TE Bvwg Beschluss 2018/3/16 I419 2158352-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.03.2018
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

16.03.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3

Spruch

I419 2158352-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Dr. Tomas JOOS als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Algerien, vertreten durch RA Dr. Wolfgang WEBER gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 04.05.2017, Zl. XXXX:

A) In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben

und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin reiste am 03.09.2014 mit einem österreichischen Schengen-Visum ein und war bis 31.07.2016 Inhaberin eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger". Ihren Verlängerungsantrag hat der LH von Wien am 19.10.2016 abgewiesen, da sie Ehegattin eines staatenlosen Fremden sei, und die bisherigen Aufenthaltstitel unter der irrtümlichen Annahme erteilt worden wären, dieser sei Österreicher. Der Bescheid des LH blieb unbekämpft.

2. Am 03.10.2016 richtete die Beschwerdeführerin per E-Mail einen "Antrag für eine Aufenthaltserlaubnis in Österreich/Wien" an das BFA. Das BFA leitete diesen an den LH von Wien weiter, der ihn als Stellungnahme im Parteiengehör betrachtete. Am 18.10.2016 brachte die Beschwerdeführerin beim BFA über ihren rechtsfreundlichen Vertreter einen Antrag auf Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" nach § 56 Abs. 1 AsylG 2005 unter Hinweis auf ihre erlaubte Erwerbstätigkeit ein, welches ihr im Rahmen des Parteiengehörs zu einer beabsichtigten Rückkehrentscheidung mitteilte, dass "ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt wird".

3. Darauf zog die Beschwerdeführerin ihren Antrag vom 18.10.2016 am 24.11.2016 zurück und brachte ihn in identer Form, mit auf 10.03.2017 korrigiertem Datum, nochmals beim BFA ein, wo er am 14.03.2017 einlangte.

Neuerlich gewährte ihr das BFA darauf am 29.03.2017 Parteiengehör zur beabsichtigten Rückkehrentscheidung, ohne dabei auf den Antrag der Beschwerdeführerin Bezug zu nehmen, und verfügte die Sicherstellung ihres Reisepasses und ihres abgelaufenen Aufenthaltstitels.

4. Mit dem bekämpften Bescheid hat das BFA der Beschwerdeführerin einen "Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen" "gemäß §§ 57 und 55 Asylgesetz 2005" nicht erteilt und eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I) sowie die Abschiebung nach Algerien für zulässig erklärt (Spruchpunkt II).

Zugleich stellte das BFA mit Spruchpunkt III fest, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage beträgt.

Begründend führte das BFA aus, der Magistrat Wien habe der Beschwerdeführerin zu Unrecht empfohlen, einen Antrag nach § 56 Abs. 1 AsylG 2005 einzubringen, was deren rechtsfreundlicher Vertreter am 18.10.2016 getan habe. Eine der nötigen Voraussetzungen für die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung plus" nach dieser Bestimmung sei ein durchgehender Aufenthalt im Bundesgebiet seit fünf Jahren zum Antragszeitpunkt. Der am 14.03.2017 eingebrachte Antrag sei "ein komplett gleicher" wie jener, der am 24.11.2016 zurückgezogen worden sei. Da für diesen späteren Antrag "noch immer keine positiven Erteilungsvoraussetzungen" bestünden, werde "in Absprechung über diesen Antrag die vorliegende Rückkehrentscheidung herangezogen".

"Ergänzend" führt das BFA an, der Gatte der Beschwerdeführerin habe zwei Wochen zuvor das BFA kontaktiert und telefonisch mitgeteilt, die Wohngemeinschaft sei nicht mehr aufrecht. Die Beschwerdeführerin habe ihn seiner Auffassung nach nur geheiratet, um einen Aufenthaltstitel zu erlangen, und er wolle sich scheiden lassen.

