Entscheidungsdatum
19.04.2018Norm
AsylG 2005 §5Spruch
W239 2154846-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Theresa BAUMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.04.2017, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine nigerianische Staatsangehörige, stellte im österreichischen Bundesgebiet am 23.11.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Zu ihrer Person liegt zu Italien ein EURODAC-Treffer der Kategorie 2 vom 05.11.2016 vor.
Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.11.2016 nannte die Beschwerdeführerin ihr Geburtsdatum und gab an, minderjährig zu sein. Zu ihrer Reiseroute führte sie aus, sie habe Nigeria im Juni 2016 verlassen und sei nach Libyen gereist, wo sie sich sechs Monate aufgehalten habe, bevor sie weiter nach Italien gelangt sei. In Italien sei sie etwa sechs Tage lange gewesen; es sei dort nicht gut gewesen, sie möge das Land nicht und wolle nicht dorthin zurück.
Als Fluchtgrund brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie in ihrer Heimat aus näher dargelegten Gründen einen Mann heiraten müsse und das nicht wolle. Deshalb habe sie Nigeria verlassen.
Am 15.12.2016 wurde bei der Beschwerdeführerin ein Handwurzelröntgen zur Bestimmung des Knochenalters durchgeführt. Die Untersuchung brachte folgendes Ergebnis: "GP 26, Schmeling 4". Im Befund wurde ausgeführt, dass sämtliche Epiphysenfugen an den Phalangen und den Metacarpalia geschlossen seien und sich am Radius eine zarte Epiphysennarbe zeige.
Laut einem im Akt befindlichen Bericht vom 23.12.2016 gab die Beschwerdeführerin vor einer Beamtin der zuständigen Polizeiinspektion an, dass sie in Libyen zur Prostitution gezwungen worden sei. Die Beschwerdeführerin habe am XXXX im Bundesgebiet eine Tochter zur Welt gebracht, die sie zur Adoption freigebe. Im Zuge der Asylantragstellung für ihre Tochter habe die Beschwerdeführerin den obigen Sachverhalt angegeben; im Zuge ihrer eigenen Asylantragstellung habe sie nicht angegeben, dass sie zur Prostitution gezwungen worden sei. Dass sie schwanger gewesen sei, habe die Beschwerdeführerin nicht gewusst. Sie sei mit starken Bauchschmerzen in ein Krankenhaus eingeliefert worden und habe erst dort erfahren, dass sie ein Kind erwarte. Die Beschwerdeführerin habe angegeben, dass sie im Juni 2016 in Nigeria von einer nicht näher bekannten Frau angesprochen worden sei und diese ihr versprochen habe, dass sie in Libyen Haare flechten könne. Tatsächlich habe sie in einem Bordell arbeiten müssen und sei dort mit vier weiteren nigerianischen Mädchen eingesperrt gewesen. Ein Kunde habe ihr zur Flucht aus dem Haus und in weiterer Folge auf einem Boot nach Italien verholfen. Wo sich das Bordell in Libyen befunden habe, könne sie nicht sagen. Der Sachverhalt werde nach Abschluss der Erhebungen an die zuständige Staatsanwaltschaft gemeldet werden.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) richtete am 31.12.2016 ein auf Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin-III-VO) gestütztes Aufnahmeersuchen an Italien. Dabei verweis das BFA auf das vorliegende Ergebnis des Handwurzelröntgens, welches der italienischen Dublin-Behörde auch übermittelt wurde, und gab an, die Beschwerdeführerin sei aller Wahrscheinlichkeit nach volljährig.
Aus dem vom BFA in Auftrag gegebenen medizinischen Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung lässt sich zusammengefasst entnehmen, dass die Beschwerdeführerin zum Untersuchungszeitpunkt am 24.01.2017 ein absolutes Mindestalter von 19,4 Jahren aufgewiesen habe, woraus sich als fiktives Geburtsdatum der XXXX ergebe. Damit habe sie sich zum Zeitpunkt der Asylantragstellung eindeutig jenseits ihres vollendeten 18. Lebensjahres befunden.
Mit Verfahrensanordnung vom 20.02.2017 stellte das BFA das Geburtsdatum der Beschwerdeführerin mit XXXX (und somit ihre Volljährigkeit) amtlich fest.
Mit Schreiben vom 21.02.2017 setzte das BFA die italienische Dublin-Behörde vom Ergebnis des Gutachtens zur Altersfeststellung in Kenntnis.
Italien ließ das Aufnahmeersuchen unbeantwortet. Mit Schreiben vom 03.03.2017 teilte das BFA der italienischen Dublin-Behörde daher mit, dass aufgrund der nicht fristgerecht erfolgten Antwort gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO eine Verfristung eingetreten und Italien nunmehr für die Durchführung des gegenständlichen Asylverfahrens zuständig sei.
Nach durchgeführter Rechtsberatung fand am 20.03.2017 im Beisein eines Rechtsberaters die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem BFA statt. Dabei gab die Beschwerdeführerin zu Beginn über Nachfrage an, dass sie sich gut fühle und keine neuen Beweismittel in Vorlage bringen wolle. Wie es ihrer Tochter gehe, wisse die Beschwerdeführerin nicht. Sie lebe bei einer Pflegefamilie. Die Beschwerdeführerin habe sie gleich nach der Geburt weggegeben. Wie der Stand des Adoptionsverfahrens sei, wisse sie auch nicht. Sie habe gesagt, dass sie das Kind zur Adoption freigeben wolle; seitdem wisse sie nichts mehr.
Befragt nach ihrem Gesundheitszustand erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie am 24.03.2017 einen Termin bei einer Ärztin habe. Abgesehen von ihrer Tochter, die sie zur Adoption freigegeben habe, habe sie keine Angehörigen in Österreich oder der EU. Sie lebe auch mit niemandem in einer Lebensgemeinschaft sondern wohne hier im Lager. Sie gehe keiner Beschäftigung nach und sei auch kein Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Einen Deutschkurs habe sie besucht, jetzt habe sie aber damit aufgehört.
