TE Vfgh Erkenntnis 2018/2/27 E3507/2017

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Veröffentlicht am 27.02.2018
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend eine - der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensgemeinschaft zugehörige - afghanische Familie mangels nachvollziehbarer Begründung der Entscheidung im Hinblick auf die fehlende Berücksichtigung der Minderjährigkeit des Dritt- und Viertbeschwerdeführers im Rahmen der Beurteilung der Sicherheitslage in Afghanistan und Kabul im Falle der Rückkehr; teilweise Ablehnung der Beschwerdebehandlung

Spruch

I. 1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§57 Asylgesetz 2005), gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und gegen die Festsetzung einer vierzehntätigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das angefochtene Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt. Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.        Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1.       Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und schiitischen Glaubens. Der Erstbeschwerdeführer ist der Ehegatte der Zweitbeschwerdeführerin, beide sind die Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer. Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Drittbeschwerdeführer wurden in der Stadt Kabul geboren. Der Erstbeschwerdeführer lebte bis zu seiner Hochzeit mit der Zweitbeschwerdeführerin im März 2010 mit seinem Vater und seinen Brüdern im Elternhaus in der Stadt Kabul. Seine Mutter verstarb, als der Erstbeschwerdeführer dreizehn Jahre alt war. Der Erstbeschwerdeführer besuchte in Afghanistan keine Schule und hat auch keine Berufsausbildung. Er arbeitete im Geschäft seines Vaters mit. Von April 2012 bis Mai 2014 lebten der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin, der Drittbeschwerdeführer sowie der Vater und der Bruder des Erstbeschwerdeführers im Iran. Da sie dort keine Aufenthaltspapiere erhielten und die Kinder nicht zur Schule gehen konnten, kehrten sie wieder in die Stadt Kabul zurück, wo sie bis zur neuerlichen Ausreise im Dezember 2014 im Elternhaus des Erstbeschwerdeführers lebten. Der Erstbeschwerdeführer arbeitete nach seiner Rückkehr aus dem Iran in Kabul als Taxilenker.

2.       Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Drittbeschwerdeführer stellten nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet am 21. Mai 2015 Anträge auf internationalen Schutz.

3.       Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25. Juni 2015 wurden die Anträge der Erst- bis Drittbeschwerdeführer auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, gemäß §5 Abs1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Ungarn für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz gemäß Art18 Abs1 litb der Verordnung (EU) Nr 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zuständig sei. Gleichzeitig wurde gegen die Erst- bis Drittbeschwerdeführer gemäß §61 Abs1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß §61 Abs2 FPG ihre Abschiebung nach Ungarn zulässig sei.

4.       Die dagegen fristgerecht eingebrachten Beschwerden wurden mit Beschlüssen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. August 2015 gemäß §28 Abs1 VwGVG (für den Drittbeschwerdeführer) sowie gemäß §28 Abs1 VwGVG iVm §34 AsylG 2005 (für den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin) als unzulässig zurückgewiesen.

5.       Begründet wurden diese Entscheidungen damit, dass der Erledigung betreffend den Drittbeschwerdeführer vom 25. Juni 2015 die Unterschrift des Genehmigenden fehle, was diese Erledigung zu einem „Nichtbescheid“ bzw. rechtlich nicht existent mache, weshalb die Beschwerde – als gegen ein rechtliches Nullum gerichtet – als unzulässig zurückzuweisen sei. Da demnach das Verfahren des minderjährigen Drittbeschwerdeführers nach wie vor beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) anhängig sei und eine Erledigung dieses Antrages noch ausstehe, seien auch die Beschwerden des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin auf Grund der Bestimmungen des §34 AsylG zurückzuweisen.

6.       Am 16. Februar 2016 wurde der Viertbeschwerdeführer in Österreich geboren. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stellten für diesen im Rahmen eines Familienverfahrens am 29. Februar 2016 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.

