TE Bvwg Erkenntnis 2018/4/25 W107 2164236-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.04.2018
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

25.04.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.130 Abs1 Z3
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §8 Abs1

Spruch

W107 2164236-1/12E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 20.03.2018 MÜNDLICH VERKÜNDETEN

ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Sibyll Andrea BÖCK als Einzelrichterin nach Übergang der Entscheidungspflicht auf das Bundesverwaltungsgericht in Folge einer Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht (Säumnisbeschwerde) im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Zl. XXXX , über den am 30.06.2015 gestellten Antrag auf internationalen Schutz von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.03.2018 zu Recht erkannt:

A)

Dem Antrag auf internationalen Schutz vom 30.06.2015 wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine afghanische Staatsangehörige, reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann (BF zu W107 2164235-1) und ihren minderjährigen Kindern (BF zu W107 2164239-1 und zu W107 2164230-1) illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 30.06.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen ihrer Erstbefragung am 01.07.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari als Fluchtgrund zusammengefasst an, dass sie aufgrund einer Feindschaft zu ihrem Vater gezwungen gewesen seien, das Land zu verlassen. Die Tochter der BF sei misshandelt und ihre Zähne seien ausgeschlagen worden. Aus Angst um das Leben der Familie habe ihr Ehemann beschlossen, dass alle das Land verlassen.

3. Mit Schriftsatz vom 30.06.2017, eingebracht am 03.07.2017, erhob der (damalige) rechtsfreundliche Vertreter der BF Säumnisbeschwerde beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) und machte die Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG iVm §§ 8 und 9 VwGVG geltend.

4. Mit Datum vom 13.07.2017 legte das BFA die Säumnisbeschwerde und den Akt des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht vor. Betreffend die monierte Verfahrensdauer gab das BFA an, dass nach individueller Prüfung des Aktes eine Erledigung nicht fristgerecht erfolgen könne.

5. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.08.2017 wurde das BFA gemäß § 19 Abs. 6 AsylG 2005 mit der Einvernahme der BF binnen vier Wochen beauftragt.

6. Am 15.09.2017 wurde die BF vor dem BFA im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen. Hier legte sie auf das Wesentliche zusammengefasst dar, dass sie aus der Provinz Herat, XXXX , stamme und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der schiitischen Religionsgemeinschaft angehöre. Sie habe nie eine Schule besucht, sondern sei immer Hausfrau und Landwirtin gewesen. Befragt nach ihrem Fluchtgrund gab die BF an, dass sie im Alter von dreizehn Jahren einen Heiratsantrag von fremden Männern bekommen habe. Ihr Vater habe den Antrag abgelehnt und er sei deshalb umgebracht worden. Am 02.02.2015 seien dieselben Männer wieder gekommen und hätten die Tochter der BF mitnehmen wollen. Da sich die BF gewehrt habe, seien diese Männer auf die BF und ihre Tochter losgegangen und hätten gedroht, ihre Tochter zu köpfen. Die BF habe zudem große Angst gehabt, da ihre Cousine am Schulweg vergewaltigt worden sei. Sie als Mutter wolle selbst für die Erziehung ihrer Tochter zuständig sein und diese selbst entscheiden lassen. Sie fürchte um ihr Leben und das ihrer Familie, daher seien sie geflüchtet.

7. Am 20.03.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprachen Dari und im Beisein des ausgewiesenen Vertreters der BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die BF als Partei teilnahm und ausführlich zu ihren Beweggründen hinsichtlich der Ausreise aus Afghanistan befragt wurde. Das Verfahren der BF wurde mit jenem ihres Ehemannes (W107 2164235-1) und der (mittlerweile) drei Kinder (und Entscheidung verbunden. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

Die Entscheidung wurde gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG samt den wesentlichen Entscheidungsgründen und erteilter Rechtsmittelbelehrung mündlich verkündet.

8. Mit Eingabe vom 23.03.2018 ersuchte das BFA um schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person der BF, ihren Fluchtgründen und ihrem Leben in Österreich:

Die BF führt den Namen XXXX , ist volljährig, Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der schiitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Sie spricht Dari, Farsi und Deutsch.

Die BF wurde in der Provinz Herat, Distrikt XXXX , XXXX , im Dorf XXXX , geboren und verbrachte dort ihr gesamtes Leben bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan. Die BF besuchte in Afghanistan keine Schule und erhielt in Afghanistan keine Berufsausbildung. Sie war in Afghanistan als Hausfrau tätig und half ihrer Familie in der eigenen Landwirtschaft.

Im Jahr 2015 verließ die BF Afghanistan gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren zwei minderjährigen Kindern.

Die BF ist mit XXXX (W107 2164235-1) verheiratet. Die Ehe wurde in Afghanistan traditionell vor einem Mullah geschlossen. Der Ehe entstammen die in Afghanistan am XXXX geborene minderjährige Tochter XXXX (W107 2164239-1), der in Afghanistan am XXXX geborene minderjährige Sohn XXXX (W107 2164230-1) und der in Österreich am XXXX geborene minderjährige Sohn XXXX (W107 2164232-1; Beilage ./1). Die BF ist derzeit mit ihrem vierten Kind schwanger (Beilage ./2).

Die BF ist eine auf Eigenständigkeit bedachte, selbstständige Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten, Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie hat seit ihrer Einreise nach Österreich im Juni 2015 eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden ist.

Die BF will in Zukunft selbst berufstätig sein. Sie beabsichtigt, nach der Geburt ihres Kindes in Österreich einer Arbeit nachzugehen, die ihr eine berufliche und finanzielle Selbstständigkeit ermöglicht. Bevorzugt möchte sie einen sozialen Beruf ausüben und beispielsweise in einem Kindergarten oder in einem Krankenhaus arbeiten, würde jedoch auch einen anderen Beruf ausüben, um ihr Ziel des eigenen Geldverdienens zu verwirklichen. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen.

