Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 10. April 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Gschiel, LL.M., als Schriftführerin in der Strafsache gegen Metin Y***** wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Geschworenengericht vom 16. Oktober 2017, GZ 23 Hv 46/17y-89, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde werden der Wahrspruch der Geschworenen und das darauf beruhende Urteil
aufgehoben und wird die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Feldkirch als
Geschworenengericht verwiesen.
Mit ihren Berufungen werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil, wurde Metin Y***** des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB schuldig erkannt.
Danach hat er am 28. Jänner 2017 in M***** seine Ehegattin Hediye Y***** durch mehrere wuchtige Messerstiche mit einem Küchenmesser (mit einer Klingenlänge von etwa 14 cm) in den Oberkörper vorsätzlich getötet.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen aus § 345 Abs 1 Z 4, 5 und 6 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde ist schon aus dem erstgenannten Nichtigkeitsgrund berechtigt.
Die Verfahrensrüge (Z 4) kritisiert unter Berufung auf § 252 Abs 4 StPO iVm § 322 zweiter Satz StPO, dass die Vorsitzende die Akten in das Beratungszimmer der Geschworenen schaffen ließ, ohne zuvor jene – in der Rüge konkret und unter Angabe der Fundstelle in den Akten bezeichneten – Vernehmungsprotokolle und Ermittlungs-ergebnisse auszusondern, welche in der Hauptverhandlung nicht verlesen worden und auch sonst nicht im Sinn des § 258 Abs 1 StPO vorgekommen sind (ON 88 S 67 ff; vgl auch ON 90), weil der Angeklagte sich mit deren Verlesung nicht einverstanden erklärte (ON 88 S 67) und die Verlesungsvoraussetzungen nach § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO gleichfalls nicht vorlagen.
Letzteres trifft weder auf das angesprochene E-Mail des Dr. Zeynep V***** (ON 60 S 479) noch auf die Amtsvermerke von Kriminalbeamten zu, soweit darin nur deren Wahrnehmungen am Tatort und dort getätigte Angaben des Beschwerdeführers selbst festgehalten wurden (ON 60 S 381 ff), weil es sich dabei nicht um – von § 252 Abs 1 StPO erfasste – Schriftstücke (über Aussagen von Mitbeschuldigten, Zeugen oder Gutachten von Sachverständigen) handelt, für die das dort normierte Verlesungsverbot greifen würde, und frühere Aussagen eines Angeklagten nach § 245 Abs 1 StPO verlesen werden können, wenn er – wie hier – in der Hauptverhandlung davon abweicht (ON 88 S 3 ff; vgl dazu
Kirchbacher, WK-StPO § 245 Rz 58 f). Um die Beweiskraft dem Verlesungsgebot des § 252 Abs 2 StPO unterliegender amtlicher Schriftstücke in Frage zu stellen, steht es den Verfahrensparteien übrigens frei,
durch (aus § 345 Abs 1 Z 5 StPO bewehrte) sachgerechte Antragstellung in der Hauptverhandlung auf die Aufnahme von konkreten Beweisen (etwa die Vernehmung von Ermittlungsorganen) hinzuwirken.
Verletzungen des (vom taxativen Katalog der Z 4 des § 345 Abs 1 StPO nicht erfassten) § 322 zweiter Satz StPO sind – von der Beschwerde an sich zutreffend erkannt – ausschließlich unter dem Aspekt des von § 345 Abs 1 Z 4 StPO intendierten Schutzes des in § 252 (iVm § 302 Abs 1) StPO normierten Unmittelbarkeitsgrundsatzes, also eines Beweisverwendungsverbots, im Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde beachtlich (RIS-Justiz RS0118038, RS0100697; Ratz, WK-StPO § 345 Rz 9), nicht jedoch unter dem Gesichtspunkt eines Beweisverwertungsverbots, das erfolgversprechend nur aus Z 10a des § 345 Abs 1 StPO aufgegriffen werden könnte (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 65, 68, 71 f, 492).
Da nach dem Vorgesagten insoweit auch ein Verstoß gegen das Umgehungsverbot nach § 252 Abs 4 StPO nicht in Rede steht, ist der auf die oben erörterten Verfahrensergebnisse bezogene Einwand nicht berechtigt.
Vorliegend hat es die Vorsitzende aber – wie die Beschwerde zutreffend aufzeigt – auch unterlassen, die – in der Hauptverhandlung gleichfalls nicht verlesenen oder prozessförmig vorgekommenen – Protokolle und Amtsvermerke über die Aussagen von Zeugen (Okan Y***** [ON 4 S 45 ff; ON 60 S 189 ff], Hasim K***** [ON 60 S 153 ff], Hermann H***** [ON 60 S 173 ff] und Peryan Ö***** [ON 60 S 365]) auszusondern, die dadurch zur Kenntnis der Geschworenen gelangten. Solcherart wurde nicht nur der gesetzliche Auftrag des § 322 zweiter Satz StPO missachtet, sondern zudem gegen das Umgehungsverbot nach § 252 Abs 4 StPO verstoßen (vgl erneut Ratz, WK-StPO § 345 Rz 9 mwN).
Es gilt nämlich zu verhindern, dass Beweise, die in der Hauptverhandlung in Befolgung des § 252 Abs 1 StPO nicht vorgeführt wurden, mangels Aussonderung gleichsam „über die Hintertüre“ den Geschworenen doch noch zur Kenntnis gelangen und der Schutzzweck des § 252 StPO solcherart zunichte gemacht wird. Deshalb kann auch
– worauf die Rüge ebenso mit Recht verweist – die im vorliegenden Fall erfolgte Anweisung der Vorsitzenden (§ 302 Abs 2 StPO), wonach bestimmte „Aktenstücke nicht verwertet werden dürfen“, in Verbindung mit der Übergabe der persönlichen, die erfolgte oder unterbliebene Verlesung einzelner Aktenstücke betreffenden Aufzeichnungen der Vorsitzenden an die Geschworenen (die im Übrigen teilweise auf den konkreten Inhalt der betroffenen Verfahrensergebnisse hinweisen, ON 90) die von § 322 zweiter Satz StPO geforderte faktische Aussonderung nicht ersetzen, weil das Augenmerk der Laienrichter dadurch geradezu zwingend auf solche Aussagen gelenkt wird und eine solche, der gesetzlichen Anordnung des § 322 zweiter Satz StPO zuwiderlaufende Anweisung keine Pflicht der Geschworenen im Sinn des § 302 Abs 2 StPO begründet (vgl 14 Os 73/11h).
Unter Berücksichtigung der Verantwortung des Angeklagten, der zwar die Tötung seiner Ehefrau zugestand, sich aber (sinngemäß) damit verantwortete, er habe sich in einer – (auch) durch fortgesetzte körperliche Attacken, Beleidigungen, Kränkungen und Demütigungen durch das Tatopfer sowie dessen sexuelle Kontakte zu anderen Männern ausgelösten – heftigen Gemütsbewegung zur Tat hinreißen lassen (ON 60 S 71 ff, ON 88 S 5 ff; vgl auch ON 88 S 32, 34), was auch Anlass für die Stellung einer Eventualfrage nach dem Verbrechen des Totschlags nach § 76 StGB war (vgl dazu RIS-Justiz RS0092271 [va T7]), ist ein für ihn nachteiliger Einfluss der Formverletzung schon aufgrund der unterbliebenen Aussonderung des Protokolls über die Aussage des Zeugen Hasim K***** nicht auszuschließen (§ 345 Abs 3 StPO), welcher nicht nur ein gegenteiliges Bild der Beziehung zwischen den Genannten gezeichnet, sondern auch behauptet hatte, die Tat sei von langer Hand und durch „massive Geldgier und Eifersucht“ motiviert gewesen (ON 60 S 171).
Der aufgezeigte Verfahrensmangel erfordert daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – die Aufhebung des Wahrspruchs und des darauf beruhenden Urteils schon bei der nichtöffentlichen Beratung und insoweit die Verweisung der Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht (§§ 285e, 344 Abs 1 StPO), ohne dass es eines Eingehens auf das weitere Beschwerdevorbringen bedurfte.
Bleibt mit Blick auf das Vorbringen zu § 345 Abs 1 Z 5 StPO der Vollständigkeit halber anzumerken, dass ein auf Beweisaufnahmen abzielender Antrag nur dann auf unzulässige Erkundungsbeweisführung gerichtet ist, wenn ihm – neben Beweismittel, Beweisthema und dem Konnex zur Schuld- oder Subsumtionsfrage (vgl dazu RIS-Justiz RS0092271 [va T7]) – nicht zu entnehmen ist, warum die beantragte Beweisaufnahme das vom Beschwerdeführer behauptete Ergebnis erwarten lasse (Danek/Mann, WK-StPO § 238 Rz 7) und die Tauglichkeit der Beweisführung für das Gericht auch nicht ohne weiteres erkennbar ist (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 327 ff; RIS-Justiz RS0118444, RS0099453).
Mit ihren Berufungen waren der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung zu verweisen.
Textnummer
E121254European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:0140OS00021.18X.0410.000Im RIS seit
02.05.2018Zuletzt aktualisiert am
22.01.2019