TE Bvwg Erkenntnis 2018/4/9 W147 2190906-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.04.2018
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Entscheidungsdatum

09.04.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §18
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z5

Spruch

W147 2190906-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Kanhäuser als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Verein Menschenrechte, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19. Februar 2018, Zl: 800167101-150284435, nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 6. April 2018 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 7 Abs. 4, § 8 Abs. 1 Z 2 sowie §§ 55 und 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, § 10 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr. 87/2012 idgF und §§ 46, 52 Abs. 2 und Abs. 9, 53 Abs. 1 und Abs. 3 Z 5 Fremdenpolizeigesetz - FPG, BGBl I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunk V. wird gemäß § 18 BFA-VG stattgegeben und dieser ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste im Februar 2010 unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein und stellte am 23. Februar 2010 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Zuge der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23. Februar 2010 und der niederschriftlichen Einvernahme am 11. März 2010 brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, er sei in den Jahren 1995 und 1996 tschetschenischer Widerstandskämpfer gewesen und anlässlich einer Kontrolle im Jahre 1999 verhaftet worden. Von XXXX sei er inhaftiert gewesen und wegen XXXX verurteilt worden. In Österreich auhältig seien seine Gattin und sein Kind.

In einer weiteren Einvernahme am 2. Juni 2010 beantragte der Beschwerdeführer sodann, dass sein Antrag als Antrag im Familienverfahren gewertet werde, da seiner Gattin und dem gemeinsamen Kind bereits der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden sei und legte als Nachweis seiner Familienangehörigkeit eine Heiratsurkunde vor.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 8. Juni 2010, Zahl: 10 01.671-BAG wurde dem Beschwerdeführer sodann gemäß § 3 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

2. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX rechtskräftig mit XXXX wurde der Beschwerdeführer gemäß § 75 StGB zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Diesem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Beschwerdeführer hat am XXXX einen Dritten durch Versetzen von vier oder fünf Messerstichen in den linken Brustkorb, wobei die linke Lunge durchstochen wurde und diese dritte Person verblutete, vorsätzlich getötet. Bei der Strafbemessung wurde die einschlägige Vorstrafe des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation und die brutale Vorgehensweise gewertet. Mildernd berücksichtigt wurde die Beeinträchtigung durch Suchtgift während der Tatbegehung und das Faktengeständnis, wobei die subjektive Tatseite vehement bestritten wurde.

3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl leitete von Amts wegen ein Verfahren auf Aberkennung des Status des Asylberechtigten ein und forderte den Beschwerdeführer mit Schreiben vom 24. April 2015 zur Stellungnahme binnen zwei Wochen auf.

In seinem Antwortschreiben, eingelangt bei der Behörde am 27. Mai 2015, führte der Beschwerdeführer aus:

Ich, XXXX , geboren am XXXX im Dorf XXXX , in der XXXX Sozialistischen Sowjetrepublik, derzeit in der XXXX , schreibe Ihnen auf Russisch, weil ich die deutsche Sprache noch nicht gut genug beherrsche und da es für mich leichter ist, die gestellten Fragen ausführlicher auf Russisch zu beantworten. Ich bitte um Entschuldigung für die von mir verursachten Schwierigkeiten bei der Übersetzung.

Zurzeit werde ich gerade in Tschetschenien von niemandem verfolgt. Da aber die Republik Tschetschenien momentan ein Subjekt von Russland - der Russischen Föderation - ist, kann ich keine Garantie geben, dass ich nach meiner Rückkehr in die Russische Föderation ruhig leben kann, da ihre Geheimdienste - FSB und OBOP (Anm. d. Üb: Abteilung für Bekämpfung der organisierten Kriminalität) - kein gesundes Interesse an mir haben. Sogar in Österreich erfahre ich, dass sich diese Geheimdienste nach mir erkundigen: wo ich mich befinde, womit ich mich beschäftige. FSB hat XXXX zweimal mitgenommen, verhört und versucht herauszufinden, wie ich ausreisen konnte, was ich mache, wo ich lebe.

Ich habe keine Fehler oder Straftaten begangen, für die ich in Russland zur Verantwortung gezogen werden könnte. Aber wie man so sagt: "Wenn es einen Menschen gibt, dann finden wir einen Paragraphen." Das ist bis heute aktuell.

Wenn diese Geheimdienste dies so wollen, dann werden sie etwas finden, oder etwas erfinden, um dieses Ziel zu erreichen.

In der Russischen Föderation gibt es ein Moratorium für die "Todesstrafe" - für die Erschießung. Aber alle für die Behörden unerwünschten Menschen, die Ansprüche wegen der Ungerechtigkeit haben, die Informationen haben usw. - all diese Menschen sterben unter verschiedenen Umständen und sehr oft an "Herzinsuffizienz". Personen, die unter dem Druck bestimmter Umstände der Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten der Russischen Föderation zustimmen, bleiben am Leben und werden bis zu einer bestimmten Zeit in Gefängnissen gehalten, danach werden sie nach Bedarf ausgenutzt. Für diejenigen, die die Erwartungen nicht erfüllt haben, die für die Behörden unerwünscht sind, die abgearbeitet und danach unerwünscht sind, ist der Herzstillstand eine sehr gängige Praxis bei den vollkommen gesunden Menschen. Die Vertreter der Russischen Föderation halten somit am Moratorium für die Todesstrafe, beseitigen aber gleichzeitig alle für die Behörden unerwünschten Personen. Still und lautlos. Ich kann nicht sagen, dass ich in Russland sicher leben werde. Meine Schuld liegt darin, dass ich in Tschetschenien geboren bin und dort gelebt habe, dass ich das sagen will, "was ich für richtig halte". Folter, Demütigung, Prügel, Erschießung - das alles habe ich bereits durchgemacht. Die Ergebnisse von dem, was ich durchgemacht habe, liegen vor. Davon spricht auch mein momentaner Aufenthaltsort. Ich möchte die Verantwortung dafür, was ich begangen habe, nicht ablehnen und verstehe die ganze Schwere dieser Straftat.

