Entscheidungsdatum
16.03.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W271 2171022-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Anna WALBERT-SATEK über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX (alias XXXX), StA. Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/Top 5, 1090 Wien, wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl betreffend den am 13.07.2015 gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu Recht erkannt:
A)
I. Der Antrag von XXXX auf internationalen Schutz vom 13.07.2015 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
II. Der Antrag von XXXX auf internationalen Schutz vom 13.07.2015 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird
XXXX gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz wird gegen XXXX eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung von XXXX gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.
IV. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise von XXXX zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
I.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: "BF"), ein afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, stellte am 13.07.2015 bei einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Burgenland einen Antrag auf internationalen Schutz.
I.2. Bei der am 14.07.2015 durch ein Organ der Landespolizeidirektion Burgenland durchgeführten Erstbefragung gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei am XXXX geboren worden, stamme aus der Provinz Maidan Wardak, Distrikt XXXX, Dorf XXXX, und sei dort zur Schule "XXXX" gegangen.
Der BF gab an, in seinem Heimatdorf über eine Familie zu verfügen:
Diese bestehe aus seinem Vater, seiner Mutter, drei Brüdern (7, 10 und 13 Jahre alt) sowie zwei Schwestern (5 und 1,5 Jahre alt).
Als Fluchtgrund führte er an, Jugendliche hätten in letzter Zeit nicht mehr auf die Straße gehen können, weil sie sonst von den Taliban entführt und zum Kämpfen gezwungen worden seien. Auch sei seine Familie von den Taliban für den Fall, dass der BF sich den Taliban nicht anschließen würde, mit dem Tod bedroht worden. Zu seinen Befürchtungen im Fall einer Rückkehr in seine Heimat befragt gab der BF an, Angst um sein Leben zu haben. Würde er sich den Taliban nicht anschließen, sei zu befürchten, die Taliban würden ihn töten.
I.3. In einem Aktenvermerk des Bundesamts für Fremdwesen und Asyl (in der Folge: "BFA") vom 17.07.2015 wurden Zweifel an der Minderjährigkeit des BF vermerkt. Im Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem für die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung findet sich die Anmerkung, dass eine röntgenologische Untersuchung durchgeführt wurde. Das Geburtsdatum des BF wird mit dem XXXX geführt.
I.4. Am 26.11.2015 erfolgte die Einvernahme des BF vor dem BFA. Der BF sei in der Provinz Maidan Wardak, Distrikt XXXX, Dorf XXXX, geboren und aufgewachsen. Seine Familie lebe nach wie vor in seinem Heimatdorf, er habe hin und wieder Kontakt zu dieser. Er sei in Afghanistan neun Jahre zur Schule gegangen, habe jedoch nie gearbeitet.
XXXX, der Führer der Taliban in Maidan Wardak, habe dem BF ein Gewehr gegeben; die Taliban sollen gesagt haben, er solle in den Jihad ziehen. Der BF gab an, die Kommandanten XXXX, XXXX sowie XXXX würden aus seinem Heimatdorf stammen und sollen den BF aufgefordert haben, gemeinsam mit ihnen in den Jihad zu ziehen und gegen die Regierung zu kämpfen. Der BF habe dann etwa fünf bis sechs Monate bei den Taliban verbracht. In diesem Zeitraum sei er an zwei bis drei Einsätzen aktiv beteiligt gewesen. Gezielt getötet habe er niemanden. Er sei einiges über den Jihad gelehrt worden und sei im Umgang mit Sturmgewehren, konkret der Kalaschnikow, Raketenwerfern, Maschinengewehren und Minen geschult worden. Als im Winter die Taliban nach Pakistan gegangen seien, habe er einen Ausweg gesehen und sei geflüchtet. Im Frühling seien die Taliban zum Vater des BF gekommen, hätten dazu aufgefordert, der BF solle wieder seine Waffe holen und seinen Jihad weiterführen. Zudem hätten die Taliban einen Drohbrief hinterlassen, welcher zusammen mit fünf Fotos dem BFA im Zuge der Einvernahme vorgelegt wurde. Der BF führte außerdem an, er befürchte, im Falle einer Rückkehr von den Taliban getötet zu werden, weil sie ihm vorwerfen würden, er habe sich vor dem Jihad "gedrückt".
I.5. Am 23.12.2016 langte beim BFA eine Säumnisbeschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG mit dem Ersuchen ein, das BFA möge binnen drei Monaten über den Antrag auf internationalen Schutz entscheiden und ansonsten die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorlegen.
I.6. Die Beschwerdevorlage erfolgte mit Schreiben vom 18.09.2017. Am 20.09.2017 langte der Akt beim Bundesverwaltungsgericht ein.
I.7. Der BF erstattete am 10.11.2017 eine Stellungnahme zu seinem Asylantrag, worin er Fehler des Protokolls hinsichtlich der Einvernahme des BFA richtig stellte sowie auf die schlechte Sicherheitslage, insbesondere in Kabul, sowie auf die auf ihn anwendbaren Risikoprofile gemäß den UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender (in der Folge: "UNHCR Richtlinien") hinwies.
I.8. Das Bundesverwaltungsgericht forderte zum Fall des BF eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation an, die am 13.11.2017 beantwortet wurde.
I.9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.11.2017 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu und im Beisein des Rechtsvertreters des BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, deren Gegenstand auch die aktuellen Länderfeststellungen betreffend Afghanistan war.
Der BF legte im Rahmen der Verhandlung als weitere Bescheinigungsmittel eine Bestätigungen für einen Deutschkurs (30.10.2017) und eine Vereinsmitgliedschaft ("XXXX", 25.06.2017), Teilnahmebestätigungen für einen Charter Workshop (28.10.2017), ein Infomodul Asylrecht (28.10.2017) und ein Infomodul Bildung (14.10.2017) sowie eine Kursanmeldung für einen Deutschkurs für Anfänger (21.10.2015) vor.
I.10. Am 22.11.2017 langte eine Beschwerdeergänzung des BF beim Bundesverwaltungsgericht ein, in der dieser zu seiner Verfolgung, insbesondere auf die Unmöglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative, Stellung nimmt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Person des BF
Identität und Herkunft
1.1.1. Der BF trägt den Namen XXXX und führt das Geburtsdatum XXXX. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Der BF spricht Paschtu als Muttersprache und spricht auch Dari und Englisch. Der BF wurde in der Provinz Maidan Wardak, Distrikt XXXX, Dorf XXXX, geboren und hat dort mit seinen Eltern und jüngeren Geschwistern, drei Brüder und zwei Schwestern, bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan gelebt. Die Familie besitzt einen Apfelgarten und finanziert damit ihren Lebensunterhalt.
