Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 26. April 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Albu als Schriftführer in der Strafsache gegen Ali Ü***** wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB, AZ 48 St 66/17z der Staatsanwaltschaft und AZ 354 HR 293/17p des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Ü***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 27. Februar 2018, AZ 17 Bs 22/18m (ON 77 der Ermittlungsakten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Ali Ü***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.
Text
Gründe:
Im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 48 St 66/17z gegen Ali Ü***** wegen des Verdachts des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB lehnte die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 22. Jänner 2018, GZ 354 HR 293/17p-54, eine weitere Fortsetzung der über den Genannten mit Beschluss dieses Gerichts vom 12. Oktober 2017 gemäß § 173 Abs 6 StPO iVm § 173 Abs 1, Abs 2 Z 1 und Z 3 lit a StPO verhängten (ON 12) und wiederholt verlängerten Untersuchungshaft (ON 28, 33 und 39) unter Anwendung gelinderer Mittel (§ 173 Abs 1 letzter Satz, Abs 5 StPO) ab und ordnete seine Enthaftung an. Dieser Entscheidung zufolge sei nicht von einem Tatverdacht in Richtung des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB, sondern vielmehr von einer
– durch gelindere Mittel substituierbaren – dringenden Verdachtslage der grob fahrlässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB auszugehen. Demnach habe Ü***** [als Wachsoldat] am Vorfallstag aus Übermut seine Waffe unerlaubt repetiert, entsichert und es dann verabsäumt, die Patrone wieder aus dem Gewehrlauf auszuwerfen, wobei er in der Folge durch Stolpern im Schlafraum unabsichtlich einen Schluss ausgelöst und [seinen Kameraden] Ismail M***** tödlich am Kopf verletzt habe (ON 54, S 6 ff).
Der dagegen gerichteten Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom 25. Jänner 2018 (ON 55) gab das Oberlandesgericht Wien mit am 27. Februar 2018 zu AZ 17 Bs 22/18m ergangenem Beschluss Folge (ON 77), hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Verhängung der Untersuchungshaft über Ü***** aus dem Grund des § 173 Abs 6 (iVm § 173 Abs 1, Abs 2 Z 3 lit a) StPO auf.
Dabei bejahte das Oberlandesgericht den dringenden und in rechtlicher Hinsicht als das Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB subsumierbaren Verdacht, Ü***** habe am 9. Oktober 2017 in Wien M***** dadurch getötet, dass er diesem mit seiner Dienstwaffe, einem Sturmgewehr StG 77, in den Kopf schoss. Die Verdachtsannahme des
Tötungsvorsatzes leitete das Beschwerdegericht aus dem objektiven Geschehen ab, wonach es zu einer Schussabgabe mit dem StG 77 grundsätzlich notwendig sei, „die Waffe zu repetieren“ und damit (vollständig, also schussbereit) zu laden, sie zu entsichern und überdies den Abzug zu betätigen, was mit dem vom Beschuldigten geschilderten zufälligen Unfallszenario nicht, sondern vielmehr mit einer bewussten Schussabgabe in Einklang zu bringen sei (BS 3 ff, 10 f). Die Einlassung des Beschuldigten lasse überdies offen, wie die Waffe – auch bei Annahme einer zufolge Herunterfallens bewirkten Durchladung – entsichert und auf welche Weise der Abzug betätigt worden sein könnte. Da nach der Aussage des Zeugen A***** der Beschuldigte ihm [einem Mithäftling] gegenüber erklärt habe, immer mit den Waffen „gespielt“ zu haben, vom Opfer gehänselt worden zu sein und in einer „Kurzschlusshandlung“ „abgedrückt“ zu haben (BS 9), sei darauf zu schließen, dass der Beschuldigte seine Dienstwaffe repetierte (ie durchlud) und mit der Sicherung spielte, in den Schlafraum ging und – mit der Waffe in Richtung des Kopfes gerichtet – den Abzug betätigte und M***** in den Kopf schoss, wobei er es zumindest ernsthaft für möglich hielt und sich damit abfand, dass sich eine Patrone im Lauf befand und er M***** durch den Schuss aus nächster Nähe tötet (BS 3, 10 f).