Weiters begründete das BFA so:

Die Beschwerdeführerin gehe einer Erwerbstätigkeit nach, habe aber nur durch einen Irrtum der Aufenthaltsbehörde Zugang zum Arbeitsmarkt erlangt. Zu Österreich habe sie "nicht absprechbare Bindungen beruflicher und familiärer Art, die nur durch die Fehlentscheidung bzw. Einschätzung einer Behörde zustande kommen konnten". Wegen ihres kurzen Aufenthalts könne § 56 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 keine Anwendung finden.

Da ein unrechtmäßiger Aufenthalt vorliege, und kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt werde, sei eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.

5. In der dagegen erhobenen Beschwerde wird im Wesentlichen geltend gemacht, die Beschwerdeführerin sei auf Grund des vom LH von Wien erteilten Titels eingereist, gehe einer Beschäftigung nach und habe sich vollkommen integriert. Sie spreche gut Deutsch, sei beschäftigt, habe "hier Freund und Verwandte" und ihre "Zelte in Algerien abgebrochen". Sie sei davon ausgegangen, ihr weiteres Leben in Österreich zu verbringen. Man könne ihr nicht "anlasten", dass sich die Behörde bei der Erteilung des Aufenthaltstitels geirrt habe.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1 Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin ist strafrechtlich unbescholten. Sie ist als Arbeiterin berufstätig in einem Restaurant in Wien. Dabei bezieht sie monatliche Löhne von brutto über € 700,--. Gelegentlich verdient sie mit weiteren - ebenso angemeldeten - vorübergehenden Tätigkeiten als Arbeiterin weiteres Geld. Ihre Identität und ihre algerische Staatsangehörigkeit stehen fest. Sie hat am 31.03.2015 Deutschkenntnisse auf Niveau A1 nachgewiesen.

Sie ist seit 27.09.2014 mit einem XXXX in Wien geborenen Staatenlosen verheiratet, mit dem sie auch seit 04.09.2014 in dessen Wohnung in Wien XXXX gemeinsam mit Hauptwohnsitz gemeldet ist. Die standesamtliche Trauung fand in Niederösterreich statt. Ihr Gatte ist Sohn einer Österreicherin und Inhaber eines Fremdenpasses sowie einer unbefristeten Niederlassungsbewilligung als Familienangehöriger seiner Mutter. Er bezieht eine Pension samt Ausgleichszulage, die etwa € 100,-- weniger als der Lohn der Beschwerdeführerin beträgt.

Für die vom Gatten der Beschwerdeführerin angemietete Garconniere, in der die Ehegatten gemeldet sind, fallen an Miete und Betriebskosten monatlich rund € 300,-- an.

Die Beschwerdeführerin war Mitte 2017 für einen Monat in einer Fraueneinrichtung und ist seither in einer Einrichtung der "XXXX", beides im Inland, angemeldet, und zwar jeweils mit Nebenwohnsitz. Nach eigenen Angaben hat sie eine Schwester und die Schwiegermutter im Bundesgebiet und ist Muslima.

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.

2.2 Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Feststellungen zu den allgemeinen Lebensumständen der Beschwerdeführerin gründen sich auf ihre Angaben und die im Akt befindlichen Urkundenkopien, die Feststellungen zu den ehelichen Verhältnissen auf eben diese Beweismittel sowie auf die eingeholten aktuellen Registerauskünfte.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung

Das BFA geht nach der Begründung seines Bescheids (S. 3 f, AS 67 f) offenbar davon aus, dass dieser die anhängigen Verfahren der Beschwerdeführerin durch eine Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach §§ 57 und 55 AsylG 2005 (Spruchpunkt I) abschließt, während eine Erledigung nach § 56 AsylG 2005 nicht in Frage komme, weil - nach Ansicht des BFA - materielle Voraussetzung für den beantragten Titel fehlen.

Das BFA irrt dabei, weil über gestellte Anträge entweder - wenn sie zulässig sind - inhaltlich zu entscheiden ist, oder - wenn sie unzulässig sind - formell. Dieser Grundsatz gilt auch für Anträge nach § 56 AsylG 2005 (vgl. § 58 Abs. 8 f [bis 31.10.2017: Abs. 7 f] AsylG 2005). Fehlen materielle Voraussetzungen für eine antragsgemäße Erledigung, dann ist ein Antrag abzuweisen, weil der behauptete Rechtsanspruch nicht besteht.