7.       Mit Bescheiden vom 30. November 2016 des BFA wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Den Beschwerdeführern wurde gemäß §57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG iVm §9 BFA-VG wurden gegen sie Rückkehrentscheidungen gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und weiters gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß §46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Zudem wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

8.       Begründet wurden die Entscheidungen damit, dass die Beschwerdeführer keine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung in Afghanistan hätten glaubhaft machen können. Auch eine refoulementschutzrechtlich relevante Gefährdung im Fall einer Rückkehr sei nicht gegeben. Die Ausweisung der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet stelle keinen unzulässigen Eingriff in ihre durch Art8 EMRK geschützten Rechte dar.

9.       Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit – dem nun im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof gegenständlichen – Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. September 2017, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, abgewiesen.

10.      In seiner Entscheidung führt das BVwG unter anderem aus, dass die Feststellungen zur Lage in Afghanistan auf den im Erkenntnis angeführten Quellen beruhten und in der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht mit den Beschwerdeführern und ihrem bevollmächtigten Vertreter erörtert worden seien, wobei weder die Beschwerdeführer noch der bevollmächtigte Vertreter diesen Länderfeststellungen substantiiert entgegengetreten seien. Bei den Quellen handle es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben würden. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen bestehe für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln.

11.      Zur Lage im Herkunftsstaat trifft das Bundesverwaltungsgericht unter anderem folgende Feststellungen:

"Zivile Opfer

Zwischen 1.1. und 30.6.2015 registrierte UNAMA 4.921 zivile Opfer (1.592 Tote und 3.329 Verletzte) – dies deutet einen Rückgang von 6% bei getöteten bzw. von 4% bei verletzten Zivilisten (UNAMA 8.2015).

Konfliktbedingte Gewalt hatte in der ersten Hälfte 2015 Auswirkungen auf Frauen und Kinder. UNAMA verzeichnete 1.270 minderjährige Opfer (320 Kinder starben und 950 wurden verletzt). Das ist ein Anstieg von 23% im Vergleich zu den ersten sechs Monaten 2014. Es gab 559 weibliche Zivilopfer, davon wurden 164 Frauen getötet und 395 verletzt. Das bedeutet einen Anstieg von 13% gegenüber 2014 (UNAMA 8.2015).

[…]

Kinder

Auch wenn die Menschenrechtssituation von Kindern insgesamt Anlass zur Sorge gibt, hat sich ihre Situation teilweise in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. 8 Millionen Schulkindern rund 3 Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufen ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Uruzgan, Zabul, Paktika und Helmand) (AA 16.11.2015).

Körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld, in Schulen oder durch die afghanische Polizei sind verbreitet. Dauerhafte und durchsetzungsfähige Mechanismen seitens des Bildungsministeriums, um das Gewaltpotenzial von Lehrern zu beobachten oder einzudämmen, gibt es nicht. Gerade in ländlichen Gebieten gehört die Ausübung von Gewalt zu den gebräuchlichen Erziehungsmethoden an Schulen. Das Curriculum für angehende Lehrer beinhaltet Hilfestellung zur Vermeidung eines gewaltsamen Umgangs mit Schülern (AA 16.11.2015).

Vor allem in den Rängen von Armee und Polizei, aber nicht nur dort, ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in weiten Teilen Afghanistans nach wie vor ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird nicht selten unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten („Bacha Bazi“, so genannte „Tanzjungen“) verschwiegen und verharmlost (AA 16.11.2015; vgl. USDOS 25.6.2015). Die afghanische Menschenrechtskommission AIHRC hat sich 2014 mit einer nationalen Studie des Themas angenommen. Die Befragung zeigt den weitverbreiteten Missbrauch von Jungen zwischen 10 und 18 Jahren. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein. Die Jungen werden oft von armen Familien verkauft, sexuell missbraucht, weiter gehandelt oder auch getötet. Die Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung verstoßen; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt. Das Thema wurde jüngst auch von internationalen Medien aufgenommen, als es zu Vorwürfen gegen die US-Armee kam, den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in den ANDSF bewusst geduldet zu haben (AA 16.11.2015).