1.1.2. Der BF hat nach seiner Ausreise immer wieder Kontakt zu seiner Familie gehabt; zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung jedoch schon ein paar Monate nicht. Der BF unterhält Kontakt mit Freunden und ehemaligen Schulkollegen in afghanischen Provinzen wie Kabul, Khandahar und Nimruz und im Iran. Der BF kennt in Kabul niemanden aus seiner Heimatprovinz.
1.1.3. Der BF hat in seinem Heimatort eine neunjährige Schulbildung genossen und keinen Beruf erlernt; er ging keiner Arbeit nach. In der Schule hatte der BF sehr gute Noten und hat eine Klasse übersprungen.
1.1.4. Der BF ist volljährig, ledig und hat keine Kinder. Er ist gesund und nimmt keine Medikamente. Der BF ist arbeitsfähig.
1.1.5. Der BF ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft. Ein offizieller Haftbefehl gegen den BF besteht in seinem Herkunftsland nicht. Der BF hatte keine Probleme mit den Behörden im Herkunftsstaat und hatte keine Probleme wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder Religion. Der BF war in Afghanistan nicht politisch tätig.
1.1.6. Der BF reiste Februar 2015 aus Afghanistan aus. Seine Route führte ihn - teilweise mit mehrtägigen oder mehrwöchigen Zwischenstopps - über den Iran, die Türkei, Bulgarien und Serbien nach Österreich, wo er festgenommen wurde; er war etwa vier Monate unterwegs. Die Ausreise wurde vom Vater des BF organisiert und finanziert, der dafür ein Auto verkaufte.
Leben und Aufenthalt des BF in Österreich
1.1.7. Der BF hält sich seit Juli 2015 in Österreich auf. Am 13.07.2015 stellte der BF einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
1.1.8. Der BF verfügt über keine Angehörigen oder engen Sozialkontakte im Bundesgebiet. Der BF hat mit Österreichern Kontakt. Der BF ist mit allen Lehrerinnen und Lehrern, die im WUK unterrichten, insbesondere mit einer Lehrerin namens "Tanja", gut befreundet und trifft diese meistens im Sprachkurs. Mit einem österreichischen Freund aus dem Sprachkurs ist der BF nach dem Unterricht gemeinsam Bier trinken gegangen. Der BF führte in der Vergangenheit schon mehrere Beziehungen mit österreichischen Frauen.
1.1.9. Der BF geht keiner Arbeit nach; er lebt von der Grundversorgung. Der BF ist Vereinsmitglied im "XXXX" Kulturverein und ist regelmäßig mit diesem Verein in Kontakt. Von diesem Verein erhielt der BF Informationen über Lernmöglichkeiten, denen der BF nachging. Der BF war früher bei der Gemeinde ehrenamtlich tätig und hat einmal in der Woche beim Straßenkehren geholfen; diese Arbeit gibt es nun nicht mehr.
1.1.10. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.1.11. Der BF hat mehrere Deutschkurse besucht und konnte im Zuge der mündlichen Verhandlung in ganzen Sätzen auf Deutsch Auskunft darüber geben, welchen Kurs er besucht und wie er Deutsch gelernt hat. Zudem erklärte der BF einen Teil seiner Erlebnisse mit den Taliban auf Deutsch.
1.2. Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaats
1.2.1. Die Taliban waren und sind in der Herkunftsregion des BF und in seinem Heimatdorf aktiv.
1.2.2. Der BF besorgte den Taliban im Jahr 2013 Lebensmittel und Benzin. Die Lebensmittel schaffte er mit dem Auto seines Vaters heran. Die Dorfbewohner in der Herkunftsregion und im Heimatdorf des BF kooperieren mit den Taliban und versorgen diese. Die Taliban kommen immer wieder im Elternhaus des BF vorbei und wollen Essen sowie einen Schlafplatz haben oder bringen ihre Wäsche zum Waschen. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Familie des BF von den Taliban bedroht wurde oder derzeit bedroht wird.
1.2.3. Der TalibankommandantXXXX forderte den BF im Jahr 2014 auf, gemeinsam mit ihnen in den Jihad zu ziehen und gab ihm eine Waffe in die Hand. XXXX war der militärische Führer der Taliban der Provinz Maidan Wardak und wurde bei Zusammenstößen mit afghanischen Sicherheitskräften Ende Oktober 2017 getötet. Der BF verbrachte etwa sechs Monate mit den Taliban. Er wurde dort über den Jihad und den Islam unterrichtet und erhielt eine Ausbildung im Umgang mit Sturmgewehren, konkret der Kalaschnikow, Raketenwerfern, Maschinengewehren und Minen. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF zwangsrekrutiert wurde. Es ließ sich nicht feststellen, dass die Taliban dem BF während seiner Zeit bei ihnen nicht vertraut hätten.
1.2.4. Der BF war mit den Taliban in XXXX unterwegs; die Taliban haben in XXXX keinen Stützpunkt und sind ständig unterwegs in den Dörfern. Der BF arbeitete mit den Taliban zusammen und war einer von ihnen. Der BF nahm aktiv an drei Einsätzen der Taliban teil. Bei zwei Einsätzen musste er die Munition von Raketen tragen und mit einem Fernglas den Weg beobachten. Während des dritten Einsatzes mit den Taliban hatte der BF im Hintergrund die Aufgabe zu verhindern, dass Verstärkung zu einem von den Taliban angegriffenen Posten in XXXX kommt. Der BF erhielt im Zuge seines Einsatzes von einem Kommandanten den Befehl, auf die eintreffenden Polizisten zu schießen. Der BF schoss, zielte aber nicht auf eine Person. Die Polizisten waren 500m entfernt und befanden sich in gepanzerten Fahrzeugen. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF bei diesen Einsätzen jemanden verletzt oder getötet hat.
1.2.5. Im Zuge seiner Tätigkeit für die Taliban gelangte der BF an verschiedene Informationen über die Taliban, wie z.B. an Codes von Funkgeräten oder wo die Taliban sich im Wald versteckten, in welchen Häusern sie sich meistens aufhielten, wo sichere Zonen waren, wenn gekämpft wurde, welche Wege sie beschreiten, wo sie ihre Motorräder abstellen, wo sie ihre Waffen verstecken und wo das Lager ist. Die Taliban verrieten dem BF von sich aus keine Geheimnisse.
