TE Vwgh Erkenntnis 2018/4/13 Ra 2018/02/0028

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Veröffentlicht am 13.04.2018
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
90/01 Straßenverkehrsordnung;

Norm

AVG §45 Abs2;
AVG §52;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
StVO 1960 §5 Abs2;
StVO 1960 §99 Abs1 litb;
VStG §1;
VStG §3 Abs1;
VStG §44a Z1 impl;
VStG §6 impl;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §17;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck sowie die Hofräte Mag. Dr. Köller und Dr. N. Bachler, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Harrer, über die Revision der M in H, vertreten durch Dr. Herbert L. Partl, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Innstraße 59, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 28. November 2017, Zl. LVwG-2017/31/1412-5, betreffend Übertretung der StVO (Partei gemäß § 21 Abs. 1 Z 2 VwGG: Bezirkshauptmannschaft Innsbruck), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Tirol hat der Revisionswerberin Aufwendungen in Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht die Revisionswerberin schuldig erachtet, sie habe sich am 3. Dezember 2016 gegen 3:11 Uhr auf der Unfallambulanz der Universitätsklinik X. nach Aufforderung eines besonders geschulten und von der Behörde hiezu ermächtigten Organes der Straßenaufsicht geweigert, ihre Atemluft auf Alkoholgehalt untersuchen zu lassen, obwohl sie zuvor als Fußgängerin am 3. Dezember 2016 gegen 0:46 Uhr in H. beim Überqueren der T.-Straße mit einem Verkehrsunfall mit Sach- und Personenschaden in ursächlichem Zusammenhang gestanden sei.

2 Sie habe dadurch § 5 Abs. 2 zweiter Satz Z 2 StVO iVm § 99 Abs. 1 lit. b StVO übertreten, weshalb eine Geldstrafe von EUR 1.600,-- (Ersatzfreiheitsstrafe 16 Tage) verhängt wurde.

3 In der Begründung stellte das Verwaltungsgericht fest, die Revisionswerberin habe zum Unfallzeitpunkt die T-Straße überquert und sei dabei von einem Pkw erfasst und schwer verletzt worden. Zur weiteren medizinischen Versorgung sei die Revisionswerberin auf die Unfallambulanz der Universitätsklinik I. verlegt worden.

Zur Eruierung des Umstandes, ob sie sich zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand befunden habe, sei Gruppeninspektor M. von der Polizeiinspektion I. ersucht worden, eine Untersuchung der Atemluft auf Alkoholgehalt mittels Alkomat durchzuführen. Zum Zweck der Durchführung des Alkomattests habe Gruppeninspektor M. daraufhin eine telefonische Abklärung bei der Unfallambulanz durchgeführt, wobei ihm seitens des medizinischen Personals mittgeteilt worden sei, dass die Durchführung eines Alkomattests bei der Revisionswerberin grundsätzlich in Betracht zu ziehen sei.

Auf der Unfallambulanz angekommen habe Gruppeninspektor M. mit der Revisionswerberin Kontakt aufnehmen können, nachdem sie aus dem Röntgenraum in einen Behandlungsraum geschoben worden sei. Nach Aufklärung der Revisionswerberin über die Durchführung des Alkomattests und Vornahme der dementsprechenden Belehrungen sei seitens der Revisionswerberin ein Blasversuch, der ein Fehlversuch gewesen sei, unternommen worden. Daraufhin sei die Revisionswerberin von Gruppeninspektor M. darauf hingewiesen worden, dass ein weiterer Fehlversuch als Verweigerungshandlung gelte. Die Revisionswerberin habe daraufhin um 3:11 Uhr ausdrücklich gesagt: "Ich verweigere!".