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen erhobene Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten (ON 91) behauptet zunächst Mängel der Sachverhaltsannahmen zum dringenden Tatverdacht, vermag aber weder Begründungsmängel aufzuzeigen, die der angefochtenen Entscheidung anhaften sollen (§ 281 Abs 1 Z 5 StPO), noch Aktenbestandteile zu benennen, die erhebliche Bedenken gegen die Annahme jener Tatsachen erwecken könnten, die dem dringenden Verdacht – also dem angenommenen höheren Grad der Wahrscheinlichkeit der Tatverübung (RIS-Justiz RS0040284 [T1, T2]) – zu Grunde liegen (§ 281 Abs 1 Z 5a StPO).
Die unter dem Aspekt unzureichender Begründung (Z 5 vierter Fall) vorgetragene Kritik, das Beschwerdegericht verweise „bloß undifferenziert auf verschiedene und teils widersprüchliche Zeugenaussagen“, lässt keinen konkreten Konnex zu einer bestimmten – davon vermeintlich betroffenen – Verdachtsannahme erkennen (vgl RIS-Justiz RS0106268).
Dass das Oberlandesgericht auf Basis des Privatgutachtens der Versuchsanstalt für Materialprüfung, Sicherheits- und Waffentechnik der höheren technischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt Ferlach (ON 30) die Möglichkeit einer Durchladung der Waffe durch Herunterfallen grundsätzlich bejahte (BS 5), aber weiters erwog, dass den „die technische Möglichkeit bejahenden“ Depositionen des Zeugen N***** die Aussage „des erfahrenen Berufssoldaten und Offiziers“ Mag. (FH) Gerhard Z***** (vgl ON 21 S 37) entgegenstehe, stellt keine Scheinbegründung (Z 5 vierter Fall), sondern eine Abwägung einzelner Beweisresultate dar, die keinen Anfechtungsgegenstand der Z 5 bildet (RIS-Justiz RS0118317 [T2 und T3]; RS0119370). Auch unter Hinweis auf die (demnach berücksichtigte; vgl BS 5) Schilderung des Zeugen N*****, wonach der Beschuldigte ihm gegenüber ein Zu-Boden-Fallen der Waffe bestätigt habe (ON 8 S 129), wird kein Begründungsdefizit aufgezeigt.
Die Gewichtung der Aussage des Zeugen A***** als Belastungsmoment (BS 8 f) und die Einstufung der Verantwortung des Beschuldigten als „lebensfremd“, „unplausibel“ und „mit den übrigen Beweisergebnissen und den Tatörtlichkeiten nicht in Einklang zu bringen“ (BS 6) sind einer Anfechtung mittels Mängelrüge ebenfalls nicht zugänglich (RIS-Justiz RS0106588 [T3, T4, T6]); die darauf bezogenen Ausführungen ziehen nur die – aus einer Gesamtwürdigung der Ergebnisse der Tatrekonstruktion, der Spurenlage am Tatort, der fehlenden Erklärung des Beschuldigten für die Betätigung des Abzugs der vorher etnsicherten Waffe sowie der Angaben des Zeugen A***** gezogenen – (vorläufigen) Schlüsse des Beschwerdegerichts in Zweifel (RIS-Justiz RS0099455; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 449 ff) und versuchen unter Hinweis auf die Schilderung des Zeugen Daniel S*****, wonach er den Beschuldigten zweimal den Namen des Opfers aussprechen, aber kein Ladegeräusch gehört habe (vgl ON 8 S 93, ON 64 S 4 ff), bloß andere, für den Beschwerdeführer günstigere Schlüsse plausibel zu machen.
Die Behauptung, ein „aus Spaß erfolgtes Repetieren“ und „Spielen mit der Sicherung der Waffe“ stelle „geradezu typischerweise den Sachverhalt eines Fahrlässigkeitsdelikts“ her, übergeht die Erwägungen des Beschwerdegerichts zur (ebenfalls erforderlichen) Betätigung des Abzugs der Waffe (BS 4, 10 f) und verfehlt damit den in der Gesamtheit der äußeren Umstände gelegenen Bezugspunkt der Fundierung der subjektiven Tatseite (RIS-Justiz RS0119370, RS0098671, RS0116882).
Es bildet keinen Widerspruch (Z 5 dritter Fall), dass das Oberlandesgericht dem Beschuldigten die Möglichkeit einer „dissoziativen Amnesie“ zugestand (BS 8), dessen Verantwortung aber als den jeweiligen weiteren Ermittlungsergebnissen „situativ angepasst“ (BS 11 f) und daher als nicht überzeugend einstufte. Darauf bezogene Überlegungen (insbesondere zur Aussagekraft des psychiatrischen Sachverständigengutachtens [BS 8] und zum Beweiswert der Einlassung des Beschuldigten [BS 11 f]) sprechen kein aus der Z 5 beachtliches Defizit an (RIS-Justiz RS0106588 [T3, T4]).
Kritikpunkte des Inhalts, das Beschwerdegericht habe bestimmte Themenkomplexe – nämlich das freundschaftliche Verhältnis zwischen Beschuldigtem und Opfer, die bislang offen gebliebene Motivlage (vgl aber: BS 11), den „psychisch desolaten Zustand“ des Beschuldigten nach dem Vorfall sowie den (nicht durch Angabe der Fundstelle im Akt konkretisierten; vgl RIS-Justiz RS0124172) Umstand einer versuchten Kontaktaufnahme der Verteidigerin des Zeugen A***** (der eine zuvor zum Selbstschutz verlangte Verlegung in eine andere Justizanstalt wegen der Mitverlegung eines weiteren Häftlings schließlich ablehnte) mit dem Beschuldigten – nicht (hinreichend) behandelt, bleiben unter dem Blickwinkel des § 281 Abs 1 Z 5 zweiter Fall StPO ohne Belang (RIS-Justiz RS0099575 [T5]). Die insofern vorgebrachten Einwände stellen nur erneut die vorläufige Beweiswürdigung (insbesondere den der Aussage des Zeugen A***** zuerkannten Beweiswert) durch das Oberlandesgericht in Frage (RIS-Justiz RS0106588 [T3]).
Welche konkreten Verfahrensresultate auf die „von der Staatsanwaltschaft selbst als wahrscheinlich angesehene Möglichkeit“ eines „Klickspiels“ hinweisen sollten, bleibt hier ebenfalls offen (RIS-Justiz RS0124172 [T4]).
Soweit die Beschwerde unter dem Aspekt des § 281 Abs 1 Z 5a StPO vorbringt, die vom Beschuldigten geschilderte Unfallversion werde „von mehreren Beweisergebnissen gestützt“, gelingt es ihr nicht, erhebliche Bedenken (RIS-Justiz RS0119583) gegen die Richtigkeit des (vorläufigen) Ausspruchs über entscheidende Tatsachen zu wecken; vielmehr erschöpft sich das darauf bezogene Vorbringen in umfangreichen, überwiegend auf eigene Einschätzungen gestützte Überlegungen zum Beweiswert der Aussagen der Zeugen S*****, N*****, Mag. (FH) Z***** und A***** sowie des bereits erwähnten Privatgutachtens (BS 4 ff) und unternimmt – mit dem abermaligen Hinweis auf ein zwischen Täter und Opfer bestehendes Freundschaftsverhältnis, die psychische Ausnahmesituation des Beschuldigten nach der Tat und die unklare Motivlage – nur den Versuch, im Rahmen der Prüfung der Grundrechtsbeschwerde der freien richterlichen Beweiswürdigung in einem allfälligen Erkenntnisverfahren vorzugreifen. Die abschließende Lösung hier aufgeworfener Beweisfragen hat aber nicht im Verfahren zur Entscheidung über die Haft, sondern durch das in der Hauptverhandlung erkennende Gericht zu erfolgen.
Dass eine unterbliebene Beweiserhebung (hier: durch Vernehmung des „vom Zeugen A***** erwähnten Mithäftlings Samir O***** als Zeugen“) zu einer Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) geführt hätte, macht die Grundrechtsbeschwerde nicht geltend (§ 3 Abs 1 GRBG).
Soweit sich die Beschwerde gegen die rechtliche Beurteilung des dringenden Tatverdachts wendet (§ 281 Abs 1 Z 10 StPO), macht sie nicht klar (Kier in StGB² GRBG § 2 Rz 26 ff [32 ff]), weshalb die vom Oberlandesgericht angenommene Verdachtslage die Subsumtion in Richtung des (Tötungsabsicht nicht erfordernden) Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB nicht tragen sollte (RIS-Justiz RS0099810). Das darauf bezogene Vorbringen, das eine rechtliche Beurteilung des Geschehens als das Vergehen der grob fahrlässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB anstrebt, bestreitet nur die zum Tötungsvorsatz getroffenen, bereits wiedergegebenen Verdachtsannahmen (BS 3 und 10 f) und ist somit prozessual verfehlt.
Die Grundrechtsbeschwerde war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur abzuweisen.
Textnummer
E121302European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:0110OS00041.18S.0426.000Im RIS seit
07.05.2018Zuletzt aktualisiert am
07.05.2018