Das von der AIHRC geleitete Komitee zum Thema Bacha B?z?, reichte beim Justizministerium einen Gesetztesentwurf ein, um diese Praxis zu kriminalisieren. Nach intensiver medialer Auseinandersetzung über vermeintliche Misshandlungen durch afghanische Sicherheitskräfte, ordnete der Präsident am 23. September 2015, die Errichtung einer Körperschaft - bestehend aus dem Büro der Generalstaatsanwaltschaft, dem Innenministerium und der AIHRC - zur Untersuchung, Überwachung und Einrichtung eines Überwachungsmechanimus an, um sexuellen Missbrauch von Kindern zu verhindern und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen (UN GASC 10.12.2015).

Das Arbeitsgesetz in Afghanistan setzt das Alter für Arbeit mit 18 Jahren fest, erlaubt aber 14 -Jährigen als Lehrlinge zu arbeiten, sowie 15-Jährigen (und älter) „einfache Arbeit“ zu verrichten. Auch dürfen 16- und 17-Jährige bis zu 35 Stunden pro Woche arbeiten. 14-Jährigen ist es unter gar keinen Umständen erlaubt zu arbeiten. Das Arbeitsgesetz verbietet die Anstellung von Kindern in Bereichen, die ihre Gesundheit gefährden oder sie zu Invaliden machen könnte. Es gibt keine Liste, die gefährliche Jobs definiert (USDOS 25.6.2015).

Afghanistan hat die Konvention zum Schutze der Kinder ratifiziert. Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten. Dennoch haben im Jahr 2014 laut AIHRC 51,8% der Kinder auf die eine oder andere Weise gearbeitet. Viele Familien sind auf die Einkünfte, die ihre Kinder erwirtschaften, angewiesen. Daher ist die konsequente Umsetzung eines Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt allerdings Programme, die es Kindern erlauben sollen, zumindest neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z.B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) wurden gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen dieser gesetzlichen Regelungen. 6,5 Mio. Kinder gelten als Gefahren ausgesetzt (AA 16.11.2015). Allgemein kann gesagt werden, dass schwache staatliche Institutionen die effektive Durchsetzung des Arbeitsrechts hemmen und die Regierung zeigt nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien (USDOS 26.5.2015).

Die Regierung untersuchte mit internationaler Hilfe offiziell alle Rekruten der bewaffneten Kräfte und Polizei und lehnte AnwärterInnen unter 18 Jahren ab. Es gab Berichte über die Rekrutierung von Kindern und deren Einsatz für militärische Zwecke durch die ANSF und regierungsfreundliche Milizen. Im Rahmen eines Aktionsplan der Regierung, setzte die ANP Schritte: 150 neue Mitarbeiter/innen wurden in Bezug auf Altersfestellungsprozesse ausgebildet, den Start einer Sensibilisierungskampagne in Bezug auf minderjährigen Rekrutierung, die Untersuchung von angeblichen minderjährigen Rekrutierungen und die Errichtung einer Zentrums in manchen Provinzzentren, um Rekrutierungsversuche von Minderjährigen zu dokumentieren. Alle Rekruten müssen sich einer Identitätsfeststellung unterziehen, welche beinhaltet, dass mindestens zwei Gemeinschaftsführer für die Volljährigkeit des Rekruten und dessen Eintrittsberechtigung in die ANSF, bürgen (USDOS 25.6.2015). EASO berichtet, dass die Taliban die Rekrutierungen Minderjähriger bestreiten, jedoch wird davon ausgegangen, dass die Taliban Minderjährigkeit anders definieren (EASO 12.2012).

Das Jugendgesetz besagt, dass Kinder nicht unter denselben Voraussetzungen festgehalten werden dürfen wie Erwachsene. Das Gesetz besagt auch, dass die Verhaftung eines Kindes als letztes Mittel und nur für die kürzestmögliche Zeit vorgenommen werden soll. In einem Bericht aus dem Jahre 2011 wurde festgehalten, dass verhafteten Kindern Basisrechte wie z.B. die Unschuldsvermutung, das Recht auf einen Anwalt, oder das Recht auf Information über die Haftgründe usw. verwehrt wurden. Das Gesetz sieht eine eigene Jugendgerichtsbarkeit vor, limitierte Ressourcen erlauben bisher aber nur Jugendgerichte in sechs Gebieten: Kabul, Herat, Balkh, Kandahar, Jalalabad und Kunduz. In anderen Provinzen, in denen spezielle Gerichte nicht existieren, fallen Kinder unter die Zuständigkeit allgemeiner Gerichte (USDOS 27.2.2014; vgl. USDOS 25.6.2015).

