TE Bvwg Beschluss 2018/4/23 W217 2189097-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.04.2018
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Entscheidungsdatum

23.04.2018

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W217 2189097-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia Stiefelmeyer als Vorsitzende und die Richterin Mag. Ulrike LECHNER, LL.M. sowie die fachkundige Laienrichterin Verena KNOGLER BA, MA als Beisitzerinnen über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, vertreten durch den Kriegsopfer- und Behindertenverband für Wien, NÖ und Bgld., vom 05.03.2018, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien, vom 26.01.2018, OB: XXXX, betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses beschlossen:

I.

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.

II.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Herr XXXX (in der Folge: BF) begehrte mit Schreiben vom 03.10.2017 die Ausstellung eines Behindertenpasses. Diesem Antrag wurde ein Konvolut an medizinischen Beweismitteln beigelegt.

2. In weiterer Folge wurde ein medizinisches Sachverständigengutachten auf Grundlage der durch den BF vorgelegten Befunde sowie einer am 08.11.2017 durchgeführten Begutachtung durch einen Arzt für Allgemeinmedizin erstellt. Darin wurde Folgendes ausgeführt:

"Anamnese:

Operationen: Appendektomie ohne Folgeschaden,

1985 Arbeitsunfall mit Schnittverletzung im Bereich des linken Daumens, Erstversorgung im XXXX Krankenhaus, seither Bewegungseinschränkung im Interphalangealgelenk des linken Daumens mit Versteifung in ca. 20°, kein ständiges Therapieerfordernis,

diabetisches Gangrän im Bereich der rechten Großzehe 08/2017, Zustand nach Amputation im Sanatoriums XXXX am 4.9.2017 mit zufriedenstellenden Ergebnis, derzeit wird ein Verband getragen, auch ein Verbandsschuh verwendet, Phantomschmerzen werden berichtet, Medikation: Neurontin 300 1-0-0,

Diabetes mellitus seit 8/2017 bekannt, Medikation: Diabetex 1000 1-0-1, unter Therapie Nüchternblutzucker: 120-130 mg%, letzter HbA1c:?, Augen- und Nierenbefund bland,

Bluthochdruck seit 2013, Medikation: Lisam 10/5 1-0-1, ThAss 100 1-0-0, unter Therapie normales Blutdruckverhalten, keine Adaptationszeichen dokumentiert,

Abnützungserscheinungen der Wirbelsäule, Punktum Maximum im Lendenwirbelsäulensegment, keine Operation, keine motorischen

Ausfälle, Medikation: Diclovit 1-0-1, Sirdalud 4 0-0-1,

Hyperlipidämie seit Jahren, Medikation: Simvastatin 40 0-0-1,

Nikotin: 25/d, Alkohol: wenig,

Derzeitige Beschwerden:

Phantomschmerzen nach Grosszehenamputation rechts, auch

Polyneuropathie mit Befall beider Beine, Medikation: Neurontin 300 1-0-0, Schmerzen im Kreuz,

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

Diabetex 1000, Pantoprazol 40, Sirdalud 4, Lisam 10/5, Diclovit, Simvastatin 40, ThAss 100, Neurontin 300,

Sozialanamnese:

erlernter Glaserer, derzeit Arbeiter der XXXX (XXXX), Krankenstand seit 23. 8. 2017 wegen diabetische Gangrän rechte Großzehe bis auf weiteres, geschieden, keine Kinder, Antragwerber lebt alleine in einer Wohnung im 3. Halbstock mit Lift, zum Erreichen der Wohnung müssen 8 Stufen überwunden werden, kein Pflegegeld,

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

Arbeitsunfähigkeitsmeldung der XXXX vom 23.08.2017, wiederbestellt am 07.09.2017,

Ambulanzkarte Chirurgie des Sanatorium XXXX vom 27.09.2017/Diagnose:

lateral kleiner etwa 10x4mm Wundheilungsdefekt, Nahtentfernung, Kontrolle in einer Woche, Verordnung für orthopäd. Schuhanpassung, objektive Befund vom 21.09.2017: Lappen gut durchblutet, Ränder ein wenig gerötet, Kontrolle in 6 Tagen,

Nervenleitgeschwindigkeitsmessung vom 27.9.2017: Zusammenfassung:

der Nervus suralis nicht ableitbar, im Bereich des Nervus peroneus beidseits und des Nervus tibialis beidseits sämtliche Parameter im pathologischen Bereich, insgesamt ist der Befund gut mit einer höhergradigen gemischte Polyneuropathie vereinbar, Verlaufskontrolle in 6-9 Monaten,

Entlassungsbericht der Abteilung für Chirurgie des Sanatorium XXXX vom 18.09.2017/Aufnahmediagnose: Zehengangrän der Großzehe rechts, Diabetes mellitus bei letztgültigem HbA1c von 8%, gute Dopplersignalableitung in der betroffenen Extremität, am 04.09.2017 Amputation der Großzehe rechts, am 18.09.2017 subjektiv im wesentlichen beschwerdefrei in häusliche Pflege entlassen, Wundverhältnisse weitgehend bland, ambulante Begutachtung sowie Verbandwechsel am 21.09.2017, Rezept für Neurontin und ThAss, orthopäd. Schuhversorgung nach kompletter Abteilung geplant,

Untersuchungsbefund:

Allgemeinzustand:

guter Allgemeinzustand

Ernährungszustand:

guter Ernährungszustand

Größe: 185,00 cm Gewicht: 100,00 kg Blutdruck: 125/80

Klinischer Status - Fachstatus:

Kopf: Zähne: Prothese, Lesebrille, Sensorium frei, Nervenaustrittspunkte unauff.,

Hals: keine Einflussstauung, Schilddrüse schluckverschieblich, Lymphknoten o.B.,

Thorax: symmetrisch, Gynäkomastie,

Herz: normal konfiguriert, Herztöne rein, keine pathologischen Geräusche,

Lunge: vesikuläres Atemgeräusch, Basen gut verschieblich, son. Klopfschall,

Wirbelsäule: Halswirbelsäule frei beweglich, Kinn-Jugulum-Abstand 2cm, seichte linkskonvexe Skoliose der Brustwirbelsäule, Fingerbodenabstand 10cm, thorakaler Schober 30/33cm, Ott: 10/14cm, Hartspann der Lendenwirbelsäule,

Abdomen: weich, über Thoraxniveau, Hepar und Lien nicht palpabel, keine Resistenz tastbar, blande Narbe nach Appendektomie,

Nierenlager: beidseits frei,

obere Extremität: frei beweglich bis auf Versteifung des PIP-Gelenkes des linken Daumens in ca. 20° nach operierter Schnittverletzung, Globalfunktion und grobe Kraft beidseits erhalten, Nacken- und Kreuzgriff möglich,

untere Extremität: frei beweglich, Umfang des rechten Kniegelenkes:

42cm (links: 41cm), geringe Involutionsatrophie der Unterschenkeimuskulatur links, Umfang des rechten Unterschenkels:

39cm (links: 37cm), keine Ödeme, keine trophischen Hautstörungen, Reflex lebhaft auslösbar, Babinski negativ, Verlust der rechten Großzehen im Grundgelenk, bis auf ca. 2mm durchmessende Kruste im Bereich des lateralen Narbenbrandes blande Narbenverhältnisse, Verband wird getragen, Onychomykose an den Zehen beider Füße, Zehenballengang links und Fersengang beidseits möglich,

Gesamtmobilität - Gangbild:

leicht hinkendes Gangbild, keine Gehhilfe, Verbandschuh rechts wird getragen

Status Psychicus:

zeitlich und örtlich orientiert, ausgeglichene Stimmungslage, normale Kommunikation möglich,

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos. Nr.