Zur geplanten Vorgehensweise, sie aufgrund der festgestellten Zuständigkeit Italiens dorthin außer Landes zu bringen, gab die Beschwerdeführerin an, dass sie nicht nach Italien zurück wolle. Sie habe nur einmal ihre Fingerabdrücke abgegeben, sonst habe sie keinen Kontakt zu den dortigen Behörden gehabt. In Italien gebe es keine Arbeit. Außerdem seien die Frauen und die Männer im selben Zimmer untergebracht gewesen und das habe ihr nicht gefallen. Sie habe sich in Italien nicht wohlgefühlt. Hier in Österreich fühle sie sich gut.
Der anwesende Rechtsberater beantragte abschließend die Einholung einer Einzelfallzusicherung aufgrund der aktenkundigen Zwangsprostitution und brachte vor, es handle sich bei der Beschwerdeführerin um eine vulnerable Person, die besondere Unterbringung benötige.
2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 07.04.2017 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Italien gemäß Art. 13 Abs. 1 iVm Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig sei (Spruchpunkt I.). Zudem wurde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG gegen die Beschwerdeführerin die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG ihre Abschiebung nach Italien zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Begründend führte das BFA zusammengefasst aus, der Antrag auf internationalen Schutz sei zurückzuweisen, weil gemäß Art. 13 Abs. 1 iVm Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO Italien für die Prüfung des Antrages zuständig sei.
Ein im besonderen Maße substantiiertes, glaubhaftes Vorbringen betreffend das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, welche die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung der Beschwerdeführerin ernstlich für möglich erscheinen ließe, sei im Verfahren nicht erstattet worden.
Es könne nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin an einer schweren psychischen Störung und/oder an einer schweren oder ansteckenden Krankheit leide. Es liege im gegenständlichen Fall kein Familienverfahren vor. In Österreich befinde sich die Tochter der Beschwerdeführerin; es sei der Jugendwohlfahrtträger mit der Ausübung der Pflege und Erziehung betraut. Die volle Erziehung des Kindes obliege derzeit einer Pflegefamilie. Dies sei aus der Vereinbarung mit der zuständigen Bezirkshauptmannschaft zu entnehmen. Außer der Tochter gebe es keine weiteren Verwandten in Österreich. Eine besondere Integrationsverfestigung der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet könne nicht festgestellt werden. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin in Italien systematischen Misshandlungen bzw. Verfolgungen ausgesetzt gewesen sei oder diese dort zu erwarten habe.
Die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG sei nicht erschüttert worden und es habe sich kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO ergeben. Es seien auch weder schützenswerte familiäre, noch besondere private Anknüpfungspunkte in Österreich gegeben, weshalb die Außerlandesbringung der Beschwerdeführerin keinen ungerechtfertigten Eingriff in das Grundrecht nach Art. 8 EMRK darstelle.
3. Gegen den Bescheid des BFA vom 07.04.2017 erhob die Beschwerdeführerin durch ihre Vertretung rechtzeitig das Rechtmittel der Beschwerde und hielt fest, dass der Bescheid zur Gänze angefochten werde. Gleichzeitig wurde der Antrag gestellt, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Ausgeführt wurde unter anderem, dass sich das BFA zu Unrecht nicht näher mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin auseinander gesetzt habe, wonach sie unter falschen Versprechungen nach Libyen gebracht und dort zur Prostitution gezwungen worden sei. Obschon (potentiell) Betroffene des Menschenhandels schon im Asylverfahren erkannt werden sollten und ihnen die Möglichkeit weiterführender Hilfe und Schutz geboten werden solle, fänden sich in der Einvernahme der Beschwerdeführerin keine diesbezüglichen Fragen bzw. Ermittlungen seitens des BFA. Die Beschwerdeführerin sei am 21.12.2015 [gemeint wohl: 2016] wegen Zuführung zur Prostitution vernommen worden und der Akt liege mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft in XXXX . Österreich sei durch mehrere völker- und unionsrechtliche Abkommen bzw. Rechtsakte zum Schutz der Opfer von Menschenhandel verpflichtet. Neben der Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels sei diesbezüglich die Richtlinie RL 2011/36/EU vom 05.04.2011 sowie die Richtlinie RL 2004/81/EG vom 29.04.2004 zu erwähnen. Sowohl die Konvention, welche durch Österreich im Jahr 2006 ratifiziert worden sei, als auch die Richtlinien als Rechtsakte der EU seien verbindlich. Weshalb das BFA auf den eindeutigen Hinweis der Beschwerdeführerin, sie sei Opfer von Menschenhandel und von Zwangsprostitution geworden, in keiner Weise eingegangen sei, erscheine nicht nachvollziehbar und widerspreche den völkerrechtlichen Abkommen und den verbindlichen europäischen Rechtsakten, zu deren Umsetzung Österreich verpflichtet sei.
Zwar sehe das AsylG 2005 im Falle einer auf § 5 basierenden zurückweisenden Entscheidung keine amtswegige Prüfung vor, doch hätte das BFA in jedem Fall die besondere Verletzlichkeit der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Erlebnisse sowie ihre Opfer- bzw. Zeugeneinvernahme berücksichtigen müssen. Das BFA habe zudem keine weiteren Ermittlungsschritte betreffend die Schutzfähigkeit der italienischen Behörden sowie betreffend eine mögliche Obdachlosigkeit der Beschwerdeführerin in Italien gesetzt. Das BFA wäre verpflichtet gewesen, weitere Ermittlungen zur Frage des effektiven Schutzes der Beschwerdeführerin vor Zwangsprostitution in Italien zu setzen. Die Mängel im Ermittlungsverfahren seien wesentlich; die Beschwerdeführerin laufe Gefahr, bei einer Rückführung nach Italien als besonders vulnerable Person in eine akute Notlage zu geraten bzw. erneut zur Prostitution gezwungen zu werden.