Die BF nahm in Österreich von November 2016 bis Februar 2017 sowie von November 2017 bis Februar 2018 an der Bildungsveranstaltung "Alpha Teil 1" und "Alpha Teil 2" sowie an dem Deutschkurs "von Frauen für Frauen" teil und kann sich bereits sehr gut auf Deutsch verständigen. Der BF wurde aufgrund ihrer derzeitigen Schwangerschaft und der hierbei festgestellten vorzeitigen Wehentätigkeit weitestgehende Schonung verordnet (Beilage ./2), sodass ihr aktuell der Besuch ihrer Kursstätte nicht möglich ist. Nach der Geburt wird die BF mit ihrem Sprachkurs fortfahren.

In Österreich kleidet, frisiert und schminkt sich die BF nach westlicher Mode. Ihr Kopftuch hat sie bereits vor rund neun Monaten abgelegt. Sie organisiert ihren Alltag in Österreich selbstständig, fährt alleine mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, geht alleine Einkaufen und zur Schule ihrer Kinder. Sie besitzt ein Handy, welches sie sich selbst finanziert hat und nach ihrer freien Entscheidung verwendet.

Die BF ist bestrebt, auch ihren Kindern in Österreich den Zugang zu Bildung ermöglichen. Die Tochter der BF besucht in Österreich eine Neue Mittelschule, nimmt allein an sämtlichen schulischen Aktivitäten teil und geht im Sommer gerne schwimmen, wobei sie einen normalen Badeanzug trägt. Ihre Tochter soll unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis in ihrer Partnerwahl freigestellt sein. Der ältere Sohn der BF besucht die Volksschule, spielt in einem Fußballclub und ist bei der freiwilligen Feuerwehr. Im Alltag und bezüglich der Erziehung ihres Kindes trifft die BF ihrer Entscheidungen gemeinsam mit ihrem Ehemann. Die Erziehung der Kinder teilen sich die BF und ihr Ehemann gleichberechtigt auf.

Die BF lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan vehement ab und ist nicht gewillt, nach dem konservativ-afghanischen Wertebild zu leben bzw. wieder leben zu müssen, wobei auch ihr in Österreich aufhältiger Gatte ihr "westliches" Leben nachhaltig unterstützt. Vor diesem Hintergrund würde die BF im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden, weshalb der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung droht.

Die BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat der BF:

Die Länderberichte zur aktuellen Beurteilung der entscheidungswesentlichen Situation in Afghanistan wurden in das Verfahren eingeführt und der BF zur Kenntnis gebracht. Bezogen auf die Situation der BF sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert per 30.01.2018):

1.2.1. Frauen in Afghanistan:

Jahrzehntelanger Kampf gegen patriarchale und frauenfeindliche Normen, führte zu einer Sensibilisierung in Bezug auf Frauen und ihrer Rechte. Allmählich entwickelt sich die Rolle von Frauen in politischen und wirtschaftlichen Bereichen (AF 7.12.2016). Die Situation der Frauen hat sich seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert; die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft bleibt schwierig. Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016).

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (Max Planck Institut 27.1.2004). Ein Meilenstein in dieser Hinsicht war die Errichtung des afghanischen Ministeriums für Frauenangelegenheiten (MoWA) im Jahr 2001 (BFA Staatendokumentation 3.2014).

1.2.1.1.Bildung

Afghanistan ist eine Erfolgsgeschichte in der Verbesserung des Zugangs zu Bildung - auch für Mädchen (Education for Development 7.7.2015). Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.2014).

Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben. Laut Artikel 4 des afghanischen Bildungsgesetzes ist mittlere (elementare) Bildung in Afghanistan verpflichtend. Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben (SIGAR 4.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004).

Seit dem Jahr 2000 hat sich die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Schule besuchen von 2,5 Jahren auf 9,3 Jahre erhöht (AF 2015). Das afghanische Bildungsministerium errichtete gemeinsam mit USAID und anderen Gebern, mehr als 16.000 Schulen; rekrutierte und bildete mehr als 154.000 Lehrerinnen und Lehrer aus, und erhöhte die Zahl der Schuleinschreibungen um mehr als 60%. Das Bildungsministerium gibt die Zahl der Schüler/innen mit ca. 9 Millionen an, davon sind etwa 40% Mädchen. Frauen und Mädchen gehen öfter zu Schule wenn sie keine langen Distanzen zurücklegen müssen. USAID hat 84.000 afghanische Mädchen dabei unterstützt Schulen innerhalb ihrer Gemeinden besuchen zu können, damit sich nicht durch teilweise gefährliche Gegenden pendeln müssen (USAID 19.12.2016).

Laut dem afghanischen Statistikbüro, gab es landesweit 15.645 Schulen, 9.184.494 Schüler/innen, davon waren 362.906 weiblich. Diese Zahlen beinhalten alle Schultypen, dazu zählen Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren, etc. Die Zahl der Schülerinnen hat sich im Zeitraum 2015-2016 zum Vergleichszeitraum 2014 - 2015 um 2,2% erhöht. Die Gesamtzahl der Lehrer/innen betrug 199.509, davon waren

63.911 Frauen (CSO 2016).

Frauenuniversität in Kabul

Seit dem Jahr 2008 hat sich die Studierendenzahl in Afghanistan um 50% erhöht. Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (The Economist 13.8.2016; vgl. auch:

MORAA 31.5.2016).

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (Khaama Press 18.10.2015; vgl. auch:

University Herold 18.10.2015); im ersten Lehrgang waren 28 Student/innen eingeschrieben, wovon 10 Männer waren (University Herold 18.10.2015).

1.2.1.2. Berufstätigkeit

Für viele Frauen ist es noch immer sehr schwierig, außerhalb des Bildungs- und Gesundheitssektors Berufe zu ergreifen. Einflussreiche Positionen werden abhängig von Beziehungen und Vermögen vergeben (AA 9.2016). Oft scheitern Frauen schon an den schwierigen Transportmöglichkeiten und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung (AA 9.2016; vgl. auch: USDOS 13.4.2016).

Bemerkenswert ist die Steigerung jener Afghan/innen, die der Meinung sind, Frauen sollen sich bilden und außerhalb des Heimes arbeiten dürfen. Bei einer Befragung gaben 81% der Befragten an, Männer und Frauen sollten gleiche Bildungschancen haben (The Diplomat 9.12.2016; vgl. auch: AF 7.12.2016).

Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig verbessert und betrug im Jahr 2016 19%. Rund 64% der Afghan/innen befürworteten Frauen außerhalb ihres Heimes arbeiten zu dürfen. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen: Einschränkungen, Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UN Women 2016). Die Alpahbetisierungsrate bei Frauen in Afghanistan liegt durchschnittlich bei 17%, in manchen Provinzen sogar unter 2% (UN Women 2016; vgl. auch: UNESCO Institute for statistics o.D.). In der Altersklasse der 15 - 24 jährigen betrug die Alphabetisierungsrate im Jahr 2015 bei Frauen 46,11%, bei den über 65-jährigen 4,33% (UNESCO Institute for statistics o.D.).

Viele Frauen haben sich in bedeutenden Positionen in den verschiedenen Bereichen von nationaler Wichtigkeit entwickelt, dazu zählen Politik, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft. Der Raum für weibliche Führungskräfte bleibt eingeschränkt, von Gebern abhängig und ist hauptsächlich in den Städten vertreten. Frauen sind im Privatsektor unterrepräsentiert und haben keine aktive Rolle in der Wirtschaftsproduktion. Unsicherheit, Belästigung, Immobilität, religiöser Extremismus und Korruption sind verbreitet. Begriffe wie zum Beispiel Geschlechtergleichstellung werden weiterhin missverstanden. Frauen in Führungspositionen werden als symbolisch betrachtet, werden politisch mangelhaft unterstützt, haben schwach ausgebildete Entscheidungs- und Durchsetzungskompetenzen und mangelnden Zugang zu personellen und finanziellen Mitteln (USIP 9.2015). Frauen sind im Arbeitsleben mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert, etwa Verwandte, die verlangen sie sollen zu Hause bleiben; oder Einstellungsverfahren, die Männer bevorzugten. Jene die arbeiteten, berichteten von sexueller Belästigung, fehlenden Transport- und Kinderbetreuungsmöglichkeiten; Benachteiligungen bei Lohnauszahlungen existieren im Privatsektor. Journalistinnen, Sozialarbeiterinnen und Polizistinnen berichteten von, Drohungen und Misshandlungen (USDOS 13.4.2016).

Frauen machen 30% der Medienmitarbeiter/innen aus. Teilweise leiten Frauen landesweit Radiostationen - manche Radiostationen setzten sich ausschließlich mit Frauenangelegenheiten auseinander. Nichtsdestotrotz, finden Reporterinnen es schwierig ihren Job auszuüben. Unsicherheit, fehlende Ausbildung und unsichere Arbeitsbedingungen schränken die Teilhabe von Frauen in den Medien weiterhin ein (USDOS 13.4.2016).

Frauen im öffentlichen Dienst

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. auch: USDOS 13.4.2016). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Die von Präsident Ghani bewirkten Wahlreformen sehen zudem Frauenquoten von 25% der Sitze für Provinz- und Distriktratswahlen vor; zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Independent Election Commission) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung hat derzeit vier Ministerinnen (von insgesamt 25 Ministern) (AA 9.2016). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UN Women 2016). Frauen in hochrangigen Regierungspositionen waren weiterhin Opfer von Drohungen und Gewalt (USDOS 13.4.2016).

Das Netzwerk von Frauenrechtsaktivistinnen "Afghan Women's Network" berichtet von Behinderungen der Arbeit seiner Mitglieder bis hin zu Bedrohungen und Übergriffen, teilweise von sehr konservativen und religiösen Kreisen (AA 9.2016).

Frauen in den afghanischen Sicherheitskräften

Polizei und Militär sind Bereiche, in denen die Arbeit von Frauen besonders die traditionellen Geschlechterrollen Afghanistans herausfordert. Der Fall des Taliban-Regimes brachte, wenn auch geringer als zu Beginn erwartet, wesentliche Änderungen für Frauen mit sich. So begannen Frauen etwa wieder zu arbeiten (BFA Staatendokumentation 26.3.2014). Im Jahr 2016 haben mehr Frauen denn je die Militärschule und die Polizeiakademie absolviert (AF 7.12.2016). Das Innenministerium bemüht sich um die Einstellung von mehr Polizistinnen, allerdings wird gerade im Sicherheitssektor immer wieder über Gewalt gegen Frauen berichtet. Die afghanische Regierung hat sich bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen ehrgeizige Ziele gesetzt und plant u.a. in der ersten Jahreshälfte 2016 ein Anti-Diskriminierungspaket für Frauen im öffentlichen Sektor zu verabschieden. Dieses ist allerdings bisher noch nicht geschehen (AA 9.2016). 2.834 Polizistinnen sind derzeit bei der Polizei, dies beinhaltete auch jene die in Ausbildung sind (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: Sputnik News 14.6.2016). Laut Verteidigungsministerium werden derzeit 400 Frauen in unterschiedlichen Bereichen des Verteidigungsministeriums ausgebildet: 30 sind in der nationalen Militärakademie, 62 in der Offiziersakademie der ANA, 143 in der Malalai Militärschule und 109 Rekrutinnen absolvieren ein Training in der Türkei (Tolonews 28.1.2017).

Im Allgemeinen verbessert sich die Situation der Frauen innerhalb der Sicherheitskräfte, bleibt aber weiterhin fragil. Der Schutz von Frauenrechten hat in größeren städtischen Gegenden, wie Kabul, Mazar-e Sharif und in der Provinz Herat, moderate Fortschritte gemacht; viele ländliche Gegenden sind extrem konservativ und sind aktiv gegen Initiativen, die den Status der Frau innerhalb der Gesellschaft verändern könnte (USDOD 6.2016).

Auch wenn die Regierung Fortschritte machte, indem sie zusätzliche Polizistinnen rekrutierte, erschweren kulturelle Normen und Diskriminierung die Rekrutierung und den Verbleib in der Polizei (USDOS 13.4.2016).