Es ist aber meine Pflicht zu sagen: ich bin weder als Mörder noch als Verbrecher geboren worden. Ich bin in einer normalen liebevollen Familie geboren und erzogen worden. Ich habe die Schule besucht, danach die Hochschule, habe den Militärdienst abgeleistet, trainiert und bin in einer gesunden Umgebung aufgewachsen, habe guten Ruf gehabt und war immer im Vordergrund. Nach dem Abschluss der Hochschule habe ich geheiratet. Meine Tochter wurde geboren, ich habe gearbeitet, habe die zerstörte Stadt, Unternehmen, Häuser wiederaufgebaut. Ich habe mein Eigentum gehabt - Wohnung, Haus, ein bisschen Grundstück, bis der Krieg begonnen hat. Von dieser Zeit an haben meine Lebensprobleme begonnen. Letztendlich war ich gezwungen die Russische Föderation zu verlassen. Mir wurde ins Gesicht gesagt:

"Du willst nicht mit uns arbeiten, dann fahr weg. Im besten Fall kommst du ins Gefängnis zurück - daran gibt es aber große Zweifel, ansonsten - wenn es den Menschen nicht gibt, dann gibt es auch keine Probleme."

Ich wurde sehr gut aufgenommen, als ich nach Österreich kam. Dafür bin ich allen, die an meinem Schicksal teilgenommen haben, sehr dankbar. Danke.

Ich habe im Lager, auf Baustellen, bei der Sortierung der XXXX gearbeitet. Danach begannen die gesundheitlichen Probleme. Von der letzten Arbeit wurde ich rückwirkend gekündigt, als ich im Krankenhaus war. Ich wurde zweimal operiert, ernste achtstündige Operation an der Wirbelsäule, aus der Gallenblase wurden Steine entfernt, aus den Nieren wurden Steine entfernt, mein Magen - Gastritis - wurde geheilt. Nach der Untersuchung wurde bei mir Hepatitis C festgestellt, womit mich die Mitarbeiter der Strafkolonie XXXX , wo ich in Russland inhaftiert war, angesteckt haben. Ich war in Behandlung beim Psychologen und beim Psychiater, hatte auch ernste Probleme mit der Gesundheit und mit dem Schlaf, seit 2012. Ich bin allen Ärzten sehr dankbar. Vielen Dank allen, die täglich Menschen helfen und ihnen die Gesundheit zurückgeben.

Mein Familienleben war nicht einfach. Meine Familie - XXXX (Ehefrau) und XXXX (Tochter) - war sehr geduldig und aufmerksam zu mir, sie wussten "woher" ich zu ihnen zurückgekehrt bin. Bis zur ihrer Ausreise waren sie ja Zeugen von einigen Vorfällen zu Hause. Als ich nach XXXX zu meiner Familie kam, lebten wir die ersten 11 Monate zusammen, wir arbeiteten zusammen. Danach haben meine Frau und meine Tochter die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt. Bis zur Vollendung eines 6-jährigen Aufenthaltes in Österreich fehlten mir noch weitere 4 Jahre. Ende 2012 bekamen wir eine Gemeindewohnung in XXXX , wo zurzeit meine Ehefrau XXXX und meine Tochter XXXX wohnen. Sie unterstützen mich, helfen mir, besuchen mich zurzeit.

In Österreich lebt mein Bruder XXXX , er lebte in XXXX . In XXXX leben mit ihrer Mutter (Exfrau meines Bruders) meine Neffen - XXXX und XXXX , Nichten - XXXX . Es gibt entfernte Verwandte, nahe Verwandte gibt es keine mehr.

Am XXXX habe ich eine Straftat nach § 75 StGB der Republik Österreich begangen, das bereue ich sehr. Obwohl es in meinem Akt für mich viel Unverständliches gibt. Ich habe jedoch an niemanden Ansprüche, außer an mich. Es kann sein, dass ich mit meinen XXXX Jahren nicht alles im Leben verstehe, ich möchte Ihnen aber versichern, dass ich die Bedeutung der Worte "gut-schlecht" sehr gut verstehe.

Ich bin den Menschen in diesem Land aufrichtig dankbar, dass sie geholfen haben, Unterkunft gegeben haben, die Ausbildung meiner Tochter ermöglicht haben, die Zuflucht gegeben haben, als ich selbst in einer Situation war, in der ich nicht nur meiner Familie nicht helfen konnte, sondern auch nicht sicher war, ob ich morgen leben werde. Danke all denen, welchen meine Familie, meine Verwandten und zu guter Letzt mein Schicksal nicht gleichgültig waren. Man hat die Möglichkeit gegeben, das Leben noch einmal von vorne zu beginnen. Ich bin für meine Probleme selbst schuld. Aller Wahrscheinlichkeit nach bin ich mit der Situation wegen der psychischen und gesundheitlichen Probleme nicht zurechtgekommen. Alles, was ich durchgemacht habe, war sehr schwer für mich. Ich habe es nicht geschafft, mich zurechtzufinden und meine Energie und Aufmerksamkeit in die richtige Richtung zu lenken. Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung und bin Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit im Voraus sehr dankbar."