1.2.6. Im Herbst/Winter 2014, zogen die Taliban nach Pakistan. Die Taliban wollten, dass der BF mit ihnen geht. Der BF zog nicht mit nach Pakistan. Es konnte nicht festgestellt werden, dass dem BF von den Taliban erlaubt wurde, über den Winter in seinem Dorf zu bleiben.
1.2.7. Im Frühling kamen die Taliban zum Vater des BF und sagten diesem, dass der BF wieder seine Waffe holen und den Jihad weiterführen solle. Die Taliban wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass der BF Afghanistan schon verlassen hat; später war ihnen ebenfalls nicht bekannt, wo sich der BF aufhielt.
1.2.8. Der BF legte ein Schreiben vor, das er als Drohbrief der Taliban bezeichnete. Dieses Schreiben ist datiert mit dem 26.08.2015 und enthält die an den BF gerichtete Aufforderung, den Jihad fortzusetzen, ansonsten er vom Unterzeichner des Drohbriefs, XXXX, nirgendwo in Afghanistan am Leben gelassen werde. Es konnte nicht festgestellt werden, dass das vom BF vorgelegte Schreiben Kunde einer tatsächlich gegen den BF gerichteten Bedrohung durch die Taliban in ganz Afghanistan ist.
1.2.9. Der BF lehnt die Ideologie der Taliban ab. Der BF zeigte seine Haltung gegenüber den Taliban in Afghanistan nicht, sondern kooperierte weitestgehend mit den Taliban.
1.2.10. Dem Beschwerdeführer würde bei einer Überstellung nach Afghanistan in die Provinz Maidan Wardak ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
1.2.11. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung außerhalb der Provinz Maidan Wardak, insbesondere in der Stadt Kabul, die über den Luftweg sicher erreichbar ist, würde dem Beschwerdeführer kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Rückkehr in die Stadt Kabul Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und deshalb oder aus sonst einem in seiner Person gelegenen Grund in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.3. Potentielle Risikoprofile
Personen, die aus Afghanistan fliehen, können einem Verfolgungsrisiko aus Gründen ausgesetzt sein, die mit dem fortwährenden bewaffneten Konflikt in Afghanistan oder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die nicht in direkter Verbindung zum Konflikt stehen, zusammenhängen oder aufgrund einer Kombination beider Gründe. UNHCR ist der Auffassung, dass in Bezug auf Personen mit bestimmten Profilen eine besonders sorgfältige Prüfung der möglichen Risiken notwendig ist (nur relevante Profile gemäß den UNHCR Richtlinien werden angeführt):
1.3.1. Zur allgemeinen Lage von ethnischen Minderheiten und zur Lage von Paschtunen
In Afghanistan gibt es mehrere ethnische Minderheiten; die Bevölkerung setzt sich aus 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, etwa 10% Hazara und 9% Usbeken zusammen. Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort "Afghane" wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet."
Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Dessen ungeachtet beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen. Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung verankert. Fälle von Sippenhaft oder sozialer Diskriminierung sind jedoch nicht auszuschließen und kommen vor allem in Dorfgemeinschaften auf dem Land häufig vor. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen.
Ethnische Pashtunen sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; die meisten ihrer Regierungsvertreter sprechen auch Dari. Die Pashtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Pashtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.
(Auszug aus folgender Quelle: LIB, Pkt 16. "Ethnische Minderheiten")
1.3.2. Als "verwestlicht" wahrgenommene Personen
Berichten zufolge werden Personen von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen, die vermeintlich Werte und/oder ein Erscheinungsbild angenommen haben, die mit westlichen Ländern in Verbindung gebracht werden, und denen deshalb unterstellt wird, die Regierung und die internationale Gemeinschaft zu unterstützen.
UNHCR ist auf Grundlage der vorangegangenen Analyse der Ansicht, dass - je nach den Umständen des Einzelfalls - für solche Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund ihrer (zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aufgrund anderer relevanter Gründe bestehen kann.
(Zusammenfassung aus folgender Quelle: UNHCR Richtlinien, Pkt III.A.1.j und l).
1.3.2. Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext von Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung
Allgemeines
Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden.
Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, wie berichtet wird, weiterhin Kinder - sowohl Jungen als auch Mädchen - um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen einzusetzen, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln und als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung zu dienen.
UNHCR ist der Ansicht, dass - je nach den spezifischen Umständen des Einzelfalls - für Männer im wehrfähigen Alter und für Minderjährige, die in Gebieten leben, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle der regierungsfeindlichen Kräfte befinden, oder in denen regierungsnahe und regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) und/oder mit ISIS verbundene bewaffnete Gruppen um Kontrolle kämpfen, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Gründen bestehen kann.
Je nach den spezifischen Umständen des Einzelfalls kann für Männer im wehrfähigen Alter und für Kinder, die in Gebieten leben, in denen Befehlshaber der afghanischen lokalen Polizei (ALP) über eine hinreichende Machtstellung für die Zwangsrekrutierung von Mitgliedern der Gemeinden für die afghanische lokale Polizei (ALP) verfügen, ebenfalls Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Gründen bestehen.
Für Männer im wehrfähigen Alter und für Kinder, die sich der Zwangsrekrutierung widersetzen, kann ebenfalls Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund ihrer (zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Gründen bestehen. Je nach den spezifischen Umständen des Falls kann auch für Familienangehörige von Männern und Kindern mit diesem Profil aufgrund ihrer Verbindung zu der gefährdeten Person internationaler Schutzbedarf bestehen.
(Zusammenfassung aus folgender Quelle: UNHCR Richtlinien, Pkt III.A.3.).
Verschiedene Quellen legen unterschiedliche Meinungen zu Zwangsrekrutierungen von Kindern durch unterschiedliche staatliche und regierungsfeindliche Einheiten dar. Einige der von der Staatendokumentation recherchierten Quellen berichten von der Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Einheiten, während eine der nachfolgend zitierten Quellen auch davon berichtet, dass ein Großteil der Rekrutierung für alle bewaffneten Kräfte mehrheitlich nicht durch Zwangsrekrutierung passiert.
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass Kinder durch die Taliban indoktriniert werden und eine militärische Ausbildung erhalten, wie u.a. das Verwenden von kleinen Waffen sowie das Herstellen und Einsetzen von Sprengkörpern.
Berichten zufolge nutzen regierungsfeindliche Kräfte in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind einer Quelle zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden. Einige Familien erhalten Geldzahlungen oder Schutz im Austausch dazu, dass sie ihre Kinder in von Taliban-geführten Schulen schicken.