Laut den Vereinten Nationen wurden in 303 dokumentierten Anschlägen mindestens 159 Kinder getötet und 505 verletzt. Dies deutet einen Rückgang von 10% im Vergleich zum vorherigen Berichtszeitraum an. Zwar ist ein signifikanter Rückgang der Angriffszahl auf Schulen und Bildungspersonal von 41 auf 22 zu verzeichnen gewesen, jedoch führte die Talibanoffensive auf Kunduz zur Schließung von 497 Schulen und verhinderte so den Zugang von 330.000 Kindern (UN GASC 10.12.2015).

Viele Kinder sind unterernährt. Ca. 10% (laut offizieller Statistik 91 von 1.000, laut Weltbank 97 von 1.000) der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt (AA 16.11.2015)."

12.      Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Erkenntnis zur Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides (zur Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten) im Wesentlichen aus:

"Trotz der weiterhin als instabil zu bezeichneten allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan erscheint daher eine Rückkehr der Beschwerdeführer nach Afghanistan im Hinblick auf die regional und innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt unterschiedlichen Sicherheitslage nicht grundsätzlich ausgeschlossen und aufgrund der individuellen Situation der Beschwerdeführer insgesamt auch zumutbar. Für die hier zu erstellende Gefahrenprognose ist zunächst zu berücksichtigen, dass es den Erst- bis Drittbeschwerdeführern bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan – trotz der allgemeinen schlechten Sicherheitslage – möglich war, offenbar ohne größere Probleme in Kabul zu leben. Auch ihrem sonstigen Vorbringen ist keine gravierende Einschränkung einer Bewegungsfreiheit aus Sicherheitsgründen zu entnehmen. Auch das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, wonach die Sicherheitslage in Afghanistan sehr schlecht sei, führt zu keiner anderen Beurteilung, zumal es für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht ausreicht, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan zu berufen, sondern es müssen von den Betroffenen auch individuelle Umstände glaubhaft gemacht werden bzw. detailliert und konkret dargelegt werden, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die im Fall der Rückkehr nach Afghanistan eine reale Gefahr der Verletzung des Art3 EMRK für maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen. Solche Umstände konnten die Beschwerdeführer im Verfahren jedoch nicht glaubhaft machen. Zudem leben und arbeiten zahlreiche Verwandte der Beschwerdeführer in der Stadt Kabul und haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht auch keine Probleme oder gravierende Einschränkungen einer Bewegungsfreiheit dieser Verwandten aus Sicherheitsgründen vorgebracht.

Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer nach ihrer Rückkehr in ihr Heimatland in eine ausweglose Lebenssituation geraten könnten. Die Erst- bis Drittbeschwerdeführer sind in der Stadt Kabul aufgewachsen und lebten dort vor ihrer Ausreise. Zudem leben laut Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung ihre Familien in Kabul. Der Bruder des Erstbeschwerdeführers und die Onkel des Erstbeschwerdeführers besitzen in Kabul jeweils eigene Geschäfte. Der Ehegatte der Schwester des Erstbeschwerdeführers sowie ihre erwachsenen Söhne arbeiten in Kabul. Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin besitzt in Kabul eine Metzgerei. Die Beschwerdeführer verfügen somit in der Stadt Kabul über eine Vielzahl an sozialen Anknüpfungspunkten und wird es ihnen daher möglich sein, bei ihren dort lebenden Verwandten Unterkunft und finanzielle Unterstützung zu finden. Zudem ist der Erstbeschwerdeführer jung, gesund und arbeitsfähig und hat auch vor der Ausreise aus Afghanistan bereits viele Jahre gearbeitet, sodass bei ihm im Falle einer Rückkehr die grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Es kann sohin nicht erkannt werden, dass den Beschwerdeführern im Falle einer Rückkehr nach Kabul dort die notwendigste Lebensgrundlage entzogen und dort auch die Schwelle des Art3 EMRK überschritten wäre.

