TE Vwgh Erkenntnis 2018/3/6 Ra 2017/08/0071

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Veröffentlicht am 06.03.2018
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
14/02 Gerichtsorganisation;
40/01 Verwaltungsverfahren;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;
66/03 Sonstiges Sozialversicherungsrecht;

Norm

ASGG §65;
ASVG §354;
ASVG §414;
BPGG 1993 §22;
BPGG 1993 §24;
BPGG 1993 §34;
B-VG Art10 Abs1 Z11;
B-VG Art102;
B-VG Art103;
B-VG Art120b Abs2;
B-VG Art130 Abs1 Z1;
B-VG Art130;
B-VG Art131 Abs2;
B-VG Art131;
VwGG §28 Abs1 Z4;
VwGVG 2014 §31 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des J L in Wien, geboren am XX.XXXX.XXXX, vertreten durch E L, diese vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3, gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Wien vom 9. Dezember 2016, Zl. VGW-101/042/13676/2016-1, betreffend Zuständigkeit für die Behandlung einer Beschwerde in einer Angelegenheit des BPGG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Pensionsversicherungsanstalt), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Mit in Rechtskraft erwachsenem Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) vom 16. Februar 2015 wurde der Antrag des Revisionswerbers auf Gewährung von Pflegegeld gemäß §§ 4 und 48f Bundespflegegeldgesetz - BPGG abgewiesen. Am 16. Februar 2016 beantragte der Revisionswerber die Wiederaufnahme des mit diesem Bescheid abgeschlossenen Verfahrens. Der Antrag wurde mit Bescheid der PVA vom 2. August 2016 abgewiesen. Die entsprechend der Rechtsmittelbelehrung dagegen vom Revisionswerber erhobene Klage wurde vom Arbeits- und Sozialgericht Wien mit Beschluss vom 7. September 2016 zurückgewiesen, weil Gegenstand des Verfahrens ein formalrechtlicher verwaltungsrechtlicher Anspruch sei; es handle sich um keine Leistungssache und damit um keine Sozialrechtssache im Sinn des § 65 ASGG.

2 Mit Eingabe vom 3. Oktober 2016 an die PVA und das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) beantragte der Revisionswerber daraufhin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist. Unter einem wurde die versäumte Rechtshandlung (Beschwerde gegen den Bescheid der PVA vom 2. August 2016) nachgeholt.

3 Das BVwG leitete den Wiedereinsetzungsantrag und die Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Wien (LVwG) weiter. Dieses stellte mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss fest, dass es zur Behandlung weder des Wiedereinsetzungsantrages noch der Beschwerde zuständig sei. Nachdem es sich mit der Zuständigkeitsfrage auf rund fünfzig Seiten auseinandergesetzt hatte, erklärte es, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei, weil keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliege.

4 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Im vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren hat die PVA eine "Revisionsbeantwortung" erstattet, in der sie allerdings der Rechtsansicht des Revisionswerbers beigetreten ist.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

5 Die Revision macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG geltend, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes bzw. der Landesverwaltungsgerichte bei Beschwerden gegen Bescheide nach dem BPGG fehle.

6 Die Revision ist aus dem genannten Grund zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.

7 Gemäß § 22 BPGG sind zur Entscheidung in Angelegenheiten nach diesem Bundesgesetz verschiedene näher bezeichnete Sozialversicherungsträger (PVA, Unfallversicherungsträger mit Ausnahme der AUVA, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau) zuständig.

8 Gemäß § 24 BPGG finden, soweit das BPGG nichts anderes bestimmt, auf das Verfahren vor den Sozialversicherungsträgern die §§ 354, 358 bis 361, 362a bis 367 ASVG und auf das Verfahren vor den übrigen Entscheidungsträgern die Vorschriften des AVG mit Ausnahme der §§ 45 Abs. 3 und 68 Abs. 2 Anwendung.

9 Gemäß § 27 Abs. 2 BPGG haben Bescheide auf die Möglichkeit der Klage beim zuständigen Arbeits- und Sozialgericht hinzuweisen.