Das BFA hat weder über den Antrag der Beschwerdeführerin vom 10.03.2017 auf Erteilung des Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung plus" nach § 56 Abs. 1 AsylG 2005 abgesprochen, noch ist aus dem Spruch oder der Begründung erkennbar, dass das BFA über den am 03.10.2016 per E-Mail gestellten "Antrag für eine Aufenthaltserlaubnis in Österreich/Wien" gemäß §§ 55 ff AsylG oder einer anderen Rechtsvorschrift entschieden hätte oder entscheiden wollte.

Ohne eine solche einen Parteiantrag ab- oder zurückweisende Entscheidung liegt aber die Voraussetzung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG nicht vor, die das BFA in der Begründung zitiert. Zu prüfen bleibt, ob eine Rückkehrentscheidung nach § 10 Abs. 2 AsylG 2005 wie im Spruchpunkt I angegeben auf Basis der Feststellungen des BFA bestehen kann.

Wie zu zeigen sein wird, hat das BFA nicht ausreichend für diese tatsächlich von Amts wegen getroffene Entscheidung ermittelt.

3.1 Erforderlichkeit der Beurteilung des Privat- und Familienlebens:

Der im Bescheid genannte § 10 Abs. 2 AsylG 2005 ordnet an, dass die Entscheidung, mit welcher einem Fremden von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird, mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden ist. Für die amtswegige Nichterteilung eines Titels nach § 55 AsylG 2005 gilt das demnach nicht, wie auch aus § 10 Abs. 3 erhellt, der sich - siehe weiter unten - mit den Folgen der abweisenden Entscheidung über Anträge gemäß §§ 55 ff AsylG 2005 befasst.

Nach dem ebenso im Bescheid genannten und im bezogenen 8. Hauptstück des FPG zu findenden § 52 Abs. 1 Z. 1 FPG ist gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Allerdings legt § 9 Abs. 1 BFA-VG fest, dass - u. a - eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingreift, nur zulässig ist, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind nach § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Demgegenüber führt das BFA begründend aus (S. 6, AS 70), aus dem Akt gehe "kein verfahrensrelevantes Privat- und Familienleben hervor", und die Beschwerdeführerin habe im Zuge der Einräumung von Parteiengehör keine Stellungnahme erstattet.

3.2 Mangelnde Ermittlungen

Soweit damit die eben angeführten Kriterien der Beurteilung des Privat- und Familienlebens gemeint sind, deren "Verfahrensrelevanz" evident ist, erschließt sich nicht, warum das BFA ihm vorliegende Urkunden genauso außer Acht lässt wie die Register z. B. betreffend Vorstrafen, Wohnsitzmeldungen und Grundversorgung.

Die Beschwerdeführerin hat nämlich jene im Zuge des Parteiengehörs im März 2017 angeforderten Auskünfte und Unterlagen (AS 41 f), deren Aktualität sich grundsätzlich durch Registerabfragen verifizieren ließ, bereits ein halbes Jahr zuvor dem Auftrag des BFA gemäß diesem erteilt und vorgelegt (AS 9 ff). Die Feststellung, aus dem Akt gehe "kein verfahrensrelevantes Privat- und Familienleben hervor" erweist sich damit als aktenwidrig oder als rechtsirrige Verkennung der Relevanz der Beweismittel in Verbindung mit dem Vorbringen.

Insoweit das BFA im übernächsten Satz ausführt (S. 6, AS 70), der Gatte der Beschwerdeführerin strebe "mittlerweile sogar eine Scheidungsklage an", weil er seinen Angaben nach meine, die Beschwerdeführerin habe die Eheschließung nur zur Erlangung eines Aufenthaltstitels angestrebt, bleibt unerfindlich, warum es an die Beschwerdeführerin gerichtet weiter heißt: "Eine Stellungnahme gaben Sie nicht ab." Der Beschwerdeführerin wurde dieser Umstand nämlich, soweit aus dem Akt ersichtlich, nie vor Erlassung des Bescheids mitgeteilt.