Einer weiteren Quelle ist zu entnehmen, dass die Taliban eher Zuflucht zu traditionellen Systemen nehmen, wo über ein Lossystem oder per Quote rekrutiert wird. Des Weiteren gibt es auch Fälle von Familien, die sozusagen traditionell bei den Taliban sind.
Kinder aus verarmten und ländlichen Gegenden, vor allem unter Talibankontrolle, sind besonders anfällig für Rekrutierungen. Zwar seien Kindersoldaten im Verhaltenskodex der Taliban ausdrücklich verboten, jedoch ende ihre Definition eines Kindes, sobald jemand die Pubertät erreiche oder in der Lage sei, sich einen Bart wachsen zu lassen.
(Zusammenfassung und Auszüge aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 09.08.2017, "Taliban-Zwangsrekrutierung von Kindern")
Ausmaß von (unmittelbarem) Zwang
Das Konfliktschema in Afghanistan hat sich seit der Übergangsperiode 2014 verändert, die Taliban konzentrieren sich seither auf den Aufbau einer professionelleren militärischen Organisation. Das hat Folgen für die Rekrutierung, sowohl im Hinblick auf das Profil der rekrutierten Personen, als auch im Hinblick auf ihre Ausbildung. Religion und die Idee des Dschihad spielen bei der Rekrutierung weiterhin eine bedeutsame Rolle, ebenso die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Das kulturelle und sozioökonomische Umfeld erlegt den meisten Afghanen Einschränkungen auf, viele von ihnen haben keine andere Wahl als sich den Taliban anzuschließen.
Es sind Fälle von Zwangsrekrutierung dokumentiert, sie bilden allerdings die Ausnahme. Die Rekrutierung durch die Taliban ist nicht durch Zwang, Drohungen und Gewalt gekennzeichnet.
(Auszug aus dem Landinfo-Bericht "Rekrutierung durch die Taliban" vom 29.06.2017, "Zusammenfassung")
Die Rekrutierungsmethoden der Taliban haben sich in den letzten Jahren, mit dem sich verändernden Konflikt, auch verändert. Während "harte" Zwangsrekrutierungen nicht sehr verbreitet sind, üben die Taliban und örtliche Unterstützer, manchmal auch Familienmitglieder, auf junge Männer und deren Familien oft erheblichen Druck aus, sich den Taliban anzuschließen. Dazu kommen auch Berichte von gewaltsamen Rekrutierungen, selbst von Kindern, in der Provinz Kundus in den letzten Jahren.
EASO - das European Asylum Support Office - zitiert in seinem jüngsten Bericht zu Rekrutierungen von bewaffneten Gruppen in Afghanistan Patricia Grossman von Human Rights Watch mit der Erklärung dass Zwangsrekrutierungen nicht nur als "Entführungen" verstanden werden sollen, d.h. dass die Taliban nicht immer von auswärts zu einer Familie kämen und deren Kinder mit vorgehaltener Waffe bedrohen und mitnehmen würden, sondern dass die Rekrutierer meistens schon vor Ort seien und die Kinder kennen. Sie würden versuchen die Minderjährigen zu überzeugen, sich ihnen anzuschließen; teilweise wird Druck auf die Familie ausgeübt. Zwang kann auch von einem Familienmitglied selbst ausgeübt werden, der schon Mitglied bei den Taliban ist. Familien würden manchmal auch Geld bekommen damit sich ihre Söhne den Taliban anschließen. Es bestünde also Druck bzw. Zwang, aber dieser muss nicht unbedingt gewaltsam sein.
Die Häufigkeit von Zwangsrekrutierungen ist, laut Borhan Osman, einem Analysten des Afghanistan Analysts Network (AAN) direkt proportional zum Druck dem sich die Taliban selbst militärisch ausgesetzt sehen. Wenn die Taliban siegreich sind, schließen sich ihnen oft viele Freiwillige an. In dem Fall müssen sie nicht auf Zwangsrekrutierungen zurückgreifen. Im Hinblick auf den Distrikt Dasht-e Archi [d.h. Archee] in der Provinz Kundus, einer Taliban-Hochburg und Drehscheibe für die Taliban-Ausbildung, gibt es jedoch anonyme Berichte vom August 2015, dass die Taliban Anwohner dort dazu zwangen sich ihnen anzuschließen.
IRIN-das Integrated Regional Information Network-eine Nachrichtenagentur mit Sitz in Genf, die als Teil der UN-Organisation Nothilfekoordinator (OCHA) gegründet wurde und speziell für die Gebiete Subsahara und Zentralasien zuständig ist, wird weiters zitiert bezgl. der Tatsache, dass im September 2015 ein ortsansässiger Lehrer aus Dasht-e Archi erklärte, dass die Taliban von der Bevölkerung Rekruten verlangten, aber keine Gewalt anwendeten.
Der deutsche Afghanistan Experte und Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN), Thomas Ruttig, geht in seinem Vortrag beim Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) vom April 2017 davon aus, dass Rekrutierung zu den Taliban mehrheitlich nicht durch Zwangsrekrutierungen stattfindet.
(Auszüge aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 26.09.2017, "Quaris, Talibanrekrutierung, Kundus, Drohbriefe, ...")
Quellen von Landinfo haben bestätigt, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen (Gespräch mit NGO A in Kabul, Mai 2017).
Nach Aussagen der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Afghanistan (UNAMA) ist die Gruppe der Stammesältesten gezielten Tötungen ausgesetzt (UNAMA & OHCHR 2017, S. 64). Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Der Analytiker Borham Osman (berichtet in EASO 2016, S. 24) hat auf Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfen verweigert haben, verwiesen. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Mehrere Gesprächspartner von Landinfo, einschließlich einer NGO, die in Taliban-kontrollierten Gebieten arbeitet (NGO A, Kabul, Mai 2017), meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher heute vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen.
Bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft müssen Kämpfer vor Ort mobilisiert werden. In einem solchen Fall mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Nach Osman (zitiert in EASO 2016, S. 24) kann die erweiterte Familie allerdings auch eine Zahlung leisten anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich frei zu kaufen.
Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (Gespräch mit einer internationalen Organisation; Gespräch mit einem Thinktank, Gespräch mit einem örtlichen Journalisten April/Mai 2017).