4. In weiterer Folge blieb die Behörde untätig.

5. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19. Februar 2018!!!!! wurde der mit Bescheid vom 8. Juni 2010 durch das Bundesasylamt zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.).

Unter Spruchpunkt II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt.

Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 55 und 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 2 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 1 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG zulässig ist.

Mit Spruchpunkt IV. wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen und schlussendlich einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).

Nach allgemeinen Feststellungen zur Lage in der Russischen Föderation mit Stand Februar 2018!!!!! und nach Wiedergabe des Verfahrensganges verwies die belangte Behörde auf die dargestellte Verurteilung im Bundesgebiet.

Der Beschwerdeführer habe durch die einschlägige rechtskräftige Verurteilung wegen Mordes einen nachträglichen Asylausschlussgrund gesetzt.

Betreffend die Feststellungen zur Situation im Fall der Rückkehr verneinte die belangte Behörde, dass eine Gefährdung der Person des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in die Russische Föderation bestehe. Als Staatsbürger der Russischen Föderation mit tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, welcher sich dem moslemischen Glauben zugehörig fühle, gehöre er in der Russischen Föderation einer Bevölkerungsgruppe an, bei der im Grunde hinsichtlich der ethnischen Herkunft und religiösen Orientierung eine Gefährdung nicht gegeben sei bzw. auch nach seinen eigenen Angaben nicht erwartet werde. Im Übrigen werde auf die diesbezüglichen Länderfeststellungen verwiesen.

Seine gerichtliche Verurteilung in Österreich nach § 75 StGB sei öffentlich nicht bekannt. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass er auf Grund der Verurteilung in Österreich automatisch einer Überwachung der Behörden der Russischen Föderation unterliegen würde. Zudem seien im Verfahren zu keiner Zeit begründete Hinweise zu Tage getreten, oder solche vom Beschwerdeführer behauptet worden, wonach ihm bei einer Rückkehr eine Doppelbestrafung im Sinne des Art 4 des 7. ZProt der EMRK im Hinblick auf seine Verurteilung in Österreich drohe. Die Russische Föderation habe sich im Rahmen der EMRK zur Einhaltung des Prinzips "ne bis in idem" verpflichtet und seien auch keine Hinweise bekannt, dass das Doppelbestrafungsverbot von Russland nicht beachtet würde. Auch stünde im Falle einer Verletzung dieses in der EMRK verbrieften Rechtes durch innerstaatliches Recht der Rechtsweg in Form einer Beschwerdeerhebung an den EGMR offen.

Der Beschwerdeführer sei ein gesunder und arbeitsfähiger Mann. Der Beschwerdeführer habe in der Russischen Föderation gelebt, sei sohin dort sozialisiert worden und mit den örtlichen Gepflogenheiten bestens vertraut.

Dem Beschwerdeführer drohe im Falle der Rückkehr nicht, in eine aussichtslose oder hoffnungslose Lage zu geraten.

Zu seinem Privat- und Familienleben wurden keine Feststellungen getroffen.

In rechtlicher Hinsicht verwies die belangte Behörde darauf, dass die zwingende Aberkennung des Status des Asylberechtigten vorliege. Der Beschwerdeführer habe ein besonders schweres Verbrechen begangen und stelle aufgrund der Begehungsart (brutale Vorgangsweise) und der negativen Zukunftsprognose eine Gefahr für die Gemeinschaft dar.

Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in sein Herkunftsland eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. In Falle des Beschwerdeführers drohe ihm keine der obgenannten Gefahren.

Im Hinblick auf die unsubstantiiert in Erwägung gezogene Möglichkeit der Gefahr einer Doppelbestrafung, sei insbesondere zu berücksichtigen gewesen, dass in rechtlicher Hinsicht eine Doppelbestrafung/-verfolgung durch Art. 4 des 7. ZProt zur EMRK verboten sei und Russland dieses Protokoll ratifiziert habe. Es sei am 01.08.1998 in Kraft getreten (siehe Treaty Office des Europarates, http://www.coe.int/). Zuletzt habe etwa auch das BVwG am 06.12.2016 zu W211 1428789-2/9E in einem gleichgelagerten Fall ausgeführt: "Die Russische Föderation ist Mitglied des Europarates, und trat für diesen Mitgliedsstaat das 7. Zusatzprotokoll zur EMRK am 01.08.1998 in Kraft. [...] Die Russische Föderation hat sich im Rahmen der EMRK zu einer Einhaltung des Prinzips "ne bis in idem" verpflichtet und wäre die beschwerdeführende Partei im Falle einer solchen erneuten Verurteilung auf den innerstaatlichen - russischen - Rechtsweg und in weiterer Folge auf die Möglichkeit einer Beschwerdeerhebung an den EGMR zu verweisen".

Für eine Rückkehrentscheidung spreche, dass der Beschwerdeführer seit der Inhaftierung wegen Mordes getrennt von der Gattin und seinem Kind lebe. Selbst wenn er von diesen Angehörigen in der Haft besucht werden sollten, könne nicht mehr von einem Familienleben im Sinne eines konstanten Zusammenlebens gesprochen werden. Er sei zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden und könne somit auch von einem zukünftigen Familienleben nicht ausgegangen werden. Bis zu seiner Entlassung aus der Haft werde auch das Kind erwachsen sein. Mit diesen Angehörigen würde er auch in Zukunft in keinem Naheverhältnis leben, somit sei die Beziehung nicht so eng wie bei einer Kernfamilie sondern vielmehr als lose zu bezeichnen. Dasselbe gelte auch für die Bindung zu seinem Bruder, der in Dornbirn lebe. Seine Deutschkenntnisse seien als rudimentär zu bezeichnen.

In Zusammenhang mit der Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbotes hielt die belangte Behörde fest, der Beschwerdeführer sei von einem inländischen Gericht rechtskräftig wegen des Verbrechens des Mordes verurteilt worden. Festgestellt werde, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich darstelle und dass er wegen eines besonders schweren Verbrechens verurteilt wurde und aufgrund dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeute.

Schließlich wurde einer Beschwerde gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung aberkannt. Begründend wurde dies, dass der weitere Verbleib des Beschwerdeführers eine gegenwärtige Gefahr und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle; seine sofortige Ausreise sei daher erforderlich.

6. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.

7. Am 6. April 2018 fand zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die russische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung im Landesgericht XXXX statt, in welcher der Beschwerdeführer zu seinen Rückkehrbefürchtungen, seinem Familien- und Privatleben und allfälligen Integrationsaspekten sowie seinem Gesundheitszustand befragt wurde.

Das Bundesverwaltungsgericht hat zur vorliegenden Beschwerde wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer, dessen Identität feststeht, ist russischer Staatsbürger mit tschetschenischer Volksgruppe und muslimischem Glaubensbekenntnis.

Der Beschwerdeführer reiste im Februar 2010 unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein und stellte am 23. Februar 2010 einen Antrag auf internationalen Schutz. In weiterer Folge beantragte der Beschwerdeführer sodann, dass sein Antrag als Antrag im Familienverfahren gewertet werde, da seiner Gattin und den Kindern bereits der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden sei und legte als Nachweis seiner Familienangehörigkeit eine Heiratsurkunde vor.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 8. Juni 2010, Zahl: 10 01.671-BAG wurde dem Beschwerdeführer sodann gemäß § 3 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX , rechtskräftig mit XXXX wurde der Beschwerdeführer gemäß § 75 StGB zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, da er am XXXX einen Dritten durch Versetzen von vier oder fünf Messerstichen in den linken Brustkorb, wobei die linke Lunge durchstochen wurde und diese dritte Person verblutete, vorsätzlich getötet hat.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig, hat in Österreich keinerlei Ausbildung abgeschlossen und in der Russischen Föderation die Schule besucht. Er beherrscht ein wenig Deutsch, Russisch und Tschetschenisch. Bis 2010 lebte er in der Russischen Föderation, wurde dort sozialisiert und ist mit den örtlichen Gepflogenheiten vertraut. Zahlreiche Angehörige des Beschwerdeführers leben im russischen Staatsgebiet, sowohl in der Teilrepublik Tschetschenien als auch außerhalb, etwa in Moskau.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer nach einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass dieser konkret Gefahr liefe, in seinem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden. Eine Wiedereinreise in die Russische Föderation kann ohne Gefährdung seiner Person erfolgen.

Der Beschwerdeführer ist Ehegatte und Vater einer erwachsene Tochter, die zum Aufenthalt in Österreich berechtigt sind. Weiters leben in Österreich ein Bruder sowie dessen Familie.

Er ist seit 15. Jänner 2014 in verschiedenen Haftanstalten im österreichischen Bundesgebiet durchgehend inhaftiert ist. Bedingt durch die Inhaftierung ist derzeit nicht von einem Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK auszugehen. Er leistet keinen Unterhalt und wird von seiner Ehegattin alle drei Wochen besucht.

Mit Urteil des XXXX , rechtskräftig mit XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen Mordes gemäß § 75 StGB zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt und eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet.

Zur Lage in der Russischen Föderation/Tschetschenien wird festgestellt:

1.2. Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation werden folgende Feststellungen getroffen:

"Politische Lage

Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 20.6.2014, vgl. GIZ 2.2015c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12.6.1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12.12.1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Russischer Präsident ist seit dem 7.5.2012 Wladimir Wladimirowitsch Putin. Er wurde am 4.3.2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident; zuvor war er auch 1999-2000 und 2008-2012 Ministerpräsident. Dmitri Anatoljewitsch Medwedew, seinerseits Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8.5.2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Bei der letzten Dumawahl im Dezember 2011 hat die auf Putin ausgerichtete Partei "Einiges Russland" ihre bisherige Zweidrittelmehrheit in der Staatsduma verloren, konnte jedoch eine absolute Mehrheit bewahren. Die drei weiteren in der Duma vertretenen Parteien (Kommunistische Partei, "Gerechtes Russland" und Liberal-Demokratische Partei Russlands) konnten ihre Stimmenanteile ausbauen. Wahlfälschungsvorwürfe bei diesen Dumawahlen waren ein wesentlicher Auslöser für Massenproteste im Dezember 2011 und Anfang 2012. Seit Mai 2012 wird eine stete Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden im Sommer 2012 das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, 2013 ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen. Im Februar 2014 wurde die Extremismus-Gesetzgebung verschärft, sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, was die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zu Nichte macht (AA 11.2014a).