Eine über die Wiedergabe der Angaben des Gatten hinausgehende Feststellung des tatsächlichen Sachverhalts fehlt ebenso betreffend die eheliche Wohngemeinschaft. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin "zuletzt" an der Anschrift ihres Schwagers übernachtet habe (S. 9, AS 73) reicht nicht aus, um das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin als nicht relevant zu qualifizieren, was auch für die Überlegung des BFA gilt, dass deren Bindungen beruflicher oder privater Art nur durch einen Behördenfehler zustande kommen hätten können (S. 8 f, AS 72 f). Die Konkretisierung dieser Bindungen beschränkt sich auf: "Sie gehen einer Erwerbstätigkeit nach" (S. 9, AS 73).

Auch betreffend den Wohnsitz der Beschwerdeführerin belässt es das BFA zu Unrecht dabei, die - so nicht aktenkundige - Ansicht ihres Gatten zu referieren, wonach sie (in der Vergangenheit) über einen gesicherten solchen bei diesem verfügt habe (S. 9, AS 73), zumal entgegen dessen Angaben (AS 54) die Hauptwohnsitzmeldung der Beschwerdeführerin bis dato aufrecht ist.

3.3 Relevanz für Absprache über beantragte "Aufenthaltsbewilligung plus" oder andere beantragte Aufenthaltstitel

Selbst unter der Annahme, das BFA hätte mit dem bekämpften Bescheid abschlägig über die Anträge der Beschwerdeführerin absprechen wollen, und es wäre zulässig, den Spruch in diesem Sinne zu korrigieren oder ergänzen, würde Letzteres daran scheitern, dass auch für ein solches Vorgehen hinreichende Feststellungen zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin vonnöten wären.

Nach § 56 Abs. 1 AsylG 2005 kann im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen auf begründeten Antrag, auch wenn sie sich in einem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme vor dem BFA befinden, eine "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt werden, wenn die Drittstaatsangehörigen neben anderen Voraussetzungen zum Antragszeitpunkt fünf Jahre im Bundesgebiet rechtmäßig aufhältig sind.

Die Behörde hat dabei nach Abs. 3 den Grad der Integration des Drittstaatsangehörigen, insbesondere die Selbsterhaltungsfähigkeit, die schulische und berufliche Ausbildung, die Beschäftigung und die Kenntnisse der deutschen Sprache zu berücksichtigen.

Bezogen auf diese Inhalte erfuhren die angeführten Bestimmungen nach Erlassung des Bescheids durch BGBl. I Nr. 68/2017 keine Änderung, sodass von der aktuellen Rechtslage ausgegangen werden kann.

In § 10 Abs. 3 AsylG 2005 ist für den Fall, dass der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen wird, angeordnet, diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies insoweit, als kein Fall des § 58 Abs. 9 Z. 1 bis 3 vorliegt.

Ebenso ordnet § 52 Abs. 3 FPG an, dass das BFA "unter einem" mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.

Für die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gilt aber wiederum § 9 Abs. 1 f BFA-VG, wonach diese bei einem Eingriff in das Privat- oder Familienleben nur vorliegt, wenn sie zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten Ziele dringend geboten ist.

3.4 Zur Zurückverweisung

Wie gezeigt, erfordert die inhaltliche Erledigung der vorliegenden Beschwerde eine Anwendung der Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA-VG. Die Rechtsprechung verlangt eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung (VwGH 25.01.2018, Ra 2017/21/0218 mwH), die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (VwGH 07.09.2016, Ra 2016/19/0168 mwH).

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG (Bescheidbeschwerden) dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Z. 1) oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Z. 2).