Teilnahmeprogramme für Frauen in den Sicherheitskräften

Initiiert wurde ein umfassendes Programm zur Popularisierung des Polizeidienstes für Frauen (SIGAR 30.7.2016; vgl. auch: Sputnik News 5.12.2016). Dies Programm fördert in verschiedenster Weise Möglichkeiten zur Steigerung der Frauenrate innerhalb der ANDSF (SIGAR 30.7.2016). Das afghanische Innenministerium gewährte im Vorjahr 5.000 Stellen für Frauen bei der Polizei, diese Stellen sind fast alle noch immer vakant (Sputnik News 5.12.2016; vgl. auch:

SIGAR 30.7.2016). Eines der größten Probleme ist, dass sowohl junge Mädchen als auch Ehefrauen in ihren Familien nichts selbständig entscheiden dürften (Sputnik News 5.12.2016). Die afghanische Nationalpolizei schuf zusätzlich neue Posten für Frauen - womit sich deren Zahl auf 5.969 erhöhte; 5.024 dieser Posten sind innerhalb der afghanischen Nationalpolizei, 175 in Gefängnissen und Haftanstalten, sowie 770 zivile Positionen (SIGAR 30.7.2016). Im Juni 2016 verlautbarten die Behörden in Kabul, bis März 2017 die Polizei mit 10.000 neuen Stellen für weibliche Polizeikräfte aufzustocken. Die Behörden möchten der steigenden Gewalt gegen Frauen in Afghanistan entgegentreten und effektiver gegen die Terrorbedrohung und den Drogenhandel im Land vorgehen (Sputnik News 14.6.2016).

Seit fast einem Jahrzehnt schaffen afghanische Behörden massiv Arbeitsstellen für Frauen bei der Polizei und versuchen alljährlich den Frauenanteil zu erhöhen. Das dient vor allem dazu, den Afghaninnen Schutz zu gewähren. Wenn Verdächtigte und mutmaßliche Verbrecher Frauen seien, werden Polizistinnen bevorzugt. Allerdings haben Beamtinnen wegen ihres Polizeidienstes öfter Probleme mit ihren konservativen Verwandten (Sputnik News 14.6.2016). Im Arbeitskontext sind Frauen von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen: so sind z. B. Polizistinnen massiven Belästigungen und auch Gewalttaten durch Arbeitskollegen oder im direkten Umfeld ausgesetzt (AA 9.2016; vgl. auch: Sputnik News 14.6.2016).

1.2.1.3. Strafverfolgung und Unterstützung

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 9.2016). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten, und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 9.2016; vgl. USDOS 13.4.2016). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen und nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016)

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 9.2016). Gleichzeitig führt aber eine erhöhte Sensibilisierung auf Seiten der afghanischen Polizei und Justiz zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen, hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016; vgl. auch: USDOS 13.4.2016). In der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans trauen sich Frauen selbst oftmals nicht, an Polizisten zu wenden (Sputnik News 14.6.2016).

Anlässlich des dritten "Symposium on Afghan Women's Empowerment" im Mai 2016 in Kabul bekräftigte die afghanische Regierung auf höchster Ebene den Willen zur weiteren Umsetzung. Inwieweit sich dies in das System an sich und bis in die Provinzen fortsetzt, ist zumindest fraglich (AA 9.2016).

Das EVAW-Gesetz wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: AA 9.2016; UN Women 2016); und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt. Dennoch ist eine Verabschiedung des EVAW-Gesetzes durch beide Parlamentskammern noch ausständig und birgt die Gefahr, dass die Inhalte verwässert werden (AA 9.2016). Das Gesetz kriminalisiert Gewalt gegen Frauen, inklusive Vergewaltigung, Körperverletzung, Zwangsverheiratung bzw. Kinderheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug des Erbes, jedoch war die Umsetzung eingeschränkt. Im Falle von Vergewaltigung sieht das Gesetz eine Haftstrafe von 16-20 Jahren vor. Sollte die Vergewaltigung mit dem Tod eines Opfers enden, sieht das Gesetz die Todesstrafe für den Täter vor. Der Straftatbestand der Vergewaltigung beinhaltet nicht Vergewaltigung in der Ehe. Das Gesetz wurde nicht weitgehend verstanden und manche öffentliche und religiöse Gemeinschaften erachteten das Gesetz als unislamisch. Der politische Wille das Gesetz umzusetzen und seine tatsächliche Anwendung ist begrenzt (USDOS 13.4.2016). Außerhalb der Städte wird das EVAW-Gesetz weiterhin nur unzureichend umgesetzt (AA 9.2016). Laut Angaben von Human Rights Watch, verabsäumte die Regierung Verbesserungen des EVAW-Gesetzes durchzusetzen. Die Regierung verabsäumt ebenso die Verurteilung sogenannter Moral-Verbrechen zu stoppen, bei denen Frauen, die häuslicher Gewalt und Zwangsehen entfliehen, zu Haftstrafen verurteilt werden (HRW 27.1.2016). Die Regierung registrierte 5.406 Fälle von Gewalt an Frauen, 3.715 davon wurden unter dem EVAW-Gesetz eingebracht (USDOS 13.4.2016). Einem UNAMA-Bericht zufolge, werden 65% der Fälle, die unter dem EVAW-Gesetz eingebracht werden (tätlicher Angriff und andere schwerwiegende Misshandlungen) durch Mediation gelöst, während 5% strafrechtlich verfolgt werden (HRW 27.1.2016).

Die erste EVAW-Einheit (Law on the Elimination of Violence Against Women) wurde im Jahre 2010 durch die afghanische Generalstaatsanwaltschaft initiiert und hat ihren Sitz in Kabul (USDOS 13.4.2016). Die Generalstaatsanwaltschaft erhöhte weiterhin die Anzahl der EVAW-Einheiten. Mit Stand September 2015 existieren sie mittlerweile in 20 Provinzen. In anderen Provinzen wurde Staatsanwälten durch die Generalstaatsanwaltschaft Fälle zur Behandlung zugeteilt. Im März hielt das Büro der Generalstaatsanwaltschaft das erste nationale Treffen von EVAW-Staatsanwälten ab, um die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen EVAW-Einheiten in den Provinzen zu fördern und gemeinsame Probleme zu identifizieren (USDOS 13.4.2016). Ein im April veröffentlichter Bericht der UNAMA zu Erfahrungen von 110 rechtssuchenden Frauen im Justizsystem; zeigte, dass sich die Effektivität der Einheiten stark unterschied, diese aber dennoch Frauen, die Gewalt erlebt hatten, ermutigten ihre Fälle zu verfolgen (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: UNAMA 4.2015).