Unter Verweis auf die Entscheidung des EGMR vom 04.11.2014 im Fall Tarakhel gegen die Schweiz wurde in der Beschwerde weiteres gerügt, dass das BFA es verabsäumt habe, eine Einzelfallzusicherung seitens Italiens einzuholen. Außerdem wurde festgehalten, dass das BFA keine konkrete Einzelfallprüfung vorgenommen habe. Des Weiteren seien die vom BFA herangezogenen Länderfeststellungen zur Situation in Italien unvollständig und einseitig; es könne auch nicht von einer Ausgewogenheit der Quellen gesprochen werden, da in den herangezogenen Berichten kaum Kritik am italienischen Asylsystem und an der Aufnahmesituation von Flüchtlingen geübt worden sei. Ergänzend wurde daher auf einen Bericht von "Ärzte ohne Grenzen" vom April 2016 und von "Amnesty International" vom November 2016 verwiesen.
Zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin wurde festgehalten, dass die Beschwerdeführerin in Österreich ihre Tochter zur Welt gebracht habe. Da sie bis zur Geburt gar nicht gewusst habe, dass sie schwanger gewesen sei bzw. das Kind durch die erlittene Zwangsprostitution entstanden sei, habe sich die Beschwerdeführerin entschlossen, das Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Ausübung der Pflege und Erziehung zu betrauen und mit diesem die volle Erziehung durch Unterbringung des Kindes in fremder Pflege bei Pflegepersonen mit Adoptionsabsicht vereinbart. Im Rahmen der Beweiswürdigung habe sich das BFA in keiner Weise mit der Beziehung zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter auseinandergesetzt. Es wäre jedoch ein gemäß Art. 8 EMRK schützenswertes Privat- und Familienleben festzustellen gewesen, da das Kind von den Wahleltern (noch) nicht adoptiert worden sei. Das BFA habe sich auch gar nicht damit auseinandergesetzt, um welche Art der Adoption es sich handeln werde. Je nach Art der Adoption habe die leibliche Mutter unterschiedliche Ansprüche auf Informationen über ihr Kind. Verweisen wurde auf die Rechtsgrundlagen zur Adoption (§§ 191 bis 203 ABGB).
Zurzeit sei die Tochter der Beschwerdeführerin lediglich bei einer Pflegefamilie untergebracht und es könne nicht von vorne herein ausgeschlossen werden, dass es nicht wieder zu Kontakten zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter kommen könne. Der Beschwerdeführerin müsse die Zeit und die Möglichkeit gegeben werden, eine wohlüberlegte Entscheidung in Bezug auf die Adoption ihrer Tochter zu treffen. Das Bestehen eines Familienlebens liege zum gegebenen Zeitpunkt jedenfalls vor und es hätte das BFA daher eine entsprechende Güterabwägung bzw. Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne des Art. 8 EMRK vornehmen müssen.
4. Die Beschwerdevorlage langte am 28.04.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 04.05.2017 wurde der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
5. Aus der im Akt aufliegenden "Vereinbarung über die volle Erziehung gemäß §§ 39 und 50 NÖ KJHG, Zustimmung zur Annahme an Kindes statt gemäß § 195 ABGB iVm § 44 Abs. 3 B-KJHG" vom 14.12.2016 geht hervor, dass die Beschwerdeführerin das Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Ausübung der Pflege und Erziehung ihrer Tochter betraut hatte und mit diesem die volle Erziehung durch Unterbringung des Kindes in fremder Pflege bei Pflegepersonen mit Adoptionsabsicht vereinbart hatte. In der Vereinbarung wurde festgehalten, dass die Beschwerdeführerin mit der Annahme an Kindesstatt ausdrücklich einverstanden sei und daher das zuständige Bezirksgericht ersuche, diese Annahme zu bewilligen.
Aus einer Stellungnahme der zuständigen Bezirkshauptmannschaft, Fachgebiet Sozialarbeit, an das Amt der niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung Kinder- und Jugendhilfe, vom 02.02.2017 lässt sich unter anderem entnehmen, dass die Tochter der Beschwerdeführerin am XXXX durch einen Notkaiserschnitt ohne Spontanatmung zur Welt gekommen war. Die Kindesmutter habe versucht, durch Medikamente eine Abtreibung zu erwirken und habe damit die Schwangerschaft in der geschätzten 33. Woche beendet. Laut Angabe der Mutter sei das Kind aufgrund mehrfacher Vergewaltigung auf der Flucht gezeugt worden. Die Kindesmutter verweigere seit der Geburt jeglichen Kontakt zu dem Kind, obwohl eine Fachkraft für Sozialarbeit unterschiedliche Möglichkeiten der Unterstützung bis hin zu einer gemeinsamen Unterbringung in einem Grundversorgungsquartier des Landes Niederösterreich aufgezeigt habe. Die Kindesmutter wolle unverändert seit der Geburt des Kindes dieses zur Adoption freigeben. Das Kind sei aufgrund der frühen Geburt und der Medikamentenzufuhr durch die Kindesmutter in einem schlechten Allgemeinzustand gewesen und habe nach der Reanimierung intensivmedizinisch betreut werden müssen. Es sei seit seiner Entlassung aus dem Spital bei einer Krisenpflegemutter zur Versorgung in voller Erziehung untergebracht.
Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom 12.05.2017, Zl. XXXX , wurde die Obsorge für die minderjährige Tochter der Beschwerdeführerin dieser (der Mutter) entzogen und dem zuständigen Kinder- und Jugendwohlfahrtsträger zur Gänze übertragen.
Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom 23.10.2017, Zl. XXXX , wurde aufgrund des schriftlichen Vertrages vom 12.09.2017 die Annahme an Kindes statt des Wahlkindes (Tochter der Beschwerdeführerin) durch die näher bezeichnete Wahlmutter und den näher bezeichneten Wahlvater bewilligt. Zu den Wirkungen der Annahme an Kindesstatt wurde festgehalten, die Annahme werde gemäß § 192 Abs. 1 ABGB mit dem 12.09.2017 wirksam. Die nicht bloß in der Verwandtschaft an sich (§ 40 ABGB) bestehenden familienrechtlichen Beziehungen des Wahlkindes zu seinen leiblichen Eltern würden gemäß § 197 Abs. 2 ABGB, mit den im § 198 ABGB bestimmten Ausnahmen, mit Wirksamkeit vom 12.09.2017 erlöschen.