Nach § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Beschwerdevorlage unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist dabei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von der das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheids und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die belangte Behörde folgt konzeptionell dem des § 66 Abs. 2 AVG (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren [2013] § 28 VwGVG Anm. 11). Bei der Ausübung des Ermessens nach § 66 Abs. 2 f AVG sind auch die Bedeutung und die Funktion der Rechtmittelbehörde ins Kalkül zu ziehen. Die Einräumung eines Instanzenzugs darf nicht "zur bloßen Formsache degradiert" werden, indem sich das Verfahren mangels sachgerechten Eingehens und brauchbarer Ermittlungsergebnisse [in erster Instanz] "einem eininstanzlichen Verfahren [...] nähert", in dem eine ernsthafte Prüfung des Antrages erst bei der zweiten und letzten Instanz beginnt und auch endet (VwGH 21.11.2002, 2000/20/0084).

Die Begründung eines Bescheides hat Klarheit über die tatsächlichen Annahmen der Behörde und ihre rechtlichen Erwägungen zu schaffen. Als Sachverhalt hat sie daher alle Feststellungen in konkretisierter Form zu enthalten, die zur Subsumierung unter die von der Behörde herangezogene Norm erforderlich sind. Nur so ist es möglich, den Bescheid auf seine Rechtsrichtigkeit zu überprüfen (VwGH 28.07.1994, 90/07/0029 mwH).

Dennoch kommt eine Aufhebung des Bescheids nach § 28 Abs. 2 Z. 1 f VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht, oder seine Feststellung durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen, besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (§ 37 AVG) "lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden" (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063).

Das Verwaltungsgericht hat nachvollziehbar zu begründen, wenn es eine meritorische Entscheidungszuständigkeit nicht als gegeben annimmt, etwa weil es das Vorliegen der Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 Z. 1 f VwGVG verneint und von der Möglichkeit des § 28 Abs. 3 erster Satz VwGVG keinen Gebrauch macht, dessen ungeachtet selbst zu entscheiden. Die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Zurückverweisungsmöglichkeit ist nämlich eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte.

Im vorliegenden Fall allerdings hat das BFA erforderliche Ermittlungen zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalts unterlassen und bloß ansatzweise und nur grob mangelhaft ermittelt, und zwar konkret betreffend das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin folgendermaßen:

Das BFA hat entgegen seiner generellen Pflicht zur Sachverhaltsermittlung anhand der Kriterien des § 9 Abs. 1 f BFA-VG und trotz der im speziellen Fall unzureichenden und widersprüchlichen Akteninhalte (AS 26 f versus AS 45) seine Feststellungen lediglich auf Basis eines Teils des Aktes und ohne erkennbare eigene ergänzende Ermittlungstätigkeit getroffen, sodass Umfang und Inhalt der Feststellungen im Ergebnis nicht zur Entscheidung der Rechtssache hinreichen. Auf die Ausführungen oben unter 3.2 sei verwiesen, um Wiederholungen zu vermeiden.

Im Ergebnis beschränken sich die Feststellungen des BFA auf wenige, dem Antrag und der Stellungnahme im Zuge des Parteiengehörs entnommene Angaben der Beschwerdeführerin sowie die Wiedergabe von Angaben Dritter, wie des Gatten oder der Polizei. Selbst dabei wurde wie auch bei der Beschwerdeführerin selbst eine Einvernahme unterlassen. Der Großteil des maßgeblichen Sachverhalts im Sinne des § 9 Abs. 2 BFA-VG, blieb daneben ungeklärt.

Unter anderem lassen die Angaben des Gatten gegenüber dem BFA (AS 45) und der Polizei (AS 54 f) offen, ob dieser tatsächlich Anlass hat, am ursprünglichen Ehewillen der Beschwerdeführerin zu zweifeln, oder er ihr ohne einen solchen Anlass die Tür gewiesen, oder sie ihn allenfalls aus Eigenem verlassen hatte, und wenn ja weshalb. Im Dunkeln bleibt auch, welche Entwicklung sich seither ergeben hat, speziell in Anbetracht des aktuellen Standes des ZMR.

Damit fehlt auch eine Feststellung betreffend die Einleitung oder den Ausgang eines Verfahrens über die Scheidung der Ehe.

Das BFA hat somit im angefochtenen Bescheid keine im Entscheidungswesentlichen hinreichende Sachverhaltsfeststellung und deswegen keine auf eine solche aufbauende rechtliche Würdigung vorgenommen. Das BFA wird daher insoweit notwendige Ermittlungen vornehmen müssen, und einen neuen Bescheid zu erlassen haben, in dessen Begründung es darlegt, auf Grund welchen Sachverhalts es zu der den Spruch tragenden rechtlichen Beurteilung gekommen ist. Nur auf diese Weise wird die im Beschwerdefall folgende verwaltungsgerichtliche Kontrolle des Bescheids möglich.

Das BFA wird insbesondere nicht umhinkönnen, Feststellungen zum Bestehen und zu den Ausprägungen des Ehe- und Familienlebens der Beschwerdeführerin zu treffen, zumal sich aus den widerstreitenden Angaben dieser (AS 26 f) und ihres Gatten (AS 45) kein klares Bild ergibt. Die beiden genannten werden dazu auch einzuvernehmen sein, und wenn das die Sachverhaltsfeststellung noch nicht ermöglicht, auch weitere Personen wie der genannte Schwager (AS 55), die Schwester (AS 5, 49) und die Schwiegermutter (AS 27, 38). Die Parteienvernehmung kann im Sinne des § 39 Abs. 2 AVG zugleich im amtswegigen und im Antragsverfahren und zur Klärung des Parteiwillens beim Antrag vom 03.10.2016 genutzt werden.

Anhand der anschließend zu treffenden Feststellungen wird das BFA die Interessensabwägung zum Schutz des Privat- und Familienlebens vornehmen und dabei auch die bislang unterbliebenen Feststellungen zur Bindung der Beschwerdeführerin an den Herkunftsstaat einbeziehen können, sowie anhand der Länderfeststellungen auch eine gegenüber dem Bescheid (S. 9, AS 73: "jung und offensichtlich auch arbeitswillig") stärker fallbezogene Prognose über ihre Situation nach Rückkehr als (im Fall entsprechender Feststellung: alleinstehende) rund 40-jährige Muslima.

Es hat sich nicht ergeben, dass die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das BVwG selbst im Interesse der Raschheit gelegen wäre, zumal nichts darauf hindeutet, dass die erforderlichen Feststellungen durch das Gericht selbst, verglichen mit Feststellungen durch das BFA nach Zurückverweisung der Angelegenheit, mit einer wesentlichen Zeitersparnis oder Verkürzung der Verfahrensdauer verbunden wären.

Schließlich liegt auch kein Anhaltspunkt dahingehend vor, dass die Feststellung durch das Gericht selbst verglichen mit einer solchen durch die BFA-Dienststelle mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre. Die wichtigsten oben angeführten Auskunftspersonen befinden sich sämtlich, die anderen soweit bekannt (nicht bekannt bei Schwester und Schwiegermutter) im selben Gemeindegebiet wie die BFA-Dienststelle, im Gegensatz zur zuständigen Gerichtsabteilung.

Da somit die Voraussetzungen des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorliegen, waren der angefochtene Bescheid aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Im Hinblick darauf konnte eine Behandlung der somit ebenfalls aus dem Rechtsbestand ausscheidenden Spruchpunkte II und III unterbleiben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung zu den amtswegigen Ermittlungspflichten oder zu den Voraussetzungen der Zurückverweisung aus verwaltungsökonomischen und Gründen des Rechtsschutzes nach § 28 Abs. 3 VwGVG im Fall der mangelhaften Sachverhaltsermittlung. Es fehlt auch nicht an einer Rechtsprechung zur Relevanz des Privat- und Familienlebens bei Rückkehrentscheidungen.

Die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage(n) kamen nicht hervor.

4. Zum Unterbleiben einer Verhandlung:

Da auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG die Durchführung einer Verhandlung entfallen.

Schlagworte

Ermittlungspflicht, geänderte Verhältnisse, Kassation, mangelnde
Sachverhaltsfeststellung, persönliche und soziale Bindungen,
Rückkehrentscheidung, Scheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:I419.2158352.1.00

Zuletzt aktualisiert am

30.03.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten