolliert, um sicherzustellen, dass keine Sprengstoffe, Raketen oder Sprengstoffwesten transportiert werden. Die zeitaufwändigen Kontrollen führen zu langen Wartezeiten; sollten die korrekten Papiere nicht mitgeführt werden, so werden sie zum Umkehren gezwungen. Ebenso werden die Passagiere in Autos von der Polizei kontrolliert (Asia Pacific 30.1.2018).
Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie 29.1.2019
Am Montag den 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der Islamische Staat bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).
Quellen zufolge operiert der IS in den Bergen der östlichen Provinz Nangarhar (The Guardian 29.1.2018); die Provinzhauptstadt Jalalabad wird als eine Festung des IS erachtet, dessen Kämpfer seit 2015 dort aktiv sind (BBC 24.1.2018). Nachdem der IS in Ostafghanistan unter anhaltenden militärischen Druck gekommen war, hatte dieser immer mehr Angriffe in den Städten für sich beansprucht. Nationale und Internationale Expert/innen sehen die Angriffe in den Städten als Überlappung zwischen dem IS und dem Haqqani-Netzwerk (einem extremen Arm der Taliban) (NYT 28.1.2018).
Angriff im Regierungs- und Diplomatenviertel in Kabul am 27.1.2018
Bei einem der schwersten Angriffe der letzten Monate tötete am Samstag den 27.1.2018 ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 28.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (The Guardian 27.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Der Vorfall ereignete sich im Regierungs- und Diplomatenviertel und wird als einer der schwersten seit dem Angriff vom Mai 2017 betrachtet, bei dem eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodiert war und 150 Menschen getötet hatte (Reuters 28.1.2018).
Die Taliban verlautbarten in einer Aussendung, der jüngste Angriff sei eine Nachricht an den US-amerikanischen Präsidenten, der im letzten Jahr mehr Truppen nach Afghanistan entsendete und Luftangriffe sowie andere Hilfestellungen an die afghanischen Sicherheitskräfte verstärkte (Reuters 28.1.2018).
Angriff auf die NGO Save the Children am 24.1.2018
Am Morgen des 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden dabei getötet und zwölf weitere verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich 50 Mitarbeiter/innen im Gebäude. Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018).
Der jüngste Angriff auf eine ausländische Hilfseinrichtung in Afghanistan unterstreicht die wachsende Gefahr, denen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in Afghanistan ausgesetzt sind (The Guardian 24.1.2018).
Das Gelände der NGO Save the Children befindet sich in jener Gegend von Jalalabad, in der sich auch andere Hilfsorganisationen sowie Regierungsgebäude befinden (BBC 24.1.2018). In einer Aussendung des IS werden die Autobombe und drei weitere Angriffe auf Institutionen der britischen, schwedischen und afghanischen Regierungen (Reuters 24.1.2018).
Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul am 20.1.2018
Der Angriff bewaffneter Männer auf das Luxushotel Intercontinental in Kabul, wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018).Fünf bewaffnete Männer mit Sprengstoffwesten hatten sich Zutritt zu dem Hotel verschafft (DW 21.1.2018). Die exakte Opferzahl ist unklar. Einem Regierungssprecher zufolge sollen 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet worden sein. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden(BBC 21.1.2018). Alle Fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).
The Guardian (22.1.2018)
Wie die Angreifer die Sicherheitsvorkehrungen durchbrechen konnten, ist Teil von Untersuchungen. Erst seit zwei Wochen ist eine private Firma für die Sicherheit des Hotels verantwortlich. Das Intercontinental in Kabul ist trotz des Namens nicht Teil der weltweiten Hotelkette, sondern im Besitz der afghanischen Regierung. In diesem Hotel werden oftmals Hochzeiten, Konferenzen und politische Zusammentreffen abgehalten (BBC 21.1.2018). Zum Zeitpunkt des Angriffes war eine IT-Konferenz im Gange, an der mehr als 100 IT-Manager und Ingenieure teilgenommen hatten (Reuters 20.1.2018; vgl. NYT 21.1.2018).