GdB %

1

nicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus oberer Rahmensatz, da zwar mit milder oraler Medikation befriedigende Stoffwechsellage erzielt werden kann, jedoch bereits Sekundärschäden (diabetische Polyneuropathie) fassbar

09.02.01

30

2

Verlust der rechten Großzehe fixer Rahmensatz

02.05.48

10

3

Fehlstellung des linken Daumens nach stattgehabter Schnittverletzung unterer Rahmensatz, da keine signifikante Beeinträchtigung der Globalfunktion der linken Hand

02.06.26

10

4

leichter Bluthochdruck fixer Rahmensatz

05.01.01

10

5

degenerative Veränderung der Wirbelsäule unterer Rahmensatz, da nur geringe Funktionsstörung fassbar

02.01.01

10

Gesamtgrad der Behinderung 30 v. H.

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

Das führende Leiden unter lf. Nr. 1) wird durch die Gesundheitsschädigung unter lf. Nr. 2) bis 5) nicht erhöht, da kein maßgebliches ungünstiges funktionelles Zusammenwirken besteht.

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:

Übergewicht und erhöhter Blutfettspiegel stellen zwar einen Risikofaktor dar, erreichen jedoch keinen Grad der Behinderung.

Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:

Erstgutachten

Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:

Erstgutachten

X Dauerzustand"

3. Mit Bescheid vom 26.01.2018 wurde der Antrag des BF auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß §§ 40, 41 und 45 BBG aufgrund des in Höhe von 30 v.H. festgestellten Grades der Behinderung abgewiesen. Begründend wurde auf das eingeholte ärztliche Gutachten verwiesen.

4. Gegen diesen Bescheid wurde vom BF fristgerecht Beschwerde erhoben. Es sei im Gutachten nicht (ausreichend) berücksichtigt worden, dass der BF an einer höhergradigen Polyneuropathie mit sensiblen und motorischen Ausfällen von zumindest mittlerem Grad leide, welche es ihm verunmögliche, eine Gehstrecke von mehr als 300 m zurückzulegen und die mit einer erhöhten Sturzgefahr einhergehe. Die festgestellte Neuropathie hätte gesondert einer Einstufung unterzogen werden müssen und wäre mit mindestens 50 % GdB festzulegen gewesen. Hinzu komme der Diabetes mellitus mit bereits vorhandenen und eindeutig diagnostizierten Folgeschäden, denen neben der Polyneuropathie auch die wiederkehrende Ulcera an den Füßen zuzuordnen seien sowie die übrigen der Einstufung unterzogenen Gesundheitsschädigungen des BF. Zwischen den einzelnen Gesundheitsschädigungen liege eine wechselseitige Leidensbeeinflussung vor und erscheine daher im Zusammenwirken aller gesundheitlichen Einschränkungen die Feststellung eines Gesamtgrades der Behinderung von mindestens 50 v.H. gerechtfertigt. Weiters hätten Sachverständigengutachten der Fachbereiche Neurologie, Innere Medizin und Orthopädie eingeholt werden müssen.

5. Die Beschwerde wurde samt dem Bezug habenden Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht am 13.03.2018 zur Entscheidung vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Gesetzliche Bestimmungen:

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch einen Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

2. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt I:

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des BBG, BGBl. Nr. 283/1990 idgF, ergänzt durch die VO BGBl. II Nr. 59/2014, lauten:

"§ 1. (2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

...

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.

Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag des BF auf Ausstellung eines Behindertenpasses ist die Feststellung der Art und des Ausmaßes der beim BF vorliegenden Gesundheitsschädigungen sowie in der Folge die Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung.

Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.

In dem von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin wurde nach Durchführung einer persönlichen Untersuchung des BF am 08.11.2017 der Gesamtgrad der Behinderung unter Anführung der Leiden "nicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus", "Verlust der rechten Großzehe", "Fehlstellung des linken Daumens nach stattgehabter Schnittverletzung", "leichter Bluthochdruck" sowie "degenerative Veränderung der Wirbelsäule" mit 30 v.H. eingeschätzt.