Es ist eine Kombination verschiedener Faktoren, die Personen dazu bewegt, sich den Taliban anzuschließen. Allerdings gibt es nur sehr begrenzte Informationen über den Einsatz unmittelbarer Gewalt im Zusammenhang mit der Rekrutierung und Mobilisierung unter der Schutzherrschaft der Taliban. In Gesprächen mit Landinfo im Herbst 2010 meinte Giustozzi, dies sei bedingt durch die Tatsache, dass die Taliban im Zusammenhang mit ihrer Expansion noch nicht genötigt waren, Zwangsmaßnahmen anzuwenden. In dem Artikel Afghanistan: Human Rights and Security Situation aus 2011 trifft er folgende Feststellung:
Zwangsrekrutierungen waren bislang noch kein herausragendes Merkmal dieses Konflikts. Die Aufständischen bedienen sich Zwangsrekrutierungen nur sehr vereinzelt, vor allem, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache der Aufständischen nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Giustozzi 2011, S. 6).
Die Angaben Giustozzis über im November 2015 erfolgten Zwangsrekrutierungen (Gespräch Oslo) stehen nicht im Widerspruch zu seiner 2011 getätigten Einschätzung. Das relativ eindeutige Bild über Rekrutierungen durch die Taliban deutet darauf hin, dass die Organisation Zwangsrekrutierungen nicht systematisch betreibt und dass Personen, die sich gegen eine Mobilisierung wehren, keine rechtsverletzenden Reaktionen angedroht werden. Zahlreiche Gesprächspartner von Landinfo in Kabul (April 2016) waren der Ansicht, dass die Taliban keine Zwangsrekrutierungen durchführen. Eine NGO (April 2016) verwies darauf, dass es sehr einfach sei zu desertieren (Gespräch in Kabul, April 2016). Erklärungen eines nationalen Thinktanks zufolge (April 2016) stünde eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit (s. z.B. Landinfo 2011) entgegen. Eine internationale Organisation (April 2016) verwies auf ein Argument, das seitens Landinfo im Zusammenhang mit einer quellenkritischen Bewertung von Informationen über die Zwangsrekrutierung aufgeworfen worden war: bei den Quellen handle es sich oft um Personen oder Gruppen, die Anschuldigungen betreffend Zwangsrekrutierungen im Eigeninteresse erheben, etwa Personen, die von den Sicherheitskräften festgenommen wurden oder die als Binnenvertriebene (IDPs) anerkannt werden möchten.
Die Beantwortung einer Anfrage zur Rekrutierung durch Landinfo im Februar 2012 kommt zu dem Schluss, dass es nur in Ausnahmefällen zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban gekommen ist. Die Antwort bezieht sich auf Gespräche, die Landinfo im Oktober 2011 in Kabul geführt hat (Landinfo 2012). Es gibt keine Angaben, die darauf hindeuten, dass sich das Ausmaß von Zwangsrekrutierungen in den vergangenen Jahren erhöht hat. Das geänderte Konfliktschema und die Tatsache, dass die Taliban ihre Truppen professionalisiert haben, bedeuten auch, dass unmittelbare Zwangsrekrutierungen vermutlich sehr gering verbreitet sind. Dies wurde in Gesprächen von Landinfo im April/Mai 2017 in Kabul bestätigt; unmittelbare Zwangsrekrutierungen erfolgen in sehr beschränktem Ausmaß und lediglich in Ausnahmefällen. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Eine Quelle äußerte den Gedanken, dass es "schwierig sei, einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden/etwas zu kämpfen".
(Auszug aus dem Landinfo-Bericht "Rekrutierung durch die Taliban" vom 29.06.2017, Pkt 5.1 "Ausmaß unmittelbaren Zwangs")
Strukturelle Gegebenheiten
Es sind in erster Linie die strukturellen Gegebenheiten, die als eine Form von Zwang in der Rekrutierung durch die Taliban betrachtet werden können. Strukturelle Gegebenheiten können allgemeine kulturelle, religiöse oder soziale Faktoren sein, gepaart mit eingeschränktem Vertrauen in den Staatsbildungsprozess. Traditionsbedingte Verpflichtungen im Zusammenhang mit Stammesgruppen und örtlichen Machtgruppen bedeuten, dass Menschen als Ergebnis von Entscheidungen (Bildung von Allianzen), auf die sie selbst wenig Einfluss haben, Teil der Taliban werden. Lokale Drahtzieher spielen in dem Prozess, wie sich die Taliban in einem Gebiet etablieren und die Kontrolle erlangen, eine zentrale Funktion. Wenn ein zentraler Kommandant bzw. Stammesältester ein Bündnis mit den Taliban eingeht, so geschieht dies vielfach zur Sicherung der Interessen der Gemeinschaft (Hammer & Jensen 2016). Gleichzeitig könnte sich dies, sowohl durch ein geändertes Feindbild als auch hinsichtlich der Mobilisierungserwartungen auf die Zivilbevölkerung in dieser Gegend auswirken.
(Auszug aus dem Landinfo-Bericht "Rekrutierung durch die Taliban" vom 29.06.2017, Pkt 5.2 "Strukturelle Gegebenheiten")
Drohbriefe
Es gibt Berichte, dass Taliban im April 2015 in der Provinz Wardak nächtliche Drohbriefe ("night letters") versendet haben, um Männer für den Kampf gegen die Regierung zu rekrutieren.
(Zusammenfassung aus folgender Quelle: UNHCR Richtlinien, Pkt III.A.3, Fußnote 278).
Drohbriefe sind ein von den Taliban oft verwendetes Mittel der Kommunikation, Drohung und Einschüchterung. Sie können sich an Einzelpersonen oder ganze Gemeinden richten und werden oft in der Nacht zugestellt bzw. ausgehändigt. Drohbriefe werden oft gefälscht und können auf Bestellung, gegen eine Gebühr angefertigt werden. Die Authentizität eines Drohbriefs ist schwer festzustellen; es ist sehr schwer zwischen echten Drohbriefen der Taliban und Fälschungen zu unterscheiden.
(Zusammenfassung und Auszug aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 26.09.2017, "Quaris, Talibanrekrutierung, Kundus, Drohbriefe, ...")
EASO berichtete, dass Drohbriefe im Osten Afghanistan mehr allgemein sind als die im Süden, da diese dazu tendieren mehr spezifisch gegenüber den Individuen zu sein und diese anregen ihre Aktivitäten zu beenden.
Die Drohbriefe beinhalten rebellische Drohungen: aufzuhören bei der Regierung und dem IWF [Anmerkung: Internationaler Währungsfonds] zu arbeiten, nicht der Afghan Local Police (ALP) beizutreten, nicht fernzusehen, nicht zur Schule zu gehen, dem Jihad beizuwohnen, Ushr oder Zakat zu bezahlen, oder Türen bei Nacht offen zu lassen um Talibanmitglieder zu empfangen und zu beherbergen.