Insgesamt handelte es sich um den zweiten Angriff auf das Hotel in den letzten acht Jahren (NYT 21.1.2018). Zu dem Angriff im Jahr 2011 hatten sich ebenso die Taliban bekannt (Reuters 20.1.2018).
Unter den Opfern waren ausländische Mitarbeiter/innen der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air, u.a. aus Kirgisistan, Griechenland (DW 21.1.2018), der Ukraine und Venezuela. Die Fluglinie verbindet jene Gegenden Afghanistans, die auf dem Straßenweg schwer erreichbar sind (NYT 29.1.2018).
Quellen:
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Asia Pacific (30.1.2018): Taliban and IS create perfect storm of bloodshed in Kabul,
https://www.channelnewsasia.com/news/asiapacific/taliban-and-is-create-perfect-storm-of-bloodshed-in-kabul-9909494, Zugriff 30.1.2018
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BBC (29.1.2018): Kabul military base hit by explosions and gunfire, http://www.bbc.com/news/world-asia-42855374, Zugriff 29.1.2018
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BBC (24.1.2018): Save the Children offices attacked in Jalalabad, Afghanistan, http://www.bbc.com/news/world-asia-42800271, Zugriff 29.1.2018
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BBC (21.1.2018): Kabul: Afghan forces end Intercontinental Hotel siege, http://www.bbc.com/news/world-asia-42763517, Zugriff 29.1.2018
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DW - Deutsche Welle (21.1.2018): Taliban militants claim responsibility for attack on Kabul hotel, http://www.dw.com/en/taliban-militants-claim-responsibility-for-attack-on-kabul-hotel/a-42238097, Zugriff 29.1.2018
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NYT - The New York Times (28.1.2018): Attack Near Kabul Military Academy Kills 11 Afghan Soldiers, https://www.nytimes.com/2018/01/28/world/asia/kabul-attack-afghanistan.html, Zugriff 29.1.2018
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NYT - The New York Times (21.1.2018): Siege at Kabul Hotel Caps a Violent 24 Hours in Afghanistan,
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Reuters (28.1.2018): Shock gives way to despair in Kabul after ambulance bomb,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-blast/shock-gives-way-to-despair-in-kabul-after-ambulance-bomb-idUSKBN1FG086, Zugriff 29.1.2018
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Reuters (24.1.2018): Islamic State claims attack on Jalalabad in Afghanistan,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-blast-claim/islamic-state-claims-attack-on-jalalabad-in-afghanistan-idUSKBN1FD1HC, Zugriff 29.1.2018
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Reuters (20.1.2018): Heavy casualties after overnight battle at Kabul hotel,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-attacks/heavy-casualties-after-overnight-battle-at-kabul-hotel-idUSKBN1F90W9, Zugriff 29.1.2018
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The Guardian (29.1.2018): Afghanistan: gunmen attack army post at Kabul military academy,
https://www.theguardian.com/world/2018/jan/29/explosions-kabul-military-academy-afghanistan, Zugriff 29.1.2018
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The Guardian (28.1.2018): 'We have no security': Kabul reels from deadly ambulance bombing,
https://www.theguardian.com/world/2018/jan/28/afghanistan-kabul-reels-bomb-attack-ambulance, Zugriff 29.1.2018
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The Guardian (27.1.2018): Kabul: bomb hidden in ambulance kills dozens,
https://www.theguardian.com/world/2018/jan/27/scores-of-people-wounded-and-several-killed-in-kabul-blast, Zugriff 29.1.2018
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The Guardian (24.1.2018): Isis claims attack on Save the Children office in Afghanistan,
https://www.theguardian.com/world/2018/jan/24/explosion-attack-save-the-children-office-jalalabad-afghanistan, Zugriff 29.1.2018
KI vom 21.12.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil - der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierende Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).