Trotz vorgelegten Entlassungsberichtes des Sanatoriums XXXX vom 18.09.2017 ("Aufnahmediagnose: Zehengangrän der Großzehe rechts, Diabetes mellitus bei letztgültigem HbA1c von 8%, gute Dopplersignalableitung in der betroffenen Extremität, am 04.09.2017 Amputation der Großzehe rechts. .....Aufgrund einer Polyneuropathie ....") wurde lediglich ein medizinisches Gutachten durch einen Arzt für Allgemeinmedizin eingeholt.

Es besteht zwar kein Anspruch auf die Zuziehung von Sachverständigen eines bestimmten medizinischen Teilgebietes. Es kommt jedoch auf die Schlüssigkeit des eingeholten Gutachtens an. Gegenständlich ist die Begutachtung lediglich durch einen Arzt für Allgemeinmedizin erfolgt. Die vorgelegten Beweismittel enthalten konkrete Anhaltspunkte, dass die Einholung jedenfalls eines Sachverständigengutachtens der Fachrichtung Neurologie erforderlich ist, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung zu gewährleisten. Auf die vom BF vorgebrachte Polyneuropathie bzw. auf die möglicherweise durch den vorliegenden Diabetes mellitus bedingten Folgeschäden wurde in dem medizinischen Sachverständigengutachten nämlich überhaupt nicht eingegangen.

Das eingeholte allgemeinmedizinische Sachverständigengutachten ist im Hinblick darauf, dass der BF bereits im Antrag neurologische Leidenszustände durch Vorlage von medizinischen Beweismitteln vorgebracht hat, mangels Fachkenntnis nicht ausreichend zur qualifizierten Beurteilung des Gesamtleidenszustandes.

Die seitens des Entscheidungsorganes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.

Ein Gutachten bzw. eine medizinische Stellungnahme, welche Ausführungen darüber vermissen lässt, aus welchen Gründen der ärztliche Sachverständige zu einer Beurteilung gelangt ist, stellt keine taugliche Grundlage für die von der belangten Behörde zu treffende Entscheidung dar (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).

Es ist nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde darauf verzichtet hat, das Ermittlungsverfahren dahingehend zu erweitern, ein Gutachten der Fachrichtung Neurologie einzuholen.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Grades der Behinderung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat. (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015)

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde ein medizinisches Sachverständigengutachten der Fachrichtung Neurologie - auf Basis einer neurologisch-fachärztlichen Untersuchung - einzuholen und die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben. Weiters wird dieses mit dem eingeholten allgemeinmedizinischen Gutachten vom 26.01.2018 zusammenzufassen sein.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird der BF mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen.

Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen gravierend mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch der mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren verbundene erhöhte Aufwand.

Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG zweckmäßig. Dies insbesondere im Hinblick darauf, dass dem BF im Rahmen des verwaltungsbehördlichen Verfahrens keine Möglichkeit gegeben wurde, zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen. Der BF hatte sohin keine Gelegenheit, der sachverständigen Beurteilung konkret und substantiiert entgegenzutreten, und auszuführen ob, gegebenenfalls welche, gutachterlichen Ausführungen dem tatsächlichen Leidensausmaß widersprechen.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.

Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall des BF noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rascher und kostengünstiger festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Zu Spruchpunkt II:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

In den rechtlichen Ausführungen zu Punkt I.) wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausgeführt, dass im Verfahren vor der belangten Behörde gravierende Ermittlungslücken bestehen sowie die Judikatur zu den Anforderungen an ein Sachverständigengutachten für die behördliche Beurteilung der Frage der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel im Lichte von § 42 Abs. 1 BBG dargestellt. Zur Anwendung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG wurde auf die aktuelle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063) Bezug genommen.

Schlagworte

Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung,
Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W217.2189097.1.00

Zuletzt aktualisiert am

03.05.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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