Die Revisionswerberin habe im Rahmen der Amtshandlung weder zu verstehen gegeben, dass sie sich körperlich außerstande fühle, in das Alkotestgerät hineinzublasen, noch seien diesbezügliche Anzeichen (etwa körperliche Schmerzen) auszumachen gewesen. Gegen 3:13 Uhr sei die Amtshandlung für beendet erklärt worden. Im zeitlichen Nahbereich zur Amtshandlung habe die Revisionswerberin teilweise lautstark am Handy mit einer anderen Person gesprochen und sie habe dabei auch ihren Unmut über die Anwesenheit von vier Polizisten (zwei weitere Polizisten seien auf Grund einer Verletzung eines Polizisten zufällig auch auf der Unfallambulanz gewesen) zum Ausdruck gebracht.

4 Nach beweiswürdigenden Ausführungen hielt das Verwaltungsgericht in rechtlicher Hinsicht fest, die Revisionswerberin habe dadurch, dass sie nach dem ersten Blasversuch erklärt habe, die Absolvierung des Alkomattests zu verweigern, eine Verweigerungshandlung gesetzt.

Es werde nicht verkannt, dass die Revisionswerberin beim Unfall schwere Verletzungen, wie eine Fersenbeinextension, eine Fraktur des rechten Unterschenkels, Thoraxprellungen, eine Gehirnerschütterung sowie zahlreiche Hautabschürfungen sowie - wie erst später bekannt worden sei - Beckenring- und Schambeinfrakturen erlitten habe. Allerdings treffe die Revisionswerberin die Verpflichtung, allfällige gesundheitliche Beeinträchtigungen, die ein Zustandekommen einer gültigen Messung verhinderten, sofort bekannt zu geben.

Hinsichtlich der Beurteilung der medizinischen Gründe habe der Meldungsleger auf Grund der telefonischen Abklärung bei der Unfallambulanz I. zunächst davon ausgehen können, dass die Durchführung eines Alkomattests bei der Revisionswerberin grundsätzlich möglich sei. Auf Grund der zeitnah durch einen Arzt durchgeführten Beurteilung der Möglichkeit einer Alkomatmessung und den Schilderungen von Zeugen sei davon auszugehen, dass das im weiteren Verfahren von der Revisionswerberin eingeholte und vorgelegte Sachverständigengutachten aus dem Fachgebiet der Psychiatrie, welches fußend auf den diagnostizierten Verletzungen und den Angaben der Revisionswerberin zum Ergebnis komme, dass "mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass die Zurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt des Alkomattests bestanden (offensichtlich gemeint: nicht bestanden) hat, dass sie die, von den Polizisten an sie gerichteten Fragen und Aufforderungen als solche nicht in adäquater Form wahrnehmen, verstehen bzw. nicht entsprechend handeln konnte", unschlüssig sei.

Hinsichtlich der Konsumation von Alkohol würde in diesem Gutachten ganz wesentlich von der Verantwortung der Beschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 13. September 2017 abgewichen, so etwa sei die Trinkverantwortung insofern geändert worden, als entgegen der Aussage in der mündlichen Verhandlung vom 13. September 2017, wonach im zeitlichen Vorfeld des gegenständlichen Unfalls lediglich zwei Gläser mit saurem Radler im Gasthaus getrunken worden sei, im Sachverständigengutachten vom 30. Oktober 2017 plötzlich die Rede davon sei, dass die Probandin zu Hause noch einige "Spritzer" getrunken habe. Diesem Gutachten sei daher kein solches Gewicht beizumessen, dass sich die beantragte ergänzende Einvernahme der behandelnden Ärztin für Unfallchirurgie als notwendig erwiesen hätte. Die erlittenen Verletzungen seien vielmehr aktenkundig.

Es müsse einem geschulten Organ der Straßenaufsicht zugemutet werden, an Ort und Stelle zu beurteilen, ob eine Person, die sich auf in ihrer Person gelegene medizinische Gründe für die Nichtdurchführung der Atemluftprobe berufe, dies glaubhaft gemacht habe. Dies habe umso mehr zu gelten, als die Revisionswerberin keine diesbezüglichen Gründe vorgebracht habe. Fußend auf dem situationsbezogenen Verhalten der Revisionswerberin, anlässlich der Amtshandlung lautstark am Handy zu telefonieren und sich über die Anwesenheit von vier Polizisten zu echauffieren, habe daher - in Ermangelung jeglicher Hinweise auf Schmerzen oder physische oder psychische Defizite oder Einschränkungen in der Verständigung - davon ausgegangen werden können, dass die Revisionswerberin sehr wohl gesundheitlich in der Lage gewesen sei, der Amtshandlung zu folgen und einen Alkomattest vorzunehmen. Dies umso mehr, als sich die Revisionswerberin mit keinem Wort auf die Nichtdurchführbarkeit des Alkomattests wegen bestehender körperlicher Einschränkungen berufen habe.