Die afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte verstärkten deutlich ihre Luftoperationen (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die in 22 Provinzen registriert wurden. So haben sich im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) Luftangriffe um 73% gegenüber dem Vorjahreswert erhöht (UN GASC 20.12.2017). Der Großteil dieser Luftangriffe wurde in der südlichen Provinz Helmand und in der östlichen Provinz Nangarhar erfasst (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die als Hochburgen des IS und der Taliban gelten (SIGAR 30.10.2017). Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilist/innen und regierungsfeindlichen Elementen (UN GASC 20.12.2017). Zusätzlich ist die Gewalt in Ostafghanistan auf die zunehmende Anzahl von Operationen der ANDSF und der Koalitionskräfte zurück zu führen (SIGAR 30.10.2017).
Landesweit kam es immer wieder zu Sicherheitsoperationen, bei denen sowohl aufständische Gruppierungen als auch afghanische Sicherheitskräfte Opfer zu verzeichnen hatten (Pajhwok 1.12.2017; TP 20.12.2017; Xinhua 21.12.2017; Tolonews 5.12.2017; NYT 11.12.2017).
Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sich von einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen - in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahr eine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).
Sicherheitsrelevante Vorfälle
Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.9. - 15.11.2017) 3.995 sicherheitsrelevante Vorfälle; ein Rückgang von 4% gegenüber dem Vorjahreswert. Insgesamt wurden von 1.1.-15.11.2017 mehr als 21.105 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, was eine Erhöhung von 1% gegenüber dem Vorjahreswert andeutet. Laut UN sind mit 62% bewaffnete Zusammenstöße die Hauptursache aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs [Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen], die in 17% der sicherheitsrelevanten Vorfälle Ursache waren. Die östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von den südlichen Regionen - zusammen wurde in diesen beiden Regionen 56% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Gezielte Tötungen und Entführungen haben sich im Vergleich zum Vorjahreswert um 16% erhöht (UN GASC 20.12.2017).
Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden vom 1.1.-30.11.2017 24.917 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan registriert (Stand: Dezember 2017) (INSO o.D.).
(Grafik: Staatendokumentation gemäß Daten aus INSO o.D.)
Zivilist/innen
Im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des letzten Jahres registrierte die UNAMA zwischen 1.1. und 30.9.2017 8.019 zivile Opfer (2.640 Tote und 5.379 Verletzte). Dies deutet insgesamt einen Rückgang von fast 6% gegenüber dem Vorjahreswert an (UNAMA 10.2017); konkret hat sich die Anzahl getöteter Zivilist/innen um 1% erhöht, während sich die Zahl verletzter Zivilist/innen um 9% verringert hat (UN GASC 20.12.2017).Wenngleich Bodenoffensiven auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer waren - führte der Rückgang der Anzahl von Bodenoffensiven zu einer deutlichen Verringerung von 15% bei zivilen Opfern. Viele Zivilist/innen fielen Selbstmordattentaten, sowie komplexen Angriffen und IEDs zum Opfer - speziell in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Kandahar und Faryab (UNAMA 10.2017).
Zivile Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, sind um 37% zurückgegangen: Von insgesamt 849 waren 228 Tote und 621 Verletzte zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden, um 7%: von den 1.150 zivilen Opfer starben 225, während 895 verletzt wurden. Die restlichen Opfer konnten keiner Tätergruppe zugeschrieben werden (UNAMA 10.2017).