6. Mit Schreiben vom 19.03.2018 wurde der Beschwerdeführerin das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Italien (Gesamtaktualisierung am 17.05.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.11.2017) zur Kenntnis gebracht und ihr seitens des Bundesverwaltungsgerichtes im Rahmen des Parteiengehörs die Möglichkeit gegeben, dazu sowie zum aktuellen Gesundheitszustand und zum Bestehen eines Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK eine Stellungnahme abzugeben.
Am 04.04.2018 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme ein, in der im Wesentlichen festgehalten wurde, es ergebe sich bereits aus dem in der Beschwerde dargestellten Sachverhalt, dass die Beschwerdeführerin Opfer von Menschenhandel geworden sei. Österreich sei durch mehrere völker- und unionsrechtliche Abkommen bzw. Rechtsakte zum Schutz der Opfer von Menschenhandel verpflichtet. Das BFA als zuständige Behörde für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz als auch für die Erteilung des Aufenthaltstitels besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG (§ 3 BFA-VG) wäre in erster Linien für die Wahrnehmung von Hinweisen auf das Vorliegen von Menschenhandel zuständig gewesen. Das BFA habe jedoch weder Ermittlungen zum Stand des Verfahrens bei der Staatsanwaltschaft XXXX und einer möglichen Stellung der Beschwerdeführerin als Zeugin bzw. Opfer in dem Verfahren getätigt, noch habe es im Rahmen einer Einzelfallzusicherung den Schutz der Beschwerdeführerin in Italien sichergestellt. Im Falle der Überstellung der Beschwerdeführerin nach Italien komme es zu einer realen Gefährdung ihrer insbesondere durch Art. 3 und Art. 4 EMRK gewährleistete Rechte. Die Lage von Menschenhandelsopfern werde durch Spezialnormen geregelt. Diese Spezialnormen seien vorrangig anzuwenden und es sei die Dublin-III-VO nur sekundär anzuwenden. Der klare Tenor aller rechtlichen Bestimmungen betreffend Menschenhandel sei, dass die Opfer zu schützen seien. Diese Schutzpflicht könne weder willkürlich ignoriert noch einfach an das Opfer zurückgegeben werden. Eine Überstellung der Beschwerdeführerin verstoße gegen alle zutreffenden Gesetze. Um daher im vorliegenden Fall eine dem Verfassungs-, EU-Recht und dem Internationalen Recht konforme Entscheidung zu fällen, müsse Österreich von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO Gebrauch machen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die volljährige Beschwerdeführerin, ein nigerianische Staatsangehörige, stellte im Bundesgebiet am 23.11.2016 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz. Zuvor war sie illegal über Libyen nach Italien eingereist, wo sie am 05.11.2016 erkennungsdienstlich behandelt worden war. Zu ihrer Person liegt zu Italien ein EURODAC-Treffer der Kategorie 2 vom 05.11.2016 vor.
Das BFA richtete am 31.12.2016 ein auf Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO gestütztes Aufnahmeersuchen an Italien, dem Italien durch Verfristung gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO zustimmte.
Das Bundesverwaltungsgericht trifft zur Allgemeinsituation im Mitgliedstaat Italien folgende Feststellungen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Italien:
Gesamtaktualisierung am 17.05.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.11.2017):
Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen
KI vom 26.07.2017, Neuer Circular Letter (Tarakhel); Asylstatistik; Unterbringung (relevant für Abschnitt 3/Dublin-Rückkehrer und Abschnitt 6/Unterbringung)
Im Sinne des Tarakhel-Urteils stellte Italien im Juni 2015 in einem Rundbrief eine Liste von SPRAR-Einrichtungen zur Verfügung, welche für die Unterbringung von Familien geeignet sind, die als Dublin-Rückkehrer nach Italien zurückkehren. Zuletzt wurde am 24. Juli 2017 ein neuer Rundbrief versendet und die Liste aktualisiert. Sie umfasst nun 18 SPRAR-Projekte mit zusammen 78 Unterbringungsplätzen für Familien mit Kindern (MdI 24.7.2017).
Aus einer Statistik des UNHCR geht hervor, dass 2017 bis 16. Juli
93.213 Bootsflüchtlinge in Italien gelandet sind. Das sind um 13.373 Personen mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Allerdings ist der Juli 2017 bislang mit 9.461 Migranten etwas schwächer als der Vergleichszeitraum 2016 (9.618). Aus den Statistiken geht hervor, dass mehr Personen in Italien Asylanträge stellen als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, wobei diese Anträge nicht notgedrungen von Neuankünften gestellt worden sein müssen (UNHCR 16.7.2017).
Laut offizieller italienischer Statistik haben 2017 bis zum 14. Juli
80.665 Personen einen Asylantrag gestellt. Mit selbem Datum waren
22.406 Anträge negativ erledigt, 3.842 erhielten Flüchtlingsstatus,
4.165 erhielten subsidiären Schutz, 10.632 erhielten humanitären Schutz. 2.118 Antragsteller waren nicht mehr auffindbar (VB 19.7.2017a).
Mit Stand 18. Juni 2017 waren 194.809 Migranten in staatlichen italienischen Unterbringungseinrichtungen untergebracht (VB 19.7.2017b).
Quellen:
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MdI - Ministero dell Interno (24.7.2017): Circular Letter, per -E-Mail
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UNHCR - Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (16.7.2017): Italy weekly snapshot - 16 Jul 2017, per E-Mail
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VB des BM.I Italien (19.7.2017a): Statistiken der ital. Asylbehörde, per E-Mail
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VB des BM.I Italien (19.7.2017b): Auskunft des VB, per E-Mail
KI vom 30.11.2017, Asylstatistik und Unterbringung (relevant für Abschnitt 2/Allgemeines zum Asylverfahren und Abschnitt 6/Unterbringung)
2017 haben in Italien bis 24.11. des Jahres 123.020 Personen einen Asylantrag gestellt. Mit demselben Datum waren 74.184 Asylverfahren entschieden. Davon erhielten 6.271 Antragsteller einen Flüchtlingsstatus, 6.399 einen subsidiären Schutz, 18.232 humanitären Schutz und 38.813 endeten negativ (einschließlich unzulässiger Anträge). 3.891 Antragsteller entzogen sich dem Verfahren. Mit Stand 18.6.2017 waren im Land 194.809 Fremde in staatlicher Unterbringung (VB 29.11.2017; vgl. MdI 24.11.2017).