10 Aus dem Verweis auf § 354 ASVG ergibt sich, dass auch im Anwendungsbereich des BPGG die Verwaltungssachen von den Leistungssachen abzugrenzen sind. Bei der Entscheidung über einen Wiederaufnahmeantrag handelt es sich um keine Entscheidung in einer Leistungssache im Sinn der genannten Bestimmung, weshalb gegen einen solchen Bescheid der Klagsweg nicht zulässig ist (vgl. auch die Definition der Sozialrechtssachen in § 65 ASGG). Er ist vielmehr gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG mit Beschwerde an das zuständige Verwaltungsgericht zu bekämpfen (vgl. zur Zuordnung von Bescheiden der Sozialversicherungsträger, mit denen in Leistungssachen die Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt wird, zu den Verwaltungssachen etwa auch VwGH 20.2.2008, 2006/08/0239, mwN).

11 Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte für Beschwerden gegen Bescheide in Verwaltungssachen regelt das BPGG nicht; der Verweis des § 24 BPGG umfasst nicht auch den § 414 ASVG, aus dem sich eine Zuständigkeit des BVwG ergäbe. Somit ist die Zuständigkeit zur Entscheidung über solche Beschwerden unmittelbar auf Grund des Art. 131 B-VG zu beurteilen.

12 Diese Bestimmung enthält in ihrem Abs. 1 eine Generalklausel zugunsten der Verwaltungsgerichte der Länder für alle Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG. Die Zuständigkeiten des Verwaltungsgerichts des Bundes sind in Art. 131 Abs. 2 und 3 B-VG taxativ aufgezählt. Demnach erkennt das Verwaltungsgericht des Bundes - gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG - insbesondere über Beschwerden in Rechtssachen in den Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden.

13 Ausgehend davon ist im vorliegenden Fall zunächst zu klären, ob die Vollziehung des BPGG - die gemäß Art. 10 Abs. 1 Z 11 B-VG ("Pflegegeldwesen") Bundessache ist - im Sinn des Art. 131 Abs. 2 B-VG unmittelbar von Bundesbehörden, das heißt in unmittelbarer Bundesverwaltung, besorgt wird. Diese Form der Vollziehung wäre gemäß Art. 102 Abs. 2 B-VG, der das "Pflegegeldwesen" ausdrücklich nennt, verfassungsrechtlich zulässig.

14 § 22 BPGG überträgt die Vollziehung des Gesetzes, wie dargestellt, verschiedenen Sozialversicherungsträgern (PVA, Unfallversicherungsträger mit Ausnahme der AUVA, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau). Gemäß § 34 BPGG haben sie ihre Aufgaben nach den Weisungen des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (PVA, Unfallversicherungsträger) bzw. des Bundesministers für Finanzen (Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau) zu vollziehen.

15 Die genannten Sozialversicherungsträger sind keine Bundesbehörden im organisatorischen Sinn, sondern im Vollziehungsbereich des Bundes nach Art. 10 Abs. 1 Z 11 B-VG ("Sozial- und Vertragsversicherungswesen") eingerichtete Selbstverwaltungskörper, denen der Bundesgesetzgeber, gestützt auf Art. 120b Abs. 2 B-VG, Aufgaben staatlicher Verwaltung übertragen hat. Entscheidend ist, ob die Besorgung der übertragenen Angelegenheit durch diese Selbstverwaltungskörper (im vorliegenden Fall: die PVA) als Besorgung unmittelbar durch eine Bundesbehörde im Sinn des Art. 131 Abs. 2 B-VG (als unmittelbare Bundesverwaltung) zu qualifizieren ist.