High-profile Angriffe:
Am 31.10.2017 sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der "Green Zone" der Hauptstadt Kabul in die Luft. Der angebliche Täter soll Quellen zufolge zwischen 12-13 Jahren alt gewesen sein. Mindestens vier Menschen starben bei dem Angriff und ein Dutzend weitere wurden verletzt. Dies war der erste Angriff in der "Green Zone" seit dem schweren Selbstmordattentat im Mai 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017). der IS bekannte sich zu diesem Vorfall Ende Oktober 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017; UN GASC 20.12.2017)
Am 20.10.2017 sprengte sich ein Angreifer in der Shia Imam Zamam Moschee in Kabul in die Luft; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017; UN GASC 20.12.2017). In dem Distrikt Solaina, in der westlichen Provinz Ghor, wurde ebenso eine Moschee angegriffen - in diesem Fall handelt es sich um eine sunnitische Moschee. Die tatsächliche Opferzahl ist umstritten: je nach Quellen sind zwischen 9 und 39 Menschen bei dem Angriff gestorben (Independent 20.10.2017; vgl. NYT 20.10.2017; al Jazeera 20.10.2017).
Am 19.10.2017 wurde im Rahmen eines landesweit koordinierten Angriffes der Taliban 58 afghanische Sicherheitskräfte getötet: ein militärisches Gelände, eine Polizeistationen und ein militärischer Stützpunkt in Kandahar wären beinahe überrannt worden (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017). Einige Tage vor diesem Angriff töteten ein Selbstmordattentäter und ein Schütze mindestens 41 Menschen, als sie ein Polizeiausbildungszentrum in der Provinzhauptstadt Gardez stürmten (Provinz Paktia) (BBC 21.10.2017). In der Woche davor wurden 14 Offiziere der Militärakademie auf dem Weg nach Hause getötet, als ein Selbstmordattentäter den Minibus in die Luft sprengte in dem sie unterwegs waren (NYT 20.10.2017). Die afghanische Armee und Polizei haben dieses Jahr schwere Verlusten aufgrund der Taliban erlitten (BBC 21.10.2017).
Am 7.11.2017 griffen als Polizisten verkleidete Personen/regierungsfeindliche Kräfte eine Fernsehstation "Shamshad TV" an; dabei wurde mindestens eine Person getötet und zwei Dutzend weitere verletzt. Die afghanischen Spezialkräfte konnten nach drei Stunden Kampf, die Angreifer überwältigen. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Guardian 7.11.2017; vgl. NYT 7.11.2017; UN GASC 20.12.2017).
Bei einem Selbstmordangriff im November 2017 wurden mindestens neun Menschen getötet und einige weitere verletzt; die Versammelten hatten einem Treffen beigewohnt, um den Gouverneur der Provinz Balkh - Atta Noor - zu unterstützen; auch hier bekannte sich der IS zu diesem Selbstmordattentat (Reuters 16.11.2017; vgl. UN GASC 20.12.2017)
Interreligiöse Angriffe
Serienartige gewalttätige Angriffe gegen religiöse Ziele, veranlassten die afghanische Regierung neue Maßnahmen zu ergreifen, um Anbetungsorte zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempeln vor Angriffen zu schützen (UN GASC 20.12.2017).
Seit 1.1.2016 wurden im Rahmen von Angriffen gegen Moscheen, Tempel und andere Anbetungsorte 737 zivile Opfer verzeichnet (242 Tote und 495 Verletzte); der Großteil von ihnen waren schiitische Muslime, die im Rahmen von Selbstmordattentaten getötet oder verletzt wurden. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017).
Im Jahr 2016 und 2017 registrierte die UN Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Seit 1.1.2016 wurden 27 gezielte Tötungen religiöser Personen registriert, wodurch 51 zivile Opfer zu beklagen waren (28 Tote und 23 Verletzte); der Großteil dieser Vorfälle wurde im Jahr 2017 verzeichnet und konnten großteils den Taliban zugeschrieben werden. Religiösen Führern ist es möglich, öffentliche Standpunkte durch ihre Predigten zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017).
ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte
Informationen zur Stärke der ANDSF und ihrer Opferzahlen werden von den US-amerikanischen Kräften in Afghanistan (USFOR-A) geheim gehalten; im Bericht des US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR) werden Schätzungen angegeben:
Die Stärke der ANDSF ist in diesem Quartal zurückgegangen; laut USFOR-A Betrug die Stärke der ANDSF mit Stand August 2017 etwa 320.000 Mann - dies deutet einen Rückgang von 9.000 Mann gegenüber dem vorhergehenden Quartal an. Dennoch erhöhte sich der Wert um
3.500 Mann gegenüber dem Vorjahr (SIGAR 30.10.2017). Die Schwundquote der afghanischen Nationalpolizei war nach wie vor ein großes Anliegen; die Polizei litt unter hohen Opferzahlen (UN GASC 20.12.2017).
Im Rahmen eines Memorandum of Understanding (MoU) zwischen dem afghanischen Verteidigungs- und Innenministerium wurde die afghanische Grenzpolizei (Afghan Border Police) und die afghanische Polizei für zivile Ordnung (Afghan National Civil Order Police) dem Verteidigungsministerium übertragen (UN GASC 20.12.2017). Um sogenanntem "Geisterpersonal" vorzubeugen, werden seit 1.1.2017 Gehälter nur noch an jenes Personal im Innen- und Verteidigungsministerium ausbezahlt, welches ordnungsgemäß registriert wurde (SIGAR 30.10.2017).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Taliban
Der UN zufolge versuchten die Taliban weiterhin von ihnen kontrolliertes Gebiet zu halten bzw. neue Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen - was zu einem massiven Ressourcenverbrauch der afghanischen Regierung führte, um den Status-Quo zu halten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive unternahmen die Taliban keine größeren Versuche, um eine der Provinzhauptstädte einzunehmen. Dennoch war es ihnen möglich kurzzeitig mehrere Distriktzentren einzunehmen (SIGAR 30.10.2017):
Die Taliban haben mehrere groß angelegte Operationen durchgeführt, um administrative Zentren einzunehmen und konnten dabei kurzzeitig den Distrikt Maruf in der Provinz Kandahar, den Distrikt Andar in Ghazni, den Distrikt Shib Koh in der Farah und den Distrikt Shahid-i Hasas in der Provinz Uruzgan überrennen. In allen Fällen gelang es den afghanischen Sicherheitskräften die Taliban zurück zu drängen - in manchen Fällen mit Hilfe von internationalen Luftangriffen. Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es, das Distriktzentrum von Ghorak in Kandahar unter ihre Kontrolle zu bringen - dieses war seit November 2016 unter Talibankontrolle (UN GASC 20.12.2017).
Im Rahmen von Sicherheitsoperationen wurden rund 30 Aufständische getötet; unter diesen befand sich - laut afghanischen Beamten - ebenso ein hochrangiger Führer des Haqqani-Netzwerkes (Tribune 24.11.2017; vgl. BS 24.11.2017). Das Haqqani-Netzwerk zählt zu den Alliierten der Taliban (Reuters 1.12.2017).
Aufständische des IS und der Taliban bekämpften sich in den Provinzen Nangarhar und Jawzjan (UN GASC 20.12.2017). Die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen ist wenig nachvollziehbar - in Einzelfällen schien es, als ob die Kämpfer der beiden Seiten miteinander kooperieren würden (Reuters 23.11.2017).
IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh
Der IS war nach wie vor widerstandsfähig und bekannte sich zu mehreren Angriff auf die zivile Bevölkerung, aber auch auf militärische Ziele [Anm.: siehe High-Profile Angriffe] (UN GASC 20.12.2017). Unklar ist, ob jene Angriffe zu denen sich der IS bekannt hatte, auch tatsächlich von der Gruppierung ausgeführt wurden bzw. ob diese in Verbindung zur Führung in Mittleren Osten stehen. Der afghanische Geheimdienst geht davon aus, dass in Wahrheit manche der Angriffe tatsächlich von den Taliban oder dem Haqqani-Netzwerk ausgeführt wurden, und sich der IS opportunistischerweise dazu bekannt hatte. Wenngleich Luftangriffe die größten IS-Hochburgen in der östlichen Provinz Nangarhar zerstörten; hielt das die Gruppierungen nicht davon ab ihre Angriffe zu verstärken (Reuters 1.12.2017).