Quellen:
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MdI - Ministero dell Interno (24.11.2017): Statistiken des MdI, per -E-Mail
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VB des BM.I Italien (29.11.2017): Auskunft des VB, per E-Mail
Allgemeines zum Asylverfahren
In Italien existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten (AIDA 2.2017; für ausführliche Informationen siehe dieselbe Quelle).
Aus aktuellen Statistiken des italienischen Innenministeriums geht hervor, dass es im Jahre 2016 insgesamt 123.600 Asylanträge gegeben hat, was einer Steigerung von 47% gegenüber 2015 entspricht (MdI 10.3.2017, vgl. Eurostat 16.3.2017). 4.808 Personen haben 2016 Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen, 12.873 subsidiären Schutz und
18.979 internationalen humanitären Schutz. 54.254 Anträge (60%) wurden abgewiesen (MdI - 10.3.2017).
Die Asylverfahren nehmen je nach Region sechs bis fünfzehn Monate in Anspruch. Wenn Rechtsmittel ergriffen werden, kann sich diese Dauer auf bis zu zwei Jahren erstrecken (USDOS 3.3.2017).
Aus Statistiken des italienischen Innenministeriums geht hervor, dass es in Italien 2017 mit Stand 21. April 46.225 Asylanträge gab.
(...)
Quellen:
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AIDA - Asylum Information Database (ASGI - Association for Legal Studies on Immigration; ECRE - European Council on Refugees and Exiles) (2.2017): National Country Report Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2016update.pdf, Zugriff 23.3.2017
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MdI - Ministero dell'Interno (10.3.2017): Dati e statistiche, http://www.libertaciviliimmigrazione.dlci.interno.gov.it/it/documentazione/statistica/i-numeri-dellasilo; Zugriff 23.3.2017
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USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Italy,
http://www.ecoi.net/local_link/337159/479923_de.html, Zugriff 30.3.2017
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VB des BM.I Italien (26.4.2017): Statistik des ital. Innenministeriums, per E-Mail
Dublin-Rückkehrer
Die meisten Dublin-Rückkehrer landen auf den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa. Ihnen wird am Flughafen von der Polizei eine Einladung (verbale di invito) ausgehändigt, der zu entnehmen ist, welche Quästur für ihr Asylverfahren zuständig ist. Die Situation von Dublin-Rückkehrern hängt vom Stand ihres Verfahrens in Italien ab:
1. Wenn ein Rückkehrer noch keinen Asylantrag in Italien gestellt hat, kann er dies nun tun, so wie jede andere Person auch (AIDA 2.2017).
2. Ist das Verfahren des Rückkehrers noch anhängig, wird es fortgesetzt und er hat dieselben Rechte wie jeder andere Asylwerber auch (AIDA 2.2017).
3. Wenn ein Verfahren vor endgültiger Entscheidung unterbrochen wurde, etwa weil sich der Antragsteller diesem entzogen hat, und der Betreffende wird von Italien im Rahmen von Art. 18(1)(c) zurückgenommen, wird das Verfahren auf Antrag wieder aufgenommen (EASO 12.2015).
4. Bei Rückkehrern, die unter Art. 18(1)(d) und 18(2) fallen und welche Italien verlassen haben, bevor sie über eine negative erstinstanzliche Entscheidung informiert werden konnten, beginnt die Rechtsmittelfrist erst zu laufen, wenn der Rückkehrer von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt wurde (EASO 12.2015; vgl. AIDA 2.2017).
5. Wurde der Rückkehrer beim ersten Aufenthalt in Italien von einer negativen Entscheidung in Kenntnis gesetzt und hat dagegen nicht berufen, kann er zur Außerlandesbringung in ein CIE (Schubhaftlager) gebracht werden. Wurde ihm die Entscheidung nicht zur Kenntnis gebracht, steht dem Rückkehrer der Beschwerdeweg offen, sobald er informiert wurde (AIDA 2.2017).
6. Hat sich der Rückkehrer dem persönlichen Interview nicht gestellt und sein Antrag wurde daher negativ beschieden, kann er nach Rückkehr ein neues Interview beantragen (AIDA 2.2017).
(Für weitere Informationen, siehe Kapitel 6.3 Dublin-Rückkehrer.)
Quellen:
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AIDA - Asylum Information Database (ASGI - Association for Legal Studies on Immigration; ECRE - European Council on Refugees and Exiles) (2.2017): National Country Report Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2016update.pdf, Zugriff 23.3.2017
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EASO - European Asylum Support Office (12.2015): Quality Matrix Report: Dublin procedure, per E-Mail
Unbegleitete minderjährige Asylwerber (UMA) / Vulnerable
Legislativdekret (LD) 142/2015 definiert folgende Personenkreise als vulnerabel: Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Schwangere, alleinstehende Eltern mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel, Opfer von Genitalverstümmelung und ernsthaft physisch oder psychisch Kranke sowie Alte, Behinderte, und Opfer von Folter, Vergewaltigung oder anderen Formen physischer, psychischer oder sexueller Gewalt. In Italien ist kein eigener Identifizierungsmechanismus für Vulnerable vorgesehen. Wenn im Zuge des Interviews ein Vertreter der Behörde den Verdacht hat, es mit einer vulnerablen Person zu tun zu haben, kann er diese speziellen Diensten zuweisen. Legislativdekret (LD) 142/2015 sieht auch vor, dass Opfern von Gewalt Zugang zu geeigneter medizinischer und psychologischer Betreuung zu gewähren ist (AIDA 2.2017).
Beim Schutz von Minderjährigen sind Reifegrad und Entwicklung des Minderjährigen zu berücksichtigen und es ist im besten Interesse des Kindes zu handeln. Stellt ein unbegleiteter Minderjähriger einen Asylantrag, wird das Verfahren sofort ausgesetzt und es werden das Jugendgericht und der Vormundschaftsrichter informiert. Letzterer muss binnen 48 Stunden einen Vormund ernennen, der dann bei der Quästur die Wiederaufnahme des Verfahrens bewirkt und die Maßnahmen zu Unterbringung und Versorgung des UMA überwacht (AIDA 2.2017).