Russland ist eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum. In zahlreichen russischen Regionen fanden zuletzt am 14.9.2014 Gouverneurs- und Kommunalwahlen statt. In der Praxis kam es dabei wie schon im Vorjahr zur Bevorzugung regierungsnaher und Behinderung oppositioneller Kandidaten. Wie bereits 2013 war die Wahlbeteiligung zum Teil sehr niedrig, in Moskau nur bei rund 21% (AA 11.2014a). Am einheitlichen Wahltag 14.9.2014 fanden in Russland laut der Zentralen Wahlkommission mehr als 6.000 Wahlen unter Teilnahme von 63 Parteien auf regionaler und kommunaler Ebene statt. Die Regierungspartei "Einiges Russland" hat bei den Regionalwahlen fast überall ihre Spitzenposition gefestigt. Auf der Halbinsel Krim holte sie laut der Wahlleitung mehr als 70% der Stimmen. Bei den Gouverneurswahlen in 30 Föderationssubjekten wurden alle Kandidaten von "Einiges Russland" sowie von der Partei unterstützte Kandidaten gewählt. Die Partei gewann auch alle drei Bürgermeisterwahlen in den regionalen Hauptstädten und erzielte die Mehrheit in 14 Regionalparlamenten und 6 Stadtparlamenten regionaler Hauptstädte. Zwar konnten bei den Regionalwahlen mit der Senkung der Sperrklausel von sieben auf fünf Prozent auch den demokratischen Wettbewerb stärkende Entwicklungen festgestellt werden, allerdings wurden gleichzeitig das Verhältnis- zugunsten des Mehrheitswahlrechts geschwächt und die Registrierungsvorschriften verschärft. In Moskau, wo das Wahlrecht auf ein reines Mehrheitswahlsystem geändert wurde, gewannen "Einiges Russland" und die von ihr unterstützten Kandidaten bei einer Wahlbeteiligung von 21% 38 von 45 Sitzen der Stadtduma. Die Wahlrechtsassoziation "Golos" meldete einzelne Wahlverstöße, z. B. den Ausschluss unabhängiger Wahlbeobachter aus Wahllokalen und sagte die Wahlbeobachtung im Gebiet Tjumen nach Drohungen durch Polizei und Justiz ab (GIZ 3.2015a).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (11.2014a): Russische Föderation - Innenpolitik,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 2.4.2015

-

CIA - Central Intelligence Agency (20.6.2014): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 2.4.2015

-

GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (3.2015a): Russland, Geschichte, Staat und Politik, http://liportal.giz.de/russland/geschichte-staat/#c17900, Zugriff 2.4.2015

-

GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2015c): Russland, Gesellschaft, http://liportal.giz.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 2.4.2015

Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 21 Republiken der Russischen Föderation. Betreffend Fläche und Einwohnerzahl - 15.647 km2 und fast 1,3 Millionen Einwohner/innen (2010) - ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Gemäß der letzten offiziellen Volkszählung 2010 hat Tschetschenien 1,27 Millionen Einwohner/innen. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben 2010 an, ethnische Tschetschen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russ/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

Den Föderationssubjekten stehen Gouverneure vor. Gouverneur von Tschetschenien ist Ramsan Kadyrow. Er gilt als willkürlich herrschend. Russlands Präsident Putin lässt ihn aber walten, da er Tschetschenien "ruhig" hält. Tschetschenien wird überwiegend von Geldern der Zentralregierung finanziert. So erfolgte der Wiederaufbau von Tschetscheniens Hauptstadt Grosny vor allem mit Geldern aus Moskau (BAMF 10.2013, vgl. RFE/RL 19.1.2015). Die Macht von Ramsan Kadyrow ist in Tschetschenien unumstritten. Kadyrow versucht durch Förderung einer moderaten islamischen Identität einen gemeinsamen Nenner für die fragmentierte, tribalistische Bevölkerung zu schaffen. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe und über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Präsident Putin verfüge (ÖB Moskau 10.2014).

Sowohl bei den gesamtrussischen Duma-Wahlen im Dezember 2011, als auch bei den Wahlen zur russischen Präsidentschaft im März 2012 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien bei über 99%. Die Zustimmung für die Regierungspartei "Einiges Russland" und für Präsidentschaftskandidat Wladimir Putin lag in der Republik ebenfalls bei jeweils über 99%. Bei beiden Wahlen war es zu Wahlfälschungsvorwürfen gekommen (Welt 5.3.2012, Ria Novosti 5.12.2012, vgl. auch ICG 6.9.2013).