Der UN-Sonderberichterstatter zu Gewalt an Frauen berichtet von Frauen in Afghanistan, die das formelle Justizsystem als unzugänglich und korrupt bezeichnen; speziell dann wenn es um Angelegenheiten geht, die die Rechte von Frauen betreffen - sie bevorzugen daher die Mediation (USDOS 13.4.2016).

Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission - AIHRC), veröffentlichte einen Bericht, der 92 Ehrenmorde auflistete (Berichtszeitraum: März 2014 - März 2015), was eine Reduzierung von 13% gegenüber dem Vorjahr andeutete. Diesem Bericht zufolge wurden auch 67% der Täterbei Vergewaltigung oder Ehrenmord verhaftet; 60% wurden verurteilt und bestraft (USDOS 13.4.2016).

Wenn Justizbehörden das EVAW-Gesetz beachten, war es Frauen in manchen Fällen möglich angemessene Hilfe zu erhalten. Staatsanwält/innen und Richter/innen in abgelegenen Provinzen ist das EVAW-Gesetz oft unbekannt, andere werden durch die Gemeinschaft unter Druck gesetzt um Täter freizulassen. Berichten zufolge, geben Männer, die der Vergewaltigung bezichtigt werden, oft an, das Opfer hätte dem Geschlechtsverkehr zugestimmt, was zu "Zina"-Anklagen gegen die Opfer führt (USDOS 13.4.2016).

Im Juni 2015 hat die afghanische Regierung den Nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der VN-SR-Resolution 1325 auf den Weg gebracht (AA 9.2016; vgl. auch: HRW 12.1.2017). Dennoch war bis November 2016 kein finales Budget für den Umsetzungsplan aufgestellt worden (HRW 12.1.2017).

1.2.1.4. Gewalt an Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord (AA 9.2016). In den ersten acht Monaten des Jahres 2016 dokumentierte die AIHRC 2.621 Fälle häuslicher Gewalt - in etwa dieselbe Zahl wie im Jahr 2015; obwohl angenommen wird, die eigentliche Zahl sei viel höher (HRW 12.1.2017). Die AIHRC berichtet von mehr als 4.250 Fällen von Gewalt an Frauen, die in den ersten neun Monaten des afghanischen Jahres (beginnend März 2015) gemeldet wurden (USDOS 13.4.2016). Diese Fälle beinhalten unterschiedliche Formen von Gewalt: physische, psychische, verbale, sexuelle und wirtschaftliche. In den ersten sechs Monaten des Berichtszeitraumes wurden 190 Frauen und Mädchen getötet; in 51 Fällen wurde der Täter verhaftet (Khaama Press 23.3.2016).

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der zina gewertet) (AA 9.2016).

Ehrenmorde

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 2.7.2014). Mädchen unter 18 Jahren sind auch weiterhin dem Risiko eines Ehrenmordes ausgesetzt, wenn eine außereheliche sexuelle Beziehung angenommen wird, wenn sie vor Zwangsverheiratung davonlaufen oder Opfer eines sexuellen Übergriffs werden. Die AIHRC gab bekannt, zwischen März 2014 und März 2015 92 Ehrenmorde registriert zu haben (USDOS 13.4.2016).

Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist Misstrauen in das juristische System durch einen Großteil der afghanischen Bevölkerung (Khaama Press 23.3.2016).

1.2.1.5. Legales Heiratsalter:

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (Girls not brides 2016). Ein Mädchen, welches jünger als 16 Jahre ist, kann mit der Zustimmung eines Vormunds oder eines zuständigen Gerichtes heiraten. Die Vermählung von Mädchen unter 15 Jahren ist auch weiterhin üblich (USDOS 13.4.2016). Die UN und HRW schätzen die Zahl der Zwangsehen auf 70% (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: AA 9.2016).

In Fällen von Gewalt oder unmenschlicher traditioneller Praktiken laufen Frauen oft von zu Hause weg, oder verbrennen sich sogar selbst (USDOS 13.4.2016). Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (AA 9.2016).

1.2.1.6. Frauenhäuser:

USDOS zählt 28 formelle Frauenhäuser- um einige Frauen vor Gewalt durch die Familien zu schützen, nahmen die Behörden diese in Schutzhaft. Die Behörden wandten die Schutzhaft auch dann an, wenn es keinen Platz in Frauenhäusern gab (USDOS 13.4.2016).

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre. Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden (AA 9.2016).

Die Schwierigkeit für eine nachhaltige Lösung für Frauen, war der soziale Vorbehalt gegen Frauenhäuser, nämlich der Glaube, das "Weglaufen von zu Hause" sei eine ernsthafte Zuwiderhandlung gegen gesellschaftliche Sitten. Frauen, die vergewaltigt wurden, wurden von der Gesellschaft als Ehebrecherinnen angesehen (USDOS 13.4.2016).

Berichten zufolge, würde das MoWA, aber auch NGOs, versuchen Ehen für Frauen zu arrangieren, die nicht zu ihren Familien zurückkehren konnten (USDOS 13.4.2016).

1.2.1.7. Medizinische Versorgung - Gynäkologie:

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22 % (überwiegend in den Städten und gebildetere Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 9.2016).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 9.2016).

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der BF in der Erstbefragung und vor der belangten Behörde, in die vorgelegten Urkunden sowie in die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderberichte.

2.1. Die Feststellungen zu Nationalität, Herkunft, Volksgruppe und Familienverhältnissen der BF gründen sich auf ihre diesbezüglich glaubhaften Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde und in der öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person der BF aufkommen lässt.

Die Feststellung zur strafrechtlichen Unbescholtenheit der BF in Österreich ergibt sich aus der eingeholten Strafregisterauskunft.

Die Feststellungen hinsichtlich der in Österreich von der BF bereits unternommenen vielfältigen Bemühungen, die Deutsche Sprache zu erlernen, ergeben sich aus den im Verfahren vorgelegten Kursbestätigungen (Beilage ./2 zum VP). Die erkennende Richterin konnte sich im Zuge der mündlichen Verhandlung zudem selbst davon überzeugen, dass die BF bereits gut Deutsch versteht und auch selbständig - ohne Aufforderung - spricht (BVwG-Akt, VP, S 9). Auch aus den vorgelegten Empfehlungsschreiben geht hervor, dass die BF stets strebsam an den angebotenen Sprachkursen teilgenommen hat, im Alphabetisierungskurs eine der besten Schülerinnen war und man sich mit ihr in der deutschen Sprache gut unterhalten kann (Beilage zu BFA-Akt).