Bei Zweifeln bezüglich des Alters eines Antragstellers kann jederzeit eine medizinische Altersfeststellung durchgeführt werden
Zu den Methoden der Altersfeststellung gibt es keine spezifischen Vorgaben, außer dass sie nicht invasiv sein sollen und in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen mit pädiatrischen Abteilungen durchzuführen sind. Für medizinische Untersuchungen ist jedenfalls die Zustimmung des Minderjährigen bzw. dessen Vormunds einzuholen. Die Ablehnung einer Altersfeststellung durch den Asylwerber hat keinen Einfluss auf das Asylverfahren. Altersfeststellungen werden oft auch von nicht-spezialisierten Medizinern anhand von Röntgenbildern vorgenommen. Im Zweifel ist jedenfalls die Minderjährigkeit anzunehmen (AIDA 2.2017).
Tatsächlich dauert es bis zur Bestimmung eines Vormunds oftmals bis zu mehreren Monaten. Hierdurch ergibt sich ein Vakuum in Bezug auf den Schutz des Minderjährigen. Ohne Erziehungsberechtigten bzw. Vormund können Verwaltungsverfahren nicht abgeschlossen werden; auch verzögern sich Anträge auf Standortwechsel und Familienzusammenführung. Dies führt dazu, dass viele Minderjährige, die nicht in Italien bleiben wollen, untertauchen und versuchen in andere EU-Länder zu gelangen (CoE 2.3.2017).
In manchen Fällen erschwert das Fehlen eines Vormunds sogar die Möglichkeit, überhaupt um Asyl anzusuchen, da einige Quästuren bei Nichtvorhandensein eines Vormunds das formale Asylverfahren nicht einleiten. Das Gesetz sieht zwar vor, dass Vertreter der Aufnahmeeinrichtungen vorübergehend als Vormund fungieren können; diesen sind die diesbezüglichen rechtlichen Bestimmungen aber oft nicht ausreichend bekannt oder die Quästuren erlauben ihnen unter Verweis auf den vorübergehenden Charakter des Vormundes nicht, Ansuchen von Kindern auf internationalen Schutz zu bestätigen. Das kann zur Folge haben, dass unbegleitete Minderjährige oftmals sogar später ins Asylverfahren eintreten können als Erwachsene (AIDA 2.2017).
Der Vormund kümmert sich während des gesamten Verfahrens um den unbegleiteten Minderjährigen (UMA), im Falle einer negativen Entscheidung auch darüber hinaus. Vor allem während des Interviews ist seine Anwesenheit unerlässlich. Beschwerden gegen negative Entscheidungen sind selten, weil entweder ein anderer Schutztitel oder eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 18. Geburtstag gewährt wird. Der Vormund ist für das Wohlergehen des Minderjährigen verantwortlich. In der Praxis wird der Bürgermeister jener Gemeinde, in welcher der UMA untergebracht ist, zum Vormund ernannt. Aufgrund der hohen Anzahl unbegleiteter Minderjähriger delegiert er die Vormundschaft häufig an andere Personen innerhalb der Gemeinde, die meist wiederum selbst zahlreiche andere Personen, wie etwa Behinderte, zu betreuen haben. Daher sind die ernannten Vormunde oft nicht in der Lage, ihren Schützlingen das erforderliche Maß an Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In der Folge sehen Vormunde ihre Schützlinge daher oft nur bei der formalen Registrierung des Asylantrags und dann beim Interview, wozu sie gesetzlich verpflichtet sind. Auch die Ernennung eines freiwilligen Vormunds ist möglich, wird aber kaum angewendet. Es gibt keine Bestimmungen, die ein spezielles Training oder eine besondere Expertise des Vormunds im Bereich Asyl vorsehen (AIDA 2.2017; vgl. CoE 2.3.2017).
Laut italienischen Gesetzen ist bei der Unterbringung auf spezifische Bedürfnisse der Asylwerber Rücksicht zu nehmen. Dies gilt insbesondere für Vulnerable. LD 142/2015 sieht einen Gesundheitscheck in der Erstaufnahme vor, um auch spezielle Unterbringungsbedürfnisse erkennen zu können. PD 21/2015 führt die speziellen Unterbringungsvorkehrungen für Vulnerable näher aus. Diese speziellen Unterbringungsmöglichkeiten sind auch in den SPRAR-Strukturen sicherzustellen. Die Erhebung spezieller Bedürfnisse wird in den Unterbringungseinrichtungen vorgenommen, allerdings nicht systematisch und je nach Qualität und Finanzlage des jeweiligen Zentrums unterschiedlich. Es kann in der Praxis passieren, dass Folteropfer aus Platzmangel nicht in SPRAR transferiert werden. Bei Familien ist in jeder Unterbringungsstufe die Familieneinheit zu berücksichtigen. In der Praxis kann es vorkommen, dass der Familienvater bei den Männern untergebracht wird und die Mutter mit den Kindern bei den Frauen. Familien können aus temporären Strukturen auf freie Plätze in SPRAR transferiert werden, da diese besser für Familien geeignet sind. Solche Transfers sind abhängig von der Zusammensetzung der Familie, Vorliegen von Vulnerabilität bzw. Gesundheitsproblemen und der Warteliste für SPRAR-Plätze. Bei UMA ist bei der Unterbringung auf das beste Interesse des Kindes Rücksicht zu berücksichtigen. In Erstaufnahmeeinrichtungen dürfen sie nur für begrenzte Zeit untergebracht werden. In dieser Zeit soll die Feststellung des Altes und der individuellen Bedürfnisse geschehen. Danach sind UMA zur Unterbringung in SPRAR-Strukturen berechtigt. Ist dort kein Platz frei, kann der UMA temporär in der zuständigen Gemeinde untergebracht werden. Unbegleitete Minderjährige, die nicht Asyl beantragen, haben ein Recht auf Unterbringung ohne Unterschied zu asylwerbenden UM. UMA dürfen nicht in Zentren für Erwachsene oder Schubhaftzentren untergebracht werden. Ersteres ist im Jahre 2016 jedoch vorgekommen. Für UM gibt es, zum Unterschied von erwachsenen AW, keinen zentralen Verteilungsmechanismus. Der Transfer in SPRAR ist daher in der Verantwortlichkeit der Ankunftsgemeinde. UM konzentrieren sich daher besonders in einigen Grenzregionen. 2016 waren dies vor allem Sizilien usw. 25.772 UM kamen im Jahre 2016 in Italien an (AIDA 2.2017).