16 Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis VfGH 4.3.2015, E 923/2014, VfSlg 19.953, der Auffassung, dass ein Fall der unmittelbaren Bundesverwaltung nicht vorliegen könne, wenn ein Organ eines anderen Rechtsträgers als des Bundes tätig werde, ausdrücklich eine Absage erteilt, und zwar vor allem mit dem Argument, die von ihm abgelehnte Auffassung übersehe, dass die Tätigkeit von Organen solcher Rechtsträger dann auch der mittelbaren Bundesverwaltung und damit der Bundesverwaltung überhaupt nicht zurechenbar wäre. Dass die Verfassung eine Vollzugstätigkeit für den Bund durch solche Rechtsträger schlechthin ausschließe, sei ihr aber nicht zu unterstellen. Solche "bundesnahen Organe" seien daher nach den sie einrichtenden Rechtsgrundlagen der unmittelbaren Bundesverwaltung (und in der Folge der Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes) oder der mittelbaren Bundesverwaltung (und damit der Zuständigkeit der Landesverwaltungsgerichte) zuzuordnen.

17 Aus dieser vom Verwaltungsgerichtshof geteilten Auffassung folgt, dass die hoheitliche Besorgung von Aufgaben der Bundesvollziehung (etwa durch Erlassung von Bescheiden) durch Organe eines nichtgemeindlichen Selbstverwaltungskörpers grundsätzlich auch in einer Weise in Betracht kommt, die als Besorgung "unmittelbar durch Bundesbehörden" im Sinn des Art. 131 Abs. 2 B-VG zu verstehen ist. Eine solche liegt nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes dann vor, wenn die hoheitliche Besorgung von Aufgaben der Bundesvollziehung durch das Organ eines "bundesnahen" nichtgemeindlichen Selbstverwaltungskörpers ohne Einbindung des Landeshauptmanns (als wesentliches Element der mittelbaren Bundesverwaltung) erfolgt.

18 Dies trifft hier zu: Im Hinblick auf die in § 34 BPGG ausdrücklich normierte Bindung unmittelbar an Weisungen eines Bundesministers handelt es sich bei den in § 22 BPGG genannten Sozialversicherungsträgern nicht nur um "bundesnahe" Einrichtungen, sondern es liegt - mangels Einbindung des Landeshauptmannes - auch eine Besorgung unmittelbar durch Bundesorgane vor (vgl. zur Maßgeblichkeit der Stellung des Landeshauptmannes auch Wiederin, Das Bundesverwaltungsgericht: Zuständigkeiten und Aufgabenbesorgung, in Holoubek/Lang (Hrsg.), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz (2013) 29 (42), und Faber, Verwaltungsgerichtsbarkeit (2013), Art. 131 B-VG Rz 18).

19 Daraus folgt gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG die Zuständigkeit des BVwG für Entscheidungen über Beschwerden gegen Bescheide in Verwaltungssachen nach dem BPGG, sohin auch über die dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegende Beschwerde. Daran vermögen die Ausführungen in den ErläutRV 2193 BlgNR 24. GP, 11, wonach gegen verfahrensrechtliche Bescheide künftig im Bereich des BPGG eine Beschwerde an die Verwaltungsgerichte der Länder möglich sein soll, nichts zu ändern.

20 Das LVwG hat daher zu Recht seine Zuständigkeit verneint. Es hat dies auch zu Recht förmlich in Form eines Beschlusses - und nicht nur durch Weiterleitung gemäß § 17 VwGVG iVm § 6 AVG - getan. Denn jedenfalls dann, wenn die Unzuständigkeit eines Verwaltungsgerichts zweifelhaft und nicht offenkundig ist, ist eine Entscheidung über die Zuständigkeit in der in den Verfahrensgesetzen vorgesehenen Form (Beschluss über die Zurückweisung wegen Unzuständigkeit oder Erkenntnis in der Sache bzw. Zurückweisung aus anderen Gründen oder Einstellung unter Bejahung der Zuständigkeit) zu treffen (vgl. dazu näher VwGH 24.6.2015, Ra 2015/04/0035, mwN). Dass spruchgemäß keine Zurückweisung, sondern eine - in den Verfahrensgesetzen nicht vorgesehene - Feststellung der Unzuständigkeit erfolgt ist, konnte den Revisionswerber nicht in Rechten verletzen.

21 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 6. März 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017080071.L00

Im RIS seit

27.03.2018

Zuletzt aktualisiert am

04.07.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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