Die Feststellungen zur BF als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frau, die eine Lebensweise angenommen und verinnerlicht hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt, ergeben sich aus den absolut authentischen und daher durchwegs glaubwürdigen Angaben der BF in der öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und dem persönlichen Eindruck, der von der BF in dieser Verhandlung gewonnen werden konnte. Die BF vermochte aus folgenden Erwägungen zu überzeugen, dass sie die traditionell begründeten gesellschaftlichen Einstellungen und die sich daraus für den Alltag ergebenden Zwänge gegenüber Frauen im Herkunftsstaat ablehnt und sich einer "westlichen" Wertehaltung sowie einem "westlichen" Frauen- und Gesellschaftsbild zugewendet hat, welches zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden ist:

Zum äußeren Erscheinungsbild der BF in der mündlichen Verhandlung ist zunächst festzuhalten, dass diese in einer Hose, einem längeren Hemd mit darüber getragenem Pullover und Turnschuhen erschien, leicht geschminkt war und ihre Haare ohne Kopftuch locker zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug (BVwG-Akt, VP, S. 9). Die BF gab in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig an, auch im Alltag diese Art von Kleidung zu tragen und fügte mit einer überzeugenden Bestimmtheit hinzu, dass sie hier in Österreich sei und hier lebe. Sie wolle sich daher so kleiden, wie alle hier gekleidet seien. Diese Freiheit genieße sie (BVwG-Akt, VP, S. 10). Sie trage seit acht oder neun Monaten kein Kopftuch mehr. Auch ihr Mann wolle nicht, dass sie eines trage. Vielmehr wolle er, dass sie frei sei und so lebe, wie die österreichischen Frauen (BVwG-Akt, VP, S. 13). Diese Aussagen der BF waren als durchwegs glaubhaft zu beurteilen, zumal sie sich mit den Angaben und dem Erscheinungsbild der BF vor dem BFA decken. Bereits vor dem BFA erschien die BF in einem "westlichen" Kleidungsstil. Aus dem Protokoll der Einvernahme geht hervor, dass die BF auch dort kein Kopftuch getragen hat und mit einer Hose, einem T-Shirt und einer Strickjacke bekleidet erschien (BFA-Protokoll, S. 2). Zudem führte die BF bereits vor dem BFA aus, dass sie auch zuhause so gekleidet sei und kein Kopftuch oder Tschador mehr trage (BFA-Protokoll, S. 11). Betreffend die Persönlichkeit der BF fiel in der mündlichen Verhandlung auf, dass diese selbständig und ohne Scheu mit Blickkontakt auf die ihr gestellten Fragen antwortete und sich äußerst selbstbewusst zeigte. Die BF schilderte in der mündlichen Verhandlung überzeugend und emotionell, dass sie immer selbst entscheide, was sie tue (BVwG-Akt, VP, S. 11), alleine dorthin gehe, wohin sie wolle und sie sich so kleide, wie sie es wolle (BVwG-Akt, VP, S. 12). Niemand könne auf sie Zwang ausüben.

Die BF legte mehrfach glaubwürdig dar, dass sie in Österreich selbstbestimmt und mit ihrem Ehemann auf gleicher Augenhöhe lebt. So führte sie in diesem Zusammenhang insbesondere aus, dass sie in Österreich ihre eigene Meinung sagen könne und dies auch zuhause tue (BVwG-Akt, VP, S. 12). Sie erzählte enthusiastisch, dass sie - vor ihrer Schwangerschaft - alleine Ausflüge gemacht und sich die Umgebung angesehen habe, so sei sie etwa einen ganzen Tag alleine nach XXXX gefahren, auch nach XXXX , XXXX und XXXX (BVwG-Akt, VP, S. 11). Sie habe ihre Umgebung kennenlernen wollen.

Die BF gab in der mündlichen Verhandlung zudem an, sie wolle zielstrebig und unbeirrt nach der (im Mai 2018 bevorstehenden) Geburt ihres Kindes einen Beruf ausüben. Hierzu führte sie selbstbewusst aus, dass ihre nunmehrige Schwangerschaft eigentlich nicht geplant gewesen sei, sie aber auch dieses Kind annehme und, sobald sie wieder "fit" sei, lernen und arbeiten wolle. Sie würde jede Arbeit annehmen, Hauptsache sie verdiene dadurch eigenes Geld. Am liebsten würde sie jedoch mit Kindern in einem Kindergarten oder als Helferin in einem Krankenhaus oder als Köchin arbeiten (BVwG-Akt, VP, S. 12). In Übereinstimmung hiermit gab die BF bereits vor dem BFA an, eine Arbeit finden zu wollen (BFA-Protokoll, S. 12). Auch diese Aussagen bestätigen die verinnerlichte Selbstbestimmtheit und Autonomie der BF in Österreich.

In der mündlichen Verhandlung äußerte sich die BF mehrfach dahingehend, dass sie sich im Alltag eigenständig und ohne Begleitung ihres Mannes bewege. So führte sie aus, dass sie alleine Einkaufen gehe, selbständig ihr Busticket für die Fahrt zum Deutschkurs kaufe, alleine mit dem Autobus fahre und auch alleine zur Schule ihrer Kinder gehe (BVwG-Akt, S. 10). Auch bejahte die BF die Frage der erkennenden Richterin, ob sie alleine zum Arzt, ins Kino oder in den Kindergarten gehe, ausdrücklich (BVwG-Akt, VP, S. 11). Die BF gab in der mündlichen Verhandlung ferner an, ein Handy zu besitzen, welches sie sich selbst finanziert habe und nach ihrer freien Entscheidung verwende (BVwG-Akt, VP, 10). Auch hierin sind eine Verinnerlichung der "westlichen" Einstellung der BF und die Abkehr von den afghanischen Traditionen zu erkennen.