Die Frage, ob die Revisionswerberin objektiv in der Lage gewesen wäre, die Atemluftprobe durchzuführen, sei dann unerheblich, wenn Gründe für die Nichtdurchführung einer Atemluftprobe nicht glaubhaft gemacht worden seien. Bei Vorliegen des von der Revisionswerberin behaupteten physischen Ausnahmezustandes sei aber von ihr sofort ein Hinweis auf diesen und die damit ihrer Ansicht nach verbundene Unfähigkeit zur Ablegung des Atemalkoholtestes zu verlangen, sodass die Organe der Straßenpolizei in die Lage versetzt werden, das Vorliegen der Voraussetzungen zu prüfen. Auf Grund der Feststellungen stehe fest, dass die Revisionswerberin die ihr zur Last gelegte Übertretung in objektiver Hinsicht begangen habe.

5 Dagegen richtet sich die vorliegende Revision wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

6 Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revisionswerberin erachtet die Revision aus im Wesentlichen zwei Aspekten für zulässig; zum einen hätte das Verwaltungsgericht zur Frage der Zurechnungsfähigkeit ein psychiatrisches Gutachten einholen müssen, zum anderen sei kein Beweisverfahren darüber abgeführt worden, dass die Revisionswerberin auf Grund ihres Zustandes nicht in der Lage gewesen sei, an der Atemalkoholuntersuchung mitzuwirken.

8 Die Revision ist zulässig und aus den von der Revisionswerberin angeführten Gründen auch berechtigt.

9 Gemäß § 3 Abs. 1 VStG ist nicht strafbar, wer zur Zeit der Tat wegen Bewusstseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig war, das Unerlaubte seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln. Die Zurechnungsfähigkeit bildet demnach eine unbedingte Voraussetzung der Strafbarkeit.

10 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass es bei einem situationsbezogenen Verhalten eines Probanden anlässlich einer Atemalkoholuntersuchung entbehrlich ist, ein ärztliches Sachverständigengutachten über seine Zurechnungsfähigkeit einzuholen (etwa VwGH 21.6.2013, 2012/02/0232, mwN).

11 Liegen jedoch zumindest Anhaltspunkte für ein Geschehen vor, welches geeignet sein konnte, die Vorwerfbarkeit eines Verhaltens auszuschließen, ist das Verwaltungsgericht gehalten, sich damit auseinander zu setzen bzw. liegen Indizien in Richtung einer mangelnden Zurechnungsfähigkeit zur Tatzeit vor, so ist die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens notwendig, um diese Frage hinreichend beurteilen zu können (vgl. VwGH 24.2.2012, 2010/02/0122, mwN, und VwGH 16.10.2012, 2011/11/0214, betreffend einen Fall gemäß § 4 Abs. 2 StVO).

12 Im Revisionsfall gibt es nicht nur Anhaltspunkte, sondern eine medizinische Befundaufnahme und ein umfassendes psychiatrisches Gutachten zur Frage der Zurechnungsfähigkeit der Revisionswerberin.

13 Das Verwaltungsgericht durfte daher von einer Befassung mit der Frage der Zurechnungsfähigkeit der Revisionswerberin nicht schon deshalb absehen, weil sich die Revisionswerberin situationsadäquat verhalten habe.

14 Aber auch unter Hinweis auf die Unschlüssigkeit des psychiatrischen Sachverständigengutachtens durfte das Verwaltungsgericht die Zurechnungsfähigkeit der Revisionswerberin aus folgenden Gründen nicht bejahen:

15 Nach der Rechtsprechung wird das Verwaltungsgericht der Anforderung, seine Beurteilung auf ein schlüssiges und widerspruchsfreies Sachverständigengutachten zu stützen, nicht gerecht, wenn es dann, wenn es ein Sachverständigengutachten für nicht schlüssig erachtet, seine fachliche Beurteilung an die Stelle der Sachverständigenbeurteilung setzt. Vielmehr ist das Verwaltungsgericht in einem solchen Fall gehalten, den Amtssachverständigen unter Vorhalt seiner Überlegungen zur Ergänzung seines Gutachtens aufzufordern oder erforderlichenfalls ein weiteres Gutachten einzuholen (VwGH 29.1.2018, Ra 2017/04/0094, mwN).

16 Im Revisionsfall hat das Verwaltungsgericht das von der Revisionswerberin vorgelegte psychiatrische (Privat)Sachverständigengutachten, wonach die Revisionswerberin mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem neurologisch-psychischen Zustand gewesen sei, der eine Zurechnungsfähigkeit ausschließe, allein wegen der sonstigen Verfahrensergebnisse und einer geänderten Trinkverantwortung der Revisionswerberin als unschlüssig qualifiziert und aus eigenem die Zurechnungsfähigkeit der Revisionswerberin bejaht. Insbesondere hat sich das Verwaltungsgericht mit keinem Wort mit der vom Gutachten als entscheidend angesehenen objektivierten Alkoholintoxikation (2,56 Promille Blutalkohol) im Zusammenwirken mit einem der Revisionswerberin vom Notarzt verabreichten Opiat sowie den massiven Schmerzen auseinandergesetzt. Nach der dargestellten Judikatur durfte das Verwaltungsgericht ohne Ergänzung des Gutachtens oder Einholung eines Amtsgutachtens die rein medizinisch zu beantwortende Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht selbst bejahen.

17 Weiter thematisiert die Revisionswerberin in der Zulässigkeitsbegründung, dass das Verwaltungsgericht nicht die Frage ihrer Fähigkeit, den Alkomattest durchführen zu können, erörtert hat.

18 Die aus medizinischen Gründen bestehende Unfähigkeit, die Atemluftprobe abzulegen, stellt einen Mangel am Tatbestand des § 99 Abs. 1 lit. b StVO dar (VwGH 5.9.2017, Ra 2017/02/0096, mwN).

19 Derjenige, der gemäß § 5 Abs. 2 StVO zu einer Untersuchung der Atemluft aufgefordert wird, hat umgehend auf die Unmöglichkeit der Ablegung einer Atemalkoholuntersuchung mittels Alkomats aus medizinischen Gründen hinzuweisen. Dieser Hinweis des Probanden muss für die Organe der Straßenaufsicht klar erkennbar sein. Dies gilt dann nicht, wenn für den Probanden nicht erkennbar war, aus welchen Gründen er den Alkomaten nicht ordnungsgemäß beatmet hat bzw. ihm sein Leiden unbekannt gewesen ist (VwGH 27.5.2011, 2010/02/0191, mwN).

20 Im besagten Gutachten wird auf die der Revisionswerberin im angelasteten Verweigerungszeitpunkt noch nicht bekannte Verletzungssituation und die atemdepressiv wirkende Medikation verwiesen. Auch damit hat sich das Verwaltungsgericht nicht befasst.

21 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

22 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 13. April 2018

Schlagworte

Alkotest VoraussetzungGutachten Beweiswürdigung der BehördeBesondere Rechtsgebiete StVOBegründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher VerfahrensmangelBegründung BegründungsmangelAlkotest VerweigerungBesondere RechtsgebieteSachverständiger Erfordernis der Beiziehung ArztAnforderung an ein GutachtenGutachten ErgänzungVerfahrensbestimmungen Amtswegigkeit des Verfahrens Mitwirkungspflicht Manuduktionspflicht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018020028.L00.1

Im RIS seit

02.05.2018

Zuletzt aktualisiert am

25.05.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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