Quellen:

-

BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

-

ICG - International Crisis Group (6.9.2013): The North Caucasus:

The Challenges of Integration (III), Governance, Elections, Rule of Law,

http://www.ecoi.net/file_upload/1002_1379094096_the-north-caucasus-the-challenges-of-integration-iii-226-the-north-caucasus-the-challenges-of-integration-iii-governance-elections-rule-of-law.pdf, Zugriff 1.4.2015

-

ÖB Moskau (10.2014): Asylländerbericht Russische Föderation

-

RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (19.1.2015): The Unstoppable Rise Of Ramzan Kadyrov, http://www.rferl.org/content/profile-ramzan-kadyrov-chechnya-russia-putin/26802368.html, Zugriff 1.4.2015

-

Ria Novosti (5.12.2012): United Russia gets over 99 percent of votes in Chechnya,

http://en.rian.ru/society/20111205/169358392.html, Zugriff 1.4.2015

-

Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/laenderinformation/laenderinformation_russiche_foederationtschetschenische_republik/, Zugriff 1.4.2015

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Die Welt (5.3.2012): In Tschetschenien stimmen 99,76 Prozent für Putin,

http://www.welt.de/politik/ausland/article13903750/In-Tschetschenien-stimmen-99-76-Prozent-fuer-Putin.html, Zugriff 1.4.2015

Sicherheitslage

Russische Behörden gehen weiterhin von einer terroristischen Gefahr auch außerhalb des Nordkaukasus aus (SFH 25.7.2014, vgl. AA 1.4.2015b). Aus Sicht der Behörden versuchen die Aufständischen nicht nur den Nordkaukasus zu destabilisieren, sondern auch Terroranschläge in anderen Regionen Russlands zu verüben. Nach Angaben russischer Experten spiegelt die Wahl von Alaiskhab Kebekov als neuem Führer des kaukasischen Emirats, die Tatsache wider, dass mittlerweile Dagestan und nicht mehr Tschetschenien das Zentrum des Aufstands ist (SFH 25.7.2014).

Die Terroranschläge auf den zwischen Moskau und St. Petersburg verkehrenden Newski Express Ende November 2009 (28 Todesopfer), die beiden Anschläge in der Moskauer U-Bahn am 29.3.2010 (40 Todesopfer), der Anschlag auf den Moskauer Flughafen Domodedowo am 24.1.2011 (37 Todesopfer darunter zwei österreichische Staatsbürger) sowie zwei Selbstmordanschläge auf den Bahnhof bzw. einen Trolley-Bus in Wolgograd Ende Dezember 2013 (33 Todesopfer) (ÖB Moskau 10.2014, vgl. AA 1.4.2015b) scheinen von Tätern aus dem Nordkaukasus verübt worden zu sein, um somit zu zeigen, dass die Unruhe im Nord-Kaukasus auch auf das russische Kernland ausstrahlt. Zuletzt häuften sich Berichte, wonach zahlreiche Personen aus dem Nordkaukasus sich an Kämpfen in Syrien und zuletzt auch dem Irak auf Seiten radikalislamischer Gruppierungen und Organisationen (IS, Al Nusra-Front,...) beteiligen sollen. Die diesbezüglichen Angaben schwanken: von offizieller Seite werden die russisch-stämmigen Kämpfer auf einige Hundert geschätzt. Experten gehen hingegen von bis zu 2.000 Kämpfern mit russ. Staatsbürgerschaft aus (davon 1500 aus Tschetschenien, 200 aus Dagestan, der Rest aus anderen Gebieten). Auch in Österreich wurden Fälle bekannt, in denen Personen tschetschenischer Herkunft sich an Kämpfen in Syrien beteiligt bzw. dies zumindest ernsthaft versucht haben sollen oder andere Personen als Kämpfer für den Nahen Osten angeworben haben.

Beobachter sehen dies als neues Phänomen an: bis vor kurzem hätten Tschetschenen und andere Kaukasier fast ausschließlich in ihrer Heimatregion gekämpft, um diese von der russischen Herrschaft zu befreien. Der Bürgerkrieg in Syrien zeige insofern eine Neuausrichtung des bisher stark nationalistischen Jihadismus der Kaukasier hin zu mehr Integration in die transnationale Szene. In Syrien sollen Kaukasier mittlerweile die größte nicht-arabische Gruppe unter den ausländischen Kämpfern darstellen und zugleich auch aufgrund ihrer Kampferfahrung und Homogenität eine der effektivsten Gruppierungen sein. Russische Offizielle warnten wiederholt vor den Gefahren, die für Russland (und andere Staaten) entstünden, wenn diese Personen mit der gesammelten Kampferfahrung in ihre Heimat zurückkehren. Berichten russischer Zeitungen zu Folge werden aus Syrien zurückkehrende Kämpfer bei ihrer Rückkehr nach Russland in der Regel umgehend verhaftet und vor Gericht gestellt (ÖB Moskau 10.2014).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (1.4.2015b): Russische Föderation - Reise- und Sicherheitshinweise,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 1.4.2015

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SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.7.2014): Russland:

Verfolgung von Verwandten dagestanischer Terrorverdächtiger außerhalb Dagestans,

http://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/russland/russland-verfolgung-von-verwandten-dagestanischer-terrorverdaechtiger-ausserhalb-dagestans.pdf, Zugriff 1.4.2015

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ÖB Moskau (10.2014): Asylländerbericht Russische Föderation