Im Hinblick auf die gegebenen Umstände kann daher ein „reales Risiko“ einer gegen Art2 oder Art3 EMRK verstoßenden Behandlung bzw. der Todesstrafe im Falle der Rückkehr der Beschwerdeführer nach Afghanistan, insbesondere in ihre Heimatstadt Kabul, im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkannt werden."

13.      Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes BGBl 390/1973) sowie eine Verletzung des Art3 und Art8 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

II.      Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2.       Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur, VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander. Deren Ungleichbehandlung ist nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3.       Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

3.1. Die im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Länderberichte enthalten unter anderem auch allgemeine Ausführungen zur Situation von Kindern in Afghanistan. Aus den Länderberichten geht hervor, dass die Menschenrechtssituation von Kindern insgesamt Anlass zur Sorge gebe, körperliche Züchtigungen und Übergriffe im familiären Umfeld, in Schulen oder durch die afghanische Polizei verbreitet seien und der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in weiten Teilen Afghanistans nach wie vor ein großes Problem sei. Der sexuelle Missbrauch von Jungen sei weitverbreitet, eine polizeiliche Aufklärung finde nicht statt. Die Länderberichte nennen Kinderarbeit als Problem, die Regierung zeige auch nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien. Abschließend stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass viele Kinder unternährt seien und ca. 10% der Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr sterben würden.

3.2. In seiner Begründung zur Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten setzt sich das Bundesverwaltungsgericht nicht weiter mit der Situation von Minderjährigen in Afghanistan (bzw. Kabul) insgesamt und diesbezüglich auch nicht mit den in der angefochtenen Entscheidung zitierten Länderberichten auseinander. Das Bundesverwaltungsgericht geht damit im angefochtenen Erkenntnis auf die Minderjährigkeit des Dritt- und Viertbeschwerdeführers nicht ausreichend ein. Es unterlässt jegliche Auseinandersetzung mit den kinderspezifischen Länderberichten und der Frage, ob dem zum Zeitpunkt der Entscheidung sechsjährigen Drittbeschwerdeführer und dem einjährigen Viertbeschwerdeführer, im Fall einer Rückkehr eine Verletzung ihrer gemäß Art2 und Art3 EMRK gewährleisteten Rechte droht (vgl. hiezu jüngst VfGH 21.9.2017, E2130/2017 ua.; 11.10.2017 E1734/2017 ua.; 11.10.2017 1803/2017 ua.). Die Entscheidung ist daher in Bezug auf den Dritt- und Viertbeschwerdeführer, begründungslos ergangen.

3.3. Soweit sich das Erkenntnis auf die Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigter an den Dritt- und Viertbeschwerdeführer und – daran anknüpfend – auf die Zulässigerklärung der Rückkehrentscheidung bzw. der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer freiwilligen Frist zur Ausreise bezieht, ist es somit mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben. Dieser Mangel schlägt gemäß §34 Abs4 AsylG auf die Entscheidungen betreffend den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin durch (VfSlg 19.855/2014; VfGH 24.11.2016, E1085/2016 ua.) und belastet auch diese mit objektiver Willkür (VfSlg 19.401/2011 mwN). Daher ist das Erkenntnis auch betreffend den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin – im selben Umfang wie hinsichtlich des Dritt- und Viertbeschwerdeführers – aufzuheben.

4.       Im Übrigen (hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten) wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

4.1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 BVG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

4.2. Die Beschwerde rügt die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) sowie auf Art3 und Art8 EMRK. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III.    Ergebnis

1.       Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit ihre Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.       Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerden abgelehnt und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten.

3.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z4 VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 523,20 enthalten. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag, zuzusprechen.

Schlagworte

Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Entscheidungsbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:E3507.2017

Zuletzt aktualisiert am

25.04.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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