Informationen von Kollegen, die in verschiedenen Medien arbeiteten, zufolge, haben die meisten Briefe den Briefkopf des "Islamische Emirat Afghanistan", aber keinen Stempel. Einem lokalen Kontakt im Südosten Afghanistans zufolge, beinhalten die Drohbriefe der Taliban den Briefkopf und den Stempel. Der Kontakt erwähnte, dass es schwer ist zu verifizieren sei ob diese [Anmerkung: Drohbriefe/Nachtbriefe] echt sind oder nicht.
Einem Artikel im The Guardian zufolge, gibt es ein Geschäft im Zentrum von Kabul, in welchem Afghanen alle möglichen gefälschten Dokumente kaufen können, inklusive Drohbriefen. Der Verkaufsmitarbeiter des Geschäftes gab an: "Wir können schreiben was immer du brauchst, je nach dem. Zum Beispiel, wir werden erwähnen, dass du in einer Regierungsabteilung arbeitest, deine Berufsbezeichnung und dein Gehalt. Es wird stehen: "Solltest du deinen Job nicht bis zu diesem Datum verlassen, werden wir kommen und dich töten oder eine Bombe in dein Haus stecken".
Mehrere Quellen gaben Beispiele und Beschreibungen von Drohbriefen mit unterschiedlichen Merkmalen an. Der Briefkopf mit dem Logo und Titel des "Islamische Emirat Afghanistan" und der Unterschrift des lokalen Talibankommandanten, scheinen Merkmale eines echten Drohbriefes zu sein, jedoch kann nicht angenommen werden, dass diese unverzichtbar wären. Unterschiedliche Layouts können in verschiedenen Regionen vorkommen und von verschiedenen Rebellen Gruppen [sein]. Ein echter Kommandant, kann einfach einen Stift nehmen und ein Blatt Papier und einen echten Brief schreiben, adressiert an jemanden, ohne die bereits erwähnten Merkmale.
Auf der anderen Seite, ist es möglich, dass ein gefälschter Taliban Drohbrief alle genannten Merkmale hat. Die Briefe haben kein Material wie bei anderen Dokumenten, das die Authentizität garantieren würde, wie zum Beispiel internationale Pässe. Aus diesem Grund ist es sehr einfach gefälschte Taliban Drohbriefe zu produzieren, wie in einem Artikel des The Guardian beschrieben und sehr schwer zwischen einem echten und einem gefälschten zu unterscheiden.
Die Conclusio daraus ist gemäß der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation folgende:
1. Es ist nicht möglich unverzichtbare Merkmale echter Taliban Drohbriefe aufzuzählen oder zu definieren wie diese aussehen sollten.
2. Es ist sehr schwer zwischen echten Taliban Drohbriefen und Fälschungen zu unterscheiden.
(Auszüge aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 28.10.2013 "Night letters - Drohbriefe - Shabnamah")
Gefälschte Drohbriefe können für etwa 1.000 USD gekauft werden; zudem haben Taliban es größtenteils aufgegeben, mit Drohbriefen vorzugehen.
Daily Caller, eine US amerikanische Onlinezeitung, berichtet, dass Afghanen in der Hoffnung sich nach Europa als Flüchtlinge einschleichen zu können, gefälschte Todesdrohbriefe - angeblich von den Taliban gesendet - kaufen.
Todesdrohungen - übermittelt durch handgeschriebene Briefe - haben eine lange Tradition in der Region und wurden normalerweise jenen übermittelt, die mit den internationalen Kräften kollaborierten. Obwohl die Taliban diese Methoden größtenteils aufgegeben haben, haben Fälscher diese übernommen und verkaufen Briefe auf dem Briefpapier des islamischen Emirates für US$ 1.000 pro Stück.
Ein Fälscher, Mukhamil, gab an, dass aktuell nur 1 Prozent der Briefe ernsthafte Bedrohungen sind. Mukhamil entnimmt einfach ein Talibanlogo aus dem Internet, setzt es ins Dokument ein und behauptet dann, dass der Briefkäufer für die US arbeitet und ernsthaften Strafen ausgesetzt sein wird.
Die Associated Press - eine multinationale, profitfreie Nachrichtenagentur mit Sitz in New York City - berichtet, dass die handgeschriebenen Nachrichten auf dem Briefpapier des sogenannten islamischen Emirates traditionellerweise an jene gesendet wurden, die angeblich für die afghanischen Sicherheitskräfte oder die US - geführten Truppen gearbeitet haben; es wurden deren "Verbrechen" aufgelistet und sie wurden gewarnt, dass die "militärische Kommission" über ihre Strafen entscheidet.
Dieser Tage sagen die Taliban, dass sie diese Praxis aufgegeben haben, während jene, die die gefälschten Briefe verkaufen, ein riskantes Geschäft mit zehntausenden Afghanen betreiben, die nach Europa fliehen und darauf hoffen, um Asyl anzusuchen. Fälscher geben an, dass ein überzeugender Drohbrief bis zu US$ 1.000 kosten kann.
"Bis heute habe ich nur einen einzigen Typen gekannt, der einen ernsthaften Drohbrief von den Taliban erhalten hat. Der Rest ist gefälscht."
Selbst die Taliban, die in den letzten Monaten ihren 14-jährigen Aufstand verstärkt haben und in neue Gebiete eingedrungen sind, sagen, dass die meisten Drohbriefe gefälscht sind.
Der Taliban-Sprecher Zabiullah Mujahid, sagt, dass, wenn ein Kämpfer vermutet, dass jemand mit der Regierung oder den Sicherheitskräften arbeitet, dessen Familie kontaktiert und gefordert wird, diese Tätigkeit einzustellen. "Wir senden keine Drohbriefe, das ist nicht unser Stil. Nur sehr selten verwenden wir das Telefon, wenn wir auf ernsthafte Probleme stoßen."
"All diese Talibandrohbriefe sind gefälscht." Weiters wird eine Liste von Personen angeführt, die fälschlicherweise behauptet hätten Drohbriefe von den Taliban erhalten zu haben. "Wir versuchen unserer Jugend eine gute Umgebung zu schaffen, um in ihrem Land bleiben zu können."
Ein Beamter des afghanischen Geheimdienstes, National Directorate of Security, wies die Behauptung der Existenz diese Briefe ebenfalls zurück und sagte, dass es ganz klar war, dass viele Menschen diese kauften, um ihren Asylgrund zu stärken. Niemand wurde in Zusammenhang mit Fälschung verhaftet.
(Zusammenfassung sowie Auszüge aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 28.07.2016)
1.3.3. Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden
Zwar darf in Afghanistan niemand ohne ordentliches Gerichtsverfahren festgenommen oder inhaftiert werden; dennoch bestehen Bedenken hinsichtlich des Einsatzes von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gegenüber Häftlingen, insbesondere von im Zusammenhang mit dem Konflikt verhafteten Personen, denen Unterstützung von regierungsfeindlichen Kräften zur Last gelegt wird und die in Gefängnissen des Inlandsgeheimdienstes (NDS), der afghanischen nationalen Polizei (ANP), der afghanischen nationalen Streitkräfte (ANA) und der afghanischen lokalen Polizei (ALP) inhaftiert sind. Es gibt Berichte über Folter in vom Inlandsgeheimdienst (NDS) betriebenen Gefängnissen.
Mitglieder der afghanischen lokalen Polizei und regierungsnaher bewaffneter Gruppen setzen Berichten zufolge Bedrohung, Einschüchterung und körperliche Gewalt gegen Zivilisten ein, die verdächtigt werden, regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) zu unterstützen. In einigen Fällen wurden Berichten zufolge solche Zivilisten getötet. In Gebieten, in denen mit ISIS verbundene Gruppen präsent sind, wurden Zivilisten, die der Unterstützung der Taliban verdächtigt wurden, Berichten zufolge von solchen Gruppen bedroht und getötet.
Nach Ansicht der UNHCR sollten in Anbetracht der Notwendigkeit, den zivilen und humanitären Charakter von Asyl zu wahren, ehemalige bewaffnete Kämpfer nur dann als Asylsuchende betrachtet werden, wenn nachgewiesen wurde, dass sie tatsächlich und dauerhaft auf militärische Aktivitäten verzichten. Bei Anträgen von ehemaligen bewaffneten Kräften sollte außerdem möglicherweise ein möglicher Ausschluss vom Flüchtlingsstatus überprüft werden. In Anbetracht der besonderen Umstände und der Schutzbedürftigkeit von Kindern sollten die Ausschlussklauseln bei Kindern mit großer Vorsicht angewendet werden.
(Zusammenfassung aus folgender Quelle: UNHCR Richtlinien, Pkt III.A.4.)
Ausschlussgründe
Nach den UNHCR Richtlinien ist hinsichtlich einzelner Personenprofile eine sorgfältige Prüfung erforderlich, ob diese Ausschlussgründe gemäß Art. 1 F der GFK gesetzt haben. Dazu gehört auch die Personengruppe der "(Ehemalige[n]) Mitglieder und Befehlshaber regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs)".
(Zusammenfassung aus den UNHCR Richtlinien, Pkt I.)
Bei (ehemaligen) Mitgliedern der Taliban können Ausschlussgründe vom internationalen Flüchtlingsschutz vorliegen. Die Anwendbarkeit der Ausschlussklauseln ist für Personen relevant, die während der Herrschaft der Taliban und nach ihrem Sturz Mitglieder oder militärische Befehlshaber der Taliban waren, sofern hinreichende Beweise für die Feststellung ernsthafter Gründe für die Erwägung vorliegen, dass sie mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und/oder Verletzungen des humanitären Völkerrechts in Verbindung standen.
(Zusammenfassung aus folgender Quelle: UNHCR Richtlinien, Pkt III.D. sowie Pkt III.D.3.).
1.3.4. Personen, die angeblich gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen
Die Taliban haben Berichten zufolge Personen und Gemeinschaften getötet, angegriffen und bedroht, die in der Wahrnehmung der Taliban gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch die Taliban verstoßen haben.
In Gebieten, in denen die Taliban versuchen, die lokale Bevölkerung von sich zu überzeugen, nehmen sie Berichten zufolge eine mildere Haltung ein. Sobald sich jedoch die betreffenden Gebiete unter ihrer tatsächlichen Kontrolle befinden, setzen die Taliban ihre strenge Auslegung islamischer Prinzipien, Normen und Werte durch.
(Auszug aus folgender Quelle: UNHCR Richtlinien, Pkt III.A.6.)
1.4. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat
Die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (kurz: "LIB"), mit Aktualisierungsstand vom 25.09.2017 (letzte Gesamtaktualisierung am 02.03.2017), enthaltenen Informationen, insbesondere zur allgemeinen Situation im Herkunftsstaat (Sicherheitslage, allgemeine und Verkehrsinfrastruktur, sanitäre und medizinische Versorgung, Bildung, Erwerbsmöglichkeiten, Situation von Rückkehrern), zu den Besonderheiten der ethnischen Gruppierung der Paschtunen und insbesondere zur Lage in der Herkunftsprovinz des BF und auch in der Provinz und Stadt Kabul werden dem vorliegenden Erkenntnis als Feststellung zu Grunde gelegt, wobei nachfolgend die wesentlichen Auszüge zusammengefasst wiedergegeben werden.
1.4.1. Neueste Ereignisse
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil; die Regierung und die Taliban wechselten sich während des Berichtszeitraumes bei Kontrolle mehrerer Distriktzentren ab - auf beiden Seiten waren Opfer zu beklagen (UN GASC 21.9.2017). Der Konflikt in Afghanistan ist gekennzeichnet von zermürbenden Guerilla-Angriffen, sporadischen bewaffneten Zusammenstößen und gelegentlichen Versuchen Ballungszentren zu überrennen. Mehrere Provinzhauptstädte sind nach wie vor in der Hand der Regierung; dies aber auch nur aufgrund der Unterstützung durch US-amerikanische Luftangriffe. Dennoch gelingt es den Regierungskräften kleine Erfolge zu verbuchen, indem sie mit unkonventionellen Methoden zurückschlagen (The Guardian 3.8.2017).
Der afghanische Präsident Ghani hat mehrere Schritte unternommen, um die herausfordernde Sicherheitssituation in den Griff zu bekommen. So hielt er sein Versprechen den Sicherheitssektor zu reformieren, indem er korrupte oder inkompetente Minister im Innen- und Verteidigungsministerium feuerte, bzw. diese selbst zurücktraten; die afghanische Regierung begann den strategischen 4-Jahres Sicherheitsplan für die ANDSF umzusetzen (dabei sollen die Fähigkeiten der ANDSF gesteigert werden, größere Bevölkerungszentren zu halten); im Rahmen des Sicherheitsplanes sollen Anreize geschaffen werden, um die Taliban mit der afghanischen Regierung zu versöhnen; Präsident Ghani bewilligte die Erweiterung bilateraler Beziehungen zu Pakistan, so werden unter anderen gemeinsamen Anti-Terror Operationen durchgeführt werden (SIGAR 31.7.2017).