Nordkaukasus allgemein

Die Lage im Nordkaukasus war 2014 weiterhin instabil; bewaffnete Gruppen griffen wiederholt Angehörige der Sicherheitskräfte an. Bei verschiedenen Anschlägen sollen mehr als 200 Personen getötet worden sein, darunter zahlreiche Zivilpersonen (AI 25.2.2015). Im Sicherheitsbereich ist gegenwärtig ein Trend zu beobachten, der auf eine Stabilisierung Tschetscheniens bei gleichzeitiger Verschlechterung der Lage in Dagestan hinausläuft. In manchen Regionen konstatieren Beobachter auch ein Übergreifen der Gewalt auf bisher ruhige Gebiete. So haben sich seit Sommer 2010 auch in Kabardino-Balkarien die Anschlagstätigkeiten intensiviert. Nach zwei Anschlägen auf Touristen und touristische Infrastruktur, bei denen drei Touristen getötet wurden, wurde im Februar 2011 in zwei Distrikten Kabardino-Balkariens (Elbrus und Baksan) der Ausnahmezustand verhängt. Vor dem Hintergrund zunehmender ethnischer Rivalitäten warnen Experten auch vor einer Destabilisierung Karatschaj-Tscherkessiens. Zusätzlich werden zahlreiche "kleinere" Anschläge verübt, die überregional kaum mehr Aufmerksamkeit finden. Dabei werden neben Sicherheitskräften zunehmend auch belebte Märkte sowie Geschäfte und Cafés, in denen Alkohol verkauft wird, Ziele von Anschlägen. Dieser Zunahme von Anschlägen korrespondiert eine Steigerung von Anti-Terror Operationen, die auch regelmäßig Todesopfer fordern. Die russischen Sicherheitskräfte gehen mit einiger Härte gegen Rebellen und deren Unterstützer vor. Dabei wird auch von Fällen von Sippenhaftung berichtet, insbesondere der Zerstörung der Häuser der Angehörigen von Rebellen (ÖB Moskau 10.2014).

Im Jahr 2014 gab es nach Angaben von Caucasian Knot im gesamten Föderalen Distrikt Nordkaukasus 525 Opfer des bewaffneten Konfliktes. 341 davon wurden getötet, 184 verwundet. Im Vergleich zu 2013 fiel die Zahl der Opfer um 46,9% (Caucasian Knot 31.1.2015). Mehr als zwei Drittel aller Todesopfer im Kampf gegen den islamistischen Widerstand im Nordkaukasus wurden 2014 in Dagestan gezählt (HRW 29.1.2015).

Quellen:

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AI - Amnesty International (25.2.2015): Amnesty International Report 2014/15 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation,

https://www.amnesty.de/jahresbericht/2015/russische-foederation, Zugriff 1.4.2015

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Caucasian Knot (31.1.2015): In 2014, there were 525 victims of armed conflict in Northern Caucasus, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/30689/, Zugriff 1.4.2015

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HRW - Human Rights Watch (29.1.2015): World Report 2015 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/295447/430479_de.html, Zugriff 1.4.2015

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ÖB Moskau (10.2014): Asylländerbericht Russische Föderation

Tschetschenien

In Tschetschenien ist es seit 2010 zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt (teilweise bewirkte dies ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien). Als besonders unruhig gilt die an die Nachbarrepublik Dagestan angrenzende Region (ÖB Moskau 10.2014).

2014 gab es in Tschetschenien 117 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 52 Tote und 65 Verwundete. Dies bedeutet einen Anstieg um 15,8% im Vergleich zu 2013 (39 Tote, 62 Verwundete). Tschetschenien ist die einzige Region im Nordkaukasus in der die Opferzahlen 2014 im Vergleich zu 2013 anstiegen (Caucasian Knot 31.1.2015). Tschetschenien ist von den schwersten Gefechten zwischen islamistischen Kämpfern und Sicherheitskräften seit Jahren erschüttert worden. Dabei wurden am Donnerstag, den 4.12.2014, in der Hauptstadt Grosny mindestens 10 Angreifer und 10 Beamte getötet sowie 20 weitere Personen verletzt (NZZ 4.12.2014). Zu der Attacke soll sich in einem Video das Kaukasus Emirat bekannt haben. Ob das Material und die Angaben authentisch sind, wird genauso kontrovers diskutiert wie die Frage, wie stark die Gruppe der Angreifer war. Die Zahlen reichen von 10 bis über 200 Bewaffneten. Moskau und das Oberhaupt Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, gehen dagegen von einem internationalen Hintergrund aus und stellen die Attacke in Verbindung mit Vorgängen innerhalb der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien. Nach einem Schusswechsel mit Polizisten an einem Kontrollposten teilten sich die Angreifer, in mehrere Gruppen auf. Eine davon verschanzte sich im "Haus der Presse". Die Sicherheitsbehörden umstellten das Gebäude und nahmen es unter Feuer. In den oberen Stockwerken brachen Brände aus, es kam zu Explosionen. Ein anderer Teil der Angreifer setzte sich nur einige Straßen weiter in einer Schule fest. Andere Personen sollen sich nicht darin befunden haben. Die Feuergefechte hielten bis zum Donnerstagnachmittag an. Am selben Tag hielt Putin seine Rede zur Lage der Nation. In letzter Zeit nahmen die Aktivitäten des als zersplittert und geschwächt eingeschätzten islamistischen Untergrunds wieder etwas zu. Im Oktober 2014 sprengte sich in Grosny ein Selbstmordattentäter in die Luft und riss fünf Personen mit in den Tod. Hinter dem 19-jährigen Täter aus Grosny wird allerdings eher eine autonom agierende Splittergruppe vermutet. Zu vergleichen sind die beiden Vorfälle ohnehin nicht. Die Attacke am 4.12.2014 glich einer komplexen militärischen Operation. Dafür bedarf es Planung, Erfahrung und Geld. Dass die russischen Behörden dabei eine Verbindung ins Ausland vermuten, überrascht nicht. In den Reihen des IS stehen auch Extremisten mit nordkaukasischen Wurzeln, von einigen hundert ist die Rede. Schon mehrmals in diesem Jahr stießen Fraktionen der Terrormiliz Drohungen gegen Russland aus. Die Gefahr für Russland geht laut Experten dabei jedoch mehr von Rückkehrern aus Syrien oder dem Irak aus, als dass die Strategen des IS den Nordkaukasus als neues Kampffeld für ihren Jihad auserkoren hätten (NZZ 4.12.2014, vgl. Die Presse 4.12.2014).

Quellen:

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Caucasian Knot (31.1.2015): In 2014, there were 525 victims of armed conflict in Northern Caucasus, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/30689/, Zugriff 19.3.2015

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (4.12.2014): Tote bei Gefechten in Grosny,

http://www.nzz.ch/international/asien-und-pazifik/tote-bei-gefechten-in-grosny-1.18438064, Zugriff 19.3.2015

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ÖB Moskau (10.2014): Asylländerbericht Russische Föderation

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Die Presse (4.12.2014): Tschetschenien: Gefechte mit Islamisten im Zentrum Grosnys,

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4612135/Tschetschenien_Gefechte-mit-Islamisten-im-Zentrum-Grosnys?from=gl.home_politik, Zugriff 19.3.2015

Rechtsschutz/Justizwesen

Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig; allerdings haben sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der russische Ombudsmann als auch russische NGOs wiederholt Missstände im russischen Justizwesen kritisiert: Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen. In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen: Lediglich 1,1% der eingeleiteten Strafverfahren enden mit Freispruch des Angeklagten. Das geringe Vertrauen der russischen Bevölkerung in die Unabhängigkeit der Justiz wird durch Umfragen belegt: einer im Juli 2013 veröffentlichten Umfrage des Lewada-Zentrums zu Folge glauben nur 27% der Bevölkerung an die Unabhängigkeit der russischen Justiz. Der Europarat empfahl Russland im November 2013 substantielle Reformen zur Beseitigung systemischer Defizite in der Justizverwaltung und zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz. Großes auch internationales Aufsehen erregten zuletzt etwa die Verurteilung des Oppositionellen Alexej Nawalny am 18.7.2013 zu 5 Jahren Haft wegen Unterschlagung (wurde in eine bedingte Strafe umgewandelt). Zudem wurden zahlreiche Personen im Zusammenhang mit Ausschreitungen bei einer großen regierungskritischen Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz am 6.5.2012 wegen Teilnahme an "Massenunruhen" und Gewalt gegen Staatsbeamte zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Amnesty International betrachtet die Verurteilten als gewaltlose politische Gefangene. Während seiner Präsidentschaft hatte der nunmehrige Premierminister Medwedjew versucht, Reformen des Justizwesens zu initiieren, etwa durch die Möglichkeit einer Kaution anstelle von Untersuchungshaft bei Wirtschaftsdelikten oder die Förderung von Geldstrafen und anderen alternativen Strafformen. Diese werden in der Praxis jedoch nach wie vor kaum angewandt. Anfang Juli 2013 wurde auf Initiative des russischen Unternehmens-Ombudsmanns eine Amnestie für Personen verfügt, die wegen bestimmten Wirtschaftsdelikten inhaftiert sind. Die Amnestie soll für jene gelten, die zum ersten Mal wegen Wirtschaftsdelikten verurteilt wurden und entweder den Schaden bereits gut gemacht haben oder dazu bereit sind. Experten gehen davon aus, dass bis zu 13.000 Personen von der Amnestie profitieren könnten (bis zum 28.8.2013 kamen offiziellen Angaben zu Folge effektiv 143 Personen frei). Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Annahme der russischen Verfassung im Jahr 1993, wurde im Dezember 2013 eine umfassendere Amnestie für Straftäter erlassen. Der russischen Strafvollzugsbehörde zu Folge sollen 22.700 von der Amnestie profitiert haben; knapp über 1.000 Personen sollen enthaftet worden sein. Für Aufregung sorgte auch die Erweiterung des strafrechtlichen Begriffes "Hochverrat", der nunmehr jede finanzielle, materielle oder beratende Unterstützung für einen anderen Staat oder internationale Organisation beinhaltet, wenn diese Tätigkeit eine Gefahr für die Sicherheit Russlands darstellt. Kontakte mit zivilen ausländischen Organisationen können als Straftat gewertet werden, wenn nachgewiesen wird, dass diese Organisationen gegen Russland agieren. Vor dem Sommer 2012 wurde zudem "Verleumdung" erneut als Tatbestand in das russische Strafgesetzbuch aufgenommen, nachdem dies erst im Vorjahr auf Initiative des damaligen Präsidenten Medwedjews gestrichen worden war. Der Strafrahmen wurde von früher umgerechnet 75 auf bis zu 125.000 Euro erhöht. Kritiker befürchten, dass Oppositionelle mit dem verschärften Gesetz mundtot

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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