Sicherheitsbeamte gehen davon aus, dass der Islamische Staat in neun Provinzen in Afghanistan eine Präsenz besitzt: im Osten von Nangarhar und Kunar bis in den Norden nach Jawzjan, Faryab, Badakhshan und Ghor im zentralen Westen (Reuters 23.11.2017). In einem weiteren Artikel wird festgehalten, dass der IS in zwei Distrikten der Provinz Jawzjan Fuß gefasst hat (Reuters 1.12.2017).
Politische Entwicklungen
Der Präsidentenpalast in Kabul hat den Rücktritt des langjährigen Gouverneurs der Provinz Balkh, Atta Mohammad Noor, Anfang dieser Woche bekanntgegeben. Der Präsident habe den Rücktritt akzeptiert. Es wurde auch bereits ein Nachfolger benannt (NZZ 18.12.2017). In einer öffentlichen Stellungnahme wurde Mohammad Daud bereits als Nachfolger genannt (RFE/RL 18.12.2017). Noor meldete sich zunächst nicht zu Wort (NZZ 18.12.2017).
Wenngleich der Präsidentenpalast den Abgang Noors als "Rücktritt" verlautbarte, sprach dieser selbst von einer "Entlassung" - er werde diesen Schritt bekämpfen (RFE/RL 20.12.2017). Atta Noors Partei, die Jamiat-e Islami, protestierte und sprach von einer "unverantwortlichen, hastigen Entscheidung, die sich gegen die Sicherheit und Stabilität in Afghanistan sowie gegen die Prinzipien der Einheitsregierung" richte (NZZ 18.12.2017).
Die Ablösung des mächtigen Gouverneurs der nordafghanischen Provinz Balch droht Afghanistan in eine politische Krise zu stürzen (Handelsblatt 20.12.2017). Sogar der Außenminister Salahuddin Rabbani wollte nach Angaben eines Sprechers vorzeitig von einer Griechenlandreise zurückkehren (NZZ 18.12.2017).
Atta Noor ist seit dem Jahr 2004 Gouverneur der Provinz Balkh und gilt als Gegner des Präsidenten Ashraf Ghani, der mit dem Jamiat-Politiker Abdullah Abdullah die Einheitsregierung führt (NZZ 18.12.2017). Atta Noor ist außerdem ein enger Partner der deutschen Entwicklungshilfe und des deutschen Militärs im Norden von Afghanistan (Handelsblatt 20.12.2017).
In der Provinz Balkh ist ein militärischer Stützpunkt der Bundeswehr (Handelsblatt 20.12.2017).
Quellen:
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al Jazeera (20.10.2017): Deadly attacks hit mosques in Kabul and Ghor,
http://www.aljazeera.com/news/2017/10/dozens-feared-dead-attacks-afghanistan-171020142936566.html, Zugriff 20.12.2017
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BBC (31.10.2017): Kabul Green Zone attacked by suicide bomber, http://www.bbc.com/news/world-asia-41819850, Zugriff 20.12.2017
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BBC (21.10.2017): Afghan suicide mosque attacks kill scores of worshippers, http://www.bbc.com/news/world-asia-41699320, Zugriff 20.12.2017
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BS - Business Standard (24.11.2017): Key Haqqani network leader among dozens killed in Afghanistan, http://www.business-standard.com/article/news-ani/key-haqqani-network-leader-among-dozens-killed-in-afghanistan-117112400292_1.html, Zugriff 21.12.2017
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Guardian (7.11.2017): Kabul TV station defiantly resumes broadcasting moments after Isis attack ends, https://www.theguardian.com/world/2017/nov/07/gunmen-attack-kabul-tv-station-after-explosion, Zugriff 20.12.2017