Hinsichtlich der Erziehung ihrer Kinder - insbesondere ihrer sechzehnjährigen Tochter - führte die BF in der mündlichen Verhandlung selbstbewusst und stolz aus, dass sie diese nach den Prinzipien erziehe, die in Österreich gelten würden. Sie wolle, dass ihre Kinder frei leben können. Die BF sei froh, dass ihre Tochter zur Schule gehe und einen Beruf erlernen und dann für sich selbst sorgen könne. Die Religion ihrer Tochter spiele keine Rolle (BVwG-Akt, S. 11). Gefragt, ob sie ihrer Tochter erlaube, sich mit österreichischen jungen Männern zu treffen, antwortete die BF mit einer Selbstverständlichkeit "ja, sicher" und ergänzte, dass ihre Tochter gemeinsam mit sämtlichen Schulkameraden an einer "Wienwoche" teilgenommen habe und auch sonst mit Freunden oder den Burschen aus der Kirche Zeit verbringe (BVwG-Akt, VP, S. 12). Befragt, ob die BF ihre Tochter streng religiös erziehe, gab die BF an, dass ihre Tochter diesbezüglich selbst entscheiden solle (BVwG-Akt, VP, S. 12). Insgesamt ist in der mündlichen Verhandlung klar und eindeutig hervorgekommen, dass die BF ihrer Tochter einen westlich orientierten Lebensstil ermöglicht, indem sie sie selbstbestimmt erzieht und sie darin fördert, die ihr in Österreich zukommenden Freiheiten (wie insbesondere freie Partnerwahl, Schulbildung und Berufswahl) auszuleben. Die BF gab diesbezüglich - und daher umso glaubwürdiger - auch bereits vor dem BFA an, dass sie als Mutter selbst für die Erziehung ihrer Tochter zuständig sein wolle und diese selbst entscheiden lassen wolle, da ihre Tochter dieselben Wünsche habe, wie andere Mädchen auch (BFA-Protokoll, S. 8).

Die erkennende Richterin hatte bei der Einvernahme der BF durchgängig den Eindruck, dass es sich bei dieser - auch ihrem äußeren Erscheinungsbild nach - um eine Person handelt, die das streng konservativ-afghanische Frauenbild ablehnt und bereits abgelegt hat. Aufgrund der Befragung der BF in der mündlichen Verhandlung und der hierbei glaubwürdig dargelegten, angenommenen "westlichen" Verhaltens- und Denkmuster der BF war für die erkennende Richterin deutlich ersichtlich, dass der von der BF angenommene selbstbestimmte Lebensstil zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden ist. Ihr Leben in Österreich unterscheidet sich - auch in der Freizeitgestaltung - nicht von dem Leben, welches andere Frauen in Österreich führen.

Dieser Eindruck wurde zudem durch die Angaben ihres Ehemannes untermauert, welcher dem Bundesverwaltungsgericht nachvollziehbar und glaubwürdig schilderte, dass er die hier in Österreich herrschende und von seiner Frau und seiner Tochter bereits gelebte Lebensweise in allem unterstütze. Aus seinen Ausführungen ging zweifelsfrei hervor, dass er sich die Erziehung der gemeinsamen Kinder mit der BF gleichberechtigt teilt. So mache seine Frau zwar das Frühstück, das Mittagessen für die gesamte Familie koche aber er. Auch backe er Kuchen. Manchmal hole er die Kinder von der Schule ab und gehe Einkaufen, wenn seine Frau nicht gehen könne (BVwG-Akt, VP, S 15). Bezüglich der Lebensweise der BF und der gemeinsamen Tochter führte der Ehemann authentisch aus, dass er damit sehr einverstanden sei und generell gegen ein Kopftuch sei. Er unterstütze seine Frau und seine Tochter. Sein Wunsch sei immer gewesen, dass seine Frau und seine Tochter im Vergleich zu ihrem Leben in Afghanistan frei leben und entscheiden könnten (BVwG-Akt, VP, S. 15). Er bestätigte glaubwürdig, dass die BF alles alleine machen könne, wie sie es wolle und führte anschaulich aus, dass seine Frau bereits zwei Mal alleine mit Freunden auf einem Konzert in Vöcklabruck gewesen sei (BVwG-Akt, VP, S. 16). Auch die Aussagen des Ehemannes betreffend die Erziehung der gemeinsamen Tochter entsprechen jenen der BF. So gab der Ehemann zu Protokoll, dass er seiner Tochter den freien Willen lasse, selbst zu entscheiden, was sie machen wolle. Er habe kein Problem damit, wenn seine Tochter eines Tages mit einem österreichischen Freund nachhause kommen oder einen Österreicher heiraten würde (BVwG-Akt, VP, S. 16). Letztlich gab der Ehemann - befragt, wer die finanziellen Entscheidungen treffe - unverfälscht an, dass seine Frau über das Finanzielle entscheide, sie sei "seine Chefin" (BVwG-Akt, VP, S. 17).

Letztlich bestätigte auch die Einvernahme der sechzehnjährigen Tochter der BF (BVwG-Akt, VP, S. 17 ff.), dass in der gesamten Familie der BF eine autonome und selbstbestimmte Lebensweise praktiziert wird. Die Tochter - welche zur mündlichen Verhandlung ebenfalls in einer Jeans-Hose, Turnschuhen und einem T-Shirt gekleidet erschien, ihrem Alter angemessen geschminkt war und ihre Haare offen ohne Kopftuch trug - gab selbstbewusst und in Übereinstimmung mit den Aussagen ihrer Eltern an, dass sie selbst entscheiden könne, was sie anziehe bzw. wie sie sich kleide und ihre Eltern nicht dagegenreden würden. Ihre Eltern würden ihren Stil sogar befürworten (BVwG-Akt, VP, S. 17). Ohne Scheu zeigte die Tochter aus Eigenem ein Foto von ihrer Klasse, welches entstand, als sie eine Woche in Wien waren (BVwG-Akt, VP, S. 18; Beilage ./4 zum VP). Auf diesem Foto ist die Tochter der BF sportlich-leger gekleidet mit einem Pferdeschwanz zu sehen. Auch führte sie aus, dass sie kein Kopftuch tragen müsse, ihre Eltern würden das auch nicht verlangen (BVwG-Akt, VP, S. 18). Sie treffe sich in ihrer Freizeit mit ihren Freunden, gehe ins Kino und komme samstags meist erst gegen Mitternacht nachhause (BVwG-Akt, VP, S. 18). Wenn sie ins Kino gehe, seien auch Burschen dabei (BVwG-Akt, S. 19). Aus diesen Aussagen geht zweifelsohne hervor, dass die BF ihre westliche Lebenseinstellung derart verinnerlicht hat, dass sie diese ihrer Tochter im Alltag konsequent vorlebt, wodurch ihre Tochter selbst eine Wertehaltung angenommen hat, die dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild entspricht und für diese mittlerweile zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.