Zwar endete die Kampfmission der US-Amerikaner gegen die Taliban bereits im Jahr 2014, dennoch werden, laut US-amerikanischem Verteidigungsminister, aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage 3.000 weitere Soldaten nach Afghanistan geschickt. Nach wie vor sind über 8.000 US-amerikanische Spezialkräfte in Afghanistan, um die afghanischen Truppen zu unterstützen (BBC 18.9.2017).
Sicherheitsrelevante Vorfälle
In den ersten acht Monaten wurden insgesamt 16.290 sicherheitsrelevante Vorfälle von den Vereinten Nationen (UN) registriert; in ihrem Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) für das dritte Quartal, wurden 5.532 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert - eine Erhöhung von 3% gegenüber dem Vorjahreswert. Laut UN haben sich bewaffnete Zusammenstöße um 5% erhöht und machen nach wie vor 64% aller registrierten Vorfälle aus. 2017 gab es wieder mehr lange bewaffnete Zusammenstöße zwischen Regierung und regierungsfeindlichen Gruppierungen. Im Gegensatz zum Vergleichszeitraums des Jahres 2016, verzeichnen die UN einen Rückgang von 3% bei Anschlägen mit Sprengfallen [IEDs - improvised explosive device], Selbstmordangriffen, Ermordungen und Entführungen - nichtsdestotrotz waren sie Hauptursache für zivile Opfer. Die östliche Region verzeichnete die höchste Anzahl von Vorfällen, gefolgt von der südlichen Region (UN GASC 21.9.2017).
Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden in Afghanistan von 1.1.-31.8.2017 19.636 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (Stand: 31.8.2017) (INSO o.D.).
Zivilist/innen
Landesweit war der bewaffnete Konflikt weiterhin Ursache für Verluste in der afghanischen Zivilbevölkerung. Zwischen dem 1.1. und 30.6.2017 registrierte die UNAMA 5.243 zivile Opfer (1.662 Tote und 3.581 Verletzte). Dies bedeutet insgesamt einen Rückgang bei zivilen Opfern von fast einem 1% gegenüber dem Vorjahreswert. Dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan fielen zwischen 1.1.2009 und 30.6.2017 insgesamt 26.512 Zivilist/innen zum Opfer, während in diesem Zeitraum 48.931 verletzt wurden (UNAMA 7.2017).
Im ersten Halbjahr 2017 war ein Rückgang ziviler Opfer bei Bodenoffensiven zu verzeichnen, während sich die Zahl ziviler Opfer aufgrund von IEDs erhöht hat (UNAMA 7.2017).
Die Provinz Kabul verzeichnete die höchste Zahl ziviler Opfer - speziell in der Hauptstadt Kabul: von den 1.048 registrierten zivilen Opfer (219 Tote und 829 Verletzte), resultierten 94% aus Selbstmordattentaten und Angriffen durch regierungsfeindliche Elemente. Nach der Hauptstadt Kabul verzeichneten die folgenden Provinzen die höchste Zahl ziviler Opfer: Helmand, Kandahar, Nangarhar, Uruzgan, Faryab, Herat, Laghman, Kunduz und Farah. Im ersten Halbjahr 2017 erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer in 15 von Afghanistans 34 Provinzen (UNAMA 7.2017)
High-profile Angriffe:
Der US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR), verzeichnete in seinem Bericht für das zweite Quartal des Jahres 2017 mehrere High-profile Angriffe; der Großteil dieser fiel in den Zeitraum des Ramadan (Ende Mai bis Ende Juni). Einige extremistische Organisationen, inklusive dem Islamischen Staat, behaupten dass Kämpfer, die während des Ramadan den Feind töten, bessere Muslime wären (SIGAR 31.7.2017).
Im Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) wurden von den Vereinten Nationen folgende High-profile Angriffe verzeichnet:
Ein Angriff auf die schiitische Moschee in der Stadt Herat, bei dem mehr als 90 Personen getötet wurden (UN GASC 21.9.2017; vgl.: BBC 2.8.2017). Zu diesem Attentat bekannte sich der ISIL-KP (BBC 2.8.2017). Taliban und selbsternannte ISIL-KP Anhänger verübten einen Angriff auf die Mirza Olang Region im Distrikt Sayyad in der Provinz Sar-e Pul; dabei kam es zu Zusammenstößen mit regierungsfreundlichen Milizen. Im Zuge dieser Kämpfe, die von 3.-5.August anhielten, wurden mindestens 36 Menschen getötet (UN GASC 21.9.2017). In Kabul wurde Ende August eine weitere schiitische Moschee angegriffen, dabei wurden mindestens 28 Zivilist/innen getötet; auch hierzu bekannte sich der ISIL-KP (UN GASC 21.9.2017; vgl.: NYT 25.8.2017).
Manche high-profile Angriffe waren gezielt gegen Mitarbeiter/innen der ANDSF und afghanischen Regierungsbeamte gerichtet; Zivilist/innen in stark bevölkerten Gebieten waren am stärksten von Angriffen dieser Art betroffen (SIGAR 31.7.2017).
ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte
Die Stärkung der ANDSF ist ein Hauptziel der Wiederaufbaubemühungen der USA in Afghanistan, damit diese selbst für Sicherheit sorgen können (SIGAR 20.6.2017). Die Stärke der afghanischen Nationalarmee (Afghan National Army - ANA) und der afghanischen Nationalpolizei (Afghan National Police - ANP), sowie die Leistungsbereitschaft der Einheiten, ist leicht gestiegen (SIGAR 31.7.2017).
Die ANDSF wehrten Angriffe der Taliban auf Schlüsseldistrikte und große Bevölkerungszentren ab. Luftangriffe der Koalitionskräfte trugen wesentlich zum Erfolg der ANDSF bei. Im Berichtszeitraum von SIGAR verdoppelte sich die Zahl der Luftangriffe gegenüber dem Vergleichswert für 2016 (SIGAR 31.7.2017).
Die Polizei wird oftmals von abgelegen Kontrollpunkten abgezogen und in andere Einsatzgebiete entsendet, wodurch die afghanische Polizei militarisiert wird und seltener für tatsächliche Polizeiarbeit eingesetzt wird. Dies erschwert es, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen. Die internationalen Truppen sind stark auf die Hilfe der einheimischen Polizei und Truppen angewiesen (The Guardian 3.8.2017).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Taliban