Gerade für unbegleitete Minderjährige (UM) bzw. geistig oder körperlich Behinderte gibt es eigene SPRAR-Projekte mit spezialisierten Leistungen. Da die Kosten für die Unterbringung dieses Personenkreises aber weit über die staatlichen Unterstützungszahlungen hinausgehen, bieten nur wenige Gemeinden solche Plätze an. Derzeit beläuft sich das Angebot für unter 18-Jährige auf rund 2.000 Plätze. Aufgrund dieses Mangels an SPRAR-Plätzen verbringen bis dato viele unbegleitete Minderjährige über sechs Monate in den großen Erstaufnahmezentren, die aber nicht auf die speziellen Bedürfnisse von Minderjährigen eingerichtet sind (CoE 2.3.2017).
Am 6.5.2017 trat ein neues Gesetz zum Schutz unbegleiteter Minderjähriger in Kraft, das diesen nunmehr dieselben Rechte und denselben Schutz wie europäischen Minderjährigen zugesteht. Es reduziert u.a. die Aufenthaltsdauer für UM in Erstaufnahmezentren von 60 auf 30 Tage und besagt, dass UM binnen 10 Tagen identifiziert werden müssen. Außerdem sieht das neue Gesetz im Wesentlichen folgende weitere Verbesserungen vor:
* Die unbegleiteten oder getrennten Minderjährigen dürfen - ohne jede Ausnahme - an den Grenzen nicht zurückgewiesen bzw. abgeschoben werden.
* Die Maßnahmen zur Altersfeststellung werden verbessert und vereinheitlicht.
* Es wird ein strukturiertes und gestrafftes nationales Aufnahmesystem aufgebaut, das entsprechenden Mindeststandards für unbegleitete Minderjährige in allen Aufnahmezentren vorsieht.
* Es wird der Einsatz qualifizierter Kulturmediatoren ausgeweitet, um den Bedürfnissen besonders schutzbedürftiger Minderjähriger gerecht zu werden.
* Es werden für die Minderjährigen das Institut der Pflegefamilie und die zeitgerechte Bestellung eines freiwilligen Vormunds gefördert.
* Einige Rechte Minderjähriger werden gestärkt, beispielsweise bezüglich Gesundheitsfürsorge und Ausbildung.
* Es wird im Ministerium für Arbeit und Soziales ein nationales Informationssystem zur Erfassung der unbegleiteten Minderjährigen aufgebaut
(UNICEF 29.3.2017; vgl. PI 30.3.2017; UNHCR 30.3.2017; ECRE 12.5.2017).
Quellen:
-
AIDA - Asylum Information Database (ASGI - Association for Legal Studies on Immigration; ECRE - European Council on Refugees and Exiles) (2.2017): National Country Report Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2016update.pdf, Zugriff 23.3.2017
-
CoE - Council of Europe Secretary General (2.3.2017): Bericht zu Fact-Finding-Mission zur Lage von MigrantInnen und Flüchtlingen von 16. bis 21. Oktober 2016 (Aufnahmebedingungen; unbegleitete Kinder;
internationale Schutzverfahren; MigrantInnen im Transit;
Integration; etc.),
https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=09000016806f9d70, Zugriff 7.4.2017
-
ECRE - European Council on Refugees and Exiles (12.5.2017): ELENA Weekly Legal Update, per E-Mail
-
PI - Parlamento Italiano, Camera dei Deputati (30.3.2017):
Cittadinanza e immigrazione; Minori stranieri non accompagnati, http://www.camera.it/leg17/465?tema=minori_stranieri_non_accompagnati#m, Zugriff 3.4.2017
-
UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (30.3.2017): Approvata legge su accoglienza e protezione dei minori stranieri non accompagnati in Italia,
https://www.unhcr.it/news/aggiornamenti/approvata-legge-accoglienza-protezione-dei-minori-stranieri-non-accompagnati-italia.html, Zugriff 31.3.2017
-
UNICEF - United Nations Children's Fund (29.3.2017): Approvata la "Legge Zampa": più tutele e inclusione per i minori stranieri non accompagnati,
http://www.unicef.it/doc/7324/approvata-la-legge-zampa-per-minori-stranieri-non-accompagnati.htm, Zugriff 3.4.2017
Non-Refoulement
Grundsätzlich bietet Italien Schutz gegen Abschiebung oder Rückkehr von Flüchtlingen in Länder, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit aufgrund Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischer Gesinnung bedroht wäre (USDOS 25.6.2015).
Hinsichtlich unbegleiteter Minderjähriger besteht ein absolutes Rückschiebeverbot an der Grenze (UNICEF 29.3.2017).
Das italienische Innenministerium hat ausdrücklich darauf verwiesen, dass der Zugang zu Asylverfahren und Grundrechten Personen nicht verweigert werden kann, für die willkürlich angenommen wird, dass sie des internationalen Schutzes nicht bedürfen. Außerdem wurde explizit bestätigt, dass alle Migranten das Recht haben, vor Refoulement geschützt zu werden. Es würden laut Innenministerium keine Ausweisungsbefehle erlassen, wenn Migranten zuvor nicht korrekt informiert wurden (AIDA 2.2017).
Quellen:
-
AIDA - Asylum Information Database (ASGI - Association for Legal Studies on Immigration; ECRE - European Council on Refugees and Exiles) (2.2017): National Country Report Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2016update.pdf, Zugriff 23.3.2017
-
UNICEF - United Nations Children's Fund (29.3.2017): Approvata la "Legge Zampa": più tutele e inclusione per i minori stranieri non accompagnati,
http://www.unicef.it/doc/7324/approvata-la-legge-zampa-per-minori-stranieri-non-accompagnati.htm, Zugriff 3.4.2017
-
USDOS - US Department of State (25.6.2015): Country Report on Human Rights Practices 2014 - Italy, http://www.ecoi.net/local_link/306380/443655_de.html, Zugriff 14.4.2016
Versorgung
Unterbringung
Grundsätzlich sind Fremde zur Unterbringung in Italien berechtigt, sobald sie den Willen erkennbar machen, um Asyl ansuchen zu wollen und eine entsprechende Bedürftigkeit besteht. Das Unterbringungsrecht gilt bis zur erstinstanzlichen Entscheidung bzw. dem Ende der Rechtsmittelfrist. Bei Rechtsmitteln mit automatisch aufschiebender Wirkung besteht dieses Recht auch bis zur Entscheidung des Gerichts. Gemäß der Praxis in den Jahren 2015 und 2016 erfolgt der tatsächliche Zugang zur Unterbringung erst mit der formellen Registrierung des Antrags (verbalizzazione) anstatt sofort nach der erkennungsdienstlichen Behandlung (fotosegnalamento). Zwischen diesen beiden Schritten sind, abhängig von Region und Antragszahlen, Wartezeiten von Wochen oder gar Monaten möglich, in denen Betroffene Probleme beim Zugang zu alternativer Unterbringung haben können. Betroffene Asylwerber ohne ausreichende Geldmittel sind daher auf Freunde oder Notunterkünfte angewiesen, oder es droht ihnen Obdachlosigkeit. Zum Ausmaß dieses Phänomens gibt es allerdings keine statistischen Zahlen. Tatsächlich ist diese Problematik durch die Erweiterung der SPRAR-Kapazitäten und Einführung der temporären Unterbringungsstrukturen (CAS) nur für Personen relevant, die ihren Antrag im Land stellen, nicht für auf See geretteten Asylwerber (AIDA 2.2017).
Wie die untenstehende Statistik des italienischen Innenministeriums zeigt, wurden die Unterbringungskapazitäten in den letzten 3 Jahren massiv gesteigert.
(...)
Mit Stand 31.3.2017 waren in Italien laut offiziellen Statistiken des italienischen Innenministeriums 137.599 Personen in Flüchtlingsunterkünften untergebracht, davon 2.204 in den sogenannten Hotspots (dienen nur der Registrierung der Flüchtlinge; nach max. 72 Stunden Weiterverbringung in Flüchtlingsunterkünfte in ganz Italien), 13.835 in Erstaufnahmezentren, 137.599 in temporären Strukturen (meist durch NGOs und Private mit staatlicher Förderung zur Verfügung gestellt) und 23.867 in staatlicher Betreuung (SPRAR):
(...)
Grundsätzlich lässt sich die Struktur der Unterkünfte wie folgt grafisch darstellen.
(...)
CPSA - (Centri di primo soccorso e accoglienza) / Hotspots
Menschen, die - vor allem auf dem Seeweg - illegal nach Italien kommen, erhalten zunächst Unterstützung in den großen Einwanderungszentren bzw. Hotspots (AIDA 2.2017, vgl: MdI 28.7.2015). Die ursprünglichen CPSA in Lampedusa und Pozzallo bilden seit 2016 zusammen mit den Zentren Taranto und Trapani die sogenannten Hotspots. Dieses Hotspot-Konzept wurde von der Europäischen Kommission entwickelt, um jene Mitgliedsstaaten zu unterstützen, die an den EU-Außengrenzen einem besonderen Migrationsdruck ausgesetzt sind. Nähere Informationen sind weiter unten dem Abschnitt "Hotspots" zu entnehmen (AIDA 2.2017, vgl. EC o. D.). Nach dieser Phase der ersten Hilfe unmittelbar nach Ankunft in den CPSA bzw. Hotspots werden die Fremden, je nach Status, entweder rückgeführt oder in andre Unterkünfte verlegt (AIDA 2.2017, vgl. MdI 28.7.2015). (Für weitere Informationen siehe Kapitel 6.2 Hotspots.)
CDA, CARA und CAS
CDA, CARA und CAS sind Erstaufnahmezentren und bieten eine eher grundlegende Versorgung mit Essen, Kleidung, Basisinformation, Rechtsberatung und medizinischer Notversorgung. Es handelt sich um große Erstaufnahmezentren mit sehr vielen Unterbringungsplätzen (AIDA 2.2017).
Die CDA (centri di accoglienza) sind allgemeine Aufnahmezentren, in denen insbesondere die auf dem Staatsgebiet aufgegriffenen Fremden zur Identitätsfeststellung und Statusbestimmung untergebracht werden, während CARA (Centri d'Accoglienza Richiedenti Asilo) Zentren für die Aufnahme von Asylwerbern sind. CDA und CARA umfassen derzeit 15 Erstaufnahmezentren mit ca. 14.694 Plätzen (AIDA 2.2017). Asylwerber sollen dort einige Wochen oder Monate untergebracht werden, bis die administrativen Formalitäten bezüglich eines Asylantrags abgeschlossen und ein neuer Unterkunftspatz gefunden ist. Sprachtraining oder andere Integrationsmaßnahmen finden in diesen Zentren nicht statt (CoE 2.3.2017).
CARA, CDA und CPSA sollen sukzessive in den durch das Gesetz 142/2015 eingeführten sogenannten "hub regionali" aufgehen. Jede Region soll über einen solchen hub verfügen. Migranten, die in den Hotspots um internationalen Schutz ansuchen, sollen dann an diese "hub regionali" als Erstaufnahmezentren weitergeleitet werden. Ziel ist es, die Strukturen zu straffen und die Schutzsuchenden in Zentren unterzubringen, die in der Nähe von Einwanderungsbüros liegen (AIDA 2.2017, vgl. MdI 2016; SFH 8.2016)
Die CAS (Centri di accoglienza straordinaria) sind temporäre Aufnahmezentren, die speziell in Zeiten hoher Migrationsströme andere Zentren entlasten sollen. De facto dienen sie zur Unterbringung von Bootsflüchtlingen. Ihre Zahl wird je nach Bedarf angepasst und ist daher nur schwer festzumachen. D