Die rasche Anpassung der BF an "westliche" Verhältnisse seit ihrer Einreise nach Österreich im Juni 2015 ist vor dem Hintergrund der authentischen Ausführungen der BF in der mündlichen Verhandlung, wonach sie in Afghanistan nicht frei sei, sich dort komplett verhüllen müsse, dort nur Männer bestimmen würden, eine Frau praktisch als Nichts angesehen werde und nicht einmal so viel wert sei, wie ein Hund oder ein Tier auf der Straße (BVwG-Akt, VP, S. 12), Ausdruck des ausgeprägten Verlangens der BF nach Selbstbestimmtheit. In dem Bewusstsein, dass die einschränkenden Regeln für Frauen und Mädchen in Afghanistan - etwa in Bezug auf Bewegungsfreiheit und den Aufenthalt an öffentlichen Orten - im Falle einer Rückkehr auch wieder für die BF und ihre Tochter gelten würden, führte diese in der mündlichen Verhandlung selbst aus, dass sie es genieße, alleine und ohne Mann dorthin zu gehen, wo sie wolle, sich so zu kleiden, wie sie es wolle und ihre eigene Meinung zu sage. Sie könne sich nie mehr auf eine andere Lebensweise umstellen. Seit sie hier in Österreich sei, könne sie erst ein richtiges Leben leben. Hier sei sie ein Mensch und hier sei sie frei und habe endlich Zugang zur Bildung (BVwG-Akt, VP, S. 12).

Selbst aus dem Fluchtvorbringen der BF, wonach sie sich geweigert habe, ihre Tochter mit einem fremden Mann zu verheiraten und diese deswegen misshandelt und bedroht worden sei, ergibt sich letztlich, dass sich die BF bereits früh gegen die traditionell begründeten gesellschaftlichen Einstellungen und die sich daraus für den Alltag ergebenden Zwänge gegenüber Frauen im Herkunftsstaat aufgelehnt hat.

Aufgrund sämtlicher glaubwürdiger und nachvollziehbarer Ausführungen der BF in der mündlichen Verhandlung in Zusammenschau mit dem gewonnenen persönlichen Eindruck der BF und der Einvernahme ihres Ehemannes ist davon auszugehen, dass der selbstständigen und zielbewussten BF aufgrund der Ablehnung und Ablegung afghanischer Werte und der starken Verinnerlichung "westlicher" Werte, die zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden sind, im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer allgemein als "westlich" zu bezeichnenden Lebensweise mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohen würde.

2.2. Die Feststellungen zur entscheidungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat der BF ergeben sich aus den in den Feststellungen angeführten herkunftsstaatsbezogenen aktuellen Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage in Afghanistan (letzte Aktualisierung 30.01.2018). Hierbei wurden Berichte verschiedener ausländischer Behörden ebenso herangezogen, wie von internationalen Organisationen sowie Berichte von allgemein anerkannten und unabhängigen Nichtregierungsorganisationen. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde gelegt wurden, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung von anderen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichten aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zuständigkeit und Allgemeines:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Das Verwaltungsgericht hat gemäß Abs. 2 leg. cit. über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 i. d.g.F. (AsylG 2005) ist mit 01.01.2006 in Kraft getreten und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG 2005 und FPG bleiben unberührt. Gemäß §§ 16 Abs. 6 und 18 Abs. 7 BFA-VG sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.

Die gegenständliche (Säumnis-)Beschwerde ist rechtzeitig und zulässig.

3.2. Zur Säumnisbeschwerde:

Gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) erhoben werden, wenn die Behörde die Sache nicht innerhalb von sechs Monaten, wenn gesetzlich eine kürzere oder längere Entscheidungsfrist vorgesehen ist, innerhalb dieser, entschieden hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Sachentscheidung bei der Stelle eingelangt ist, bei der er einzubringen war. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.

Gemäß § 73 AVG sind die Behörden verpflichtet, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, über Anträge von Parteien (§ 8) und Berufungen ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlangen den Bescheid zu erlassen.

Gemäß § 22 Abs. 1 AsylG (BGBl. I Nr. 24/2016, in Kraft seit 01.06.2016) ist abweichend von § 73 Abs. 1 AVG über einen Antrag auf internationalen Schutz längstens binnen 15 Monaten zu entscheiden, wobei auch noch die in § 16 Abs. 1 VwGVG vorgesehene Nachfrist des Bundesamtes, die erst mit Einlangen bei der säumigen Behörde zu laufen beginnt, offen steht (siehe auch Erkenntnis des VwGH vom 27.05.2015, Ra 2015/19/0075, demzufolge im Falle der Bejahung der Zuständigkeit einer Behörde dies entsprechend in der Begründung darzulegen ist). Davor galten die Bestimmungen des § 73 AVG, die eine sechsmonatige Entscheidungsfrist vorsehen.

Im konkreten Fall hat die BF am 30.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Die BF wurde am 01.07.2015 von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Mit Schriftsatz ihres Vertreters vom 30.06.2017, eingebracht am 03.07.2017, erhob die BF Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG.

Da das BFA innerhalb der Frist von 15 Monaten (bzw. zuvor von sechs Monaten) ab Einbringung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz durch die BF keine Entscheidung getroffen hatte, war die Säumnisbeschwerde an das BVwG berechtigt, zumal die BF an der Verzögerung kein überwiegendes Verschulden trifft und diese in die Sphäre der Verwaltungsbehörde fällt.

Das BFA begründete die Übersendung der Verwaltungsakte an das

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten