Entscheidungsdatum
14.03.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L502 1424800-2/67E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Türkei, vertreten durch RA Mag. Clemens LAHNER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.10.2014, FZ XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.09.2016 und 12.07.2017, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser zu lauten hat:
"Der Antrag auf internationalen Schutz von XXXX wird bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 3 Z. 2 iVm § 6 Abs. 1 Z. 2 und Abs. 2 AsylG 2005 idgF abgewiesen."
II. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser zu lauten hat:
"Der Antrag auf internationalen Schutz von XXXX wird bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 Z. 1 AsylG 2005 idgF abgewiesen."
III. In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt III des Bescheides dahingehend abgeändert, dass dieser zu lauten hat:
"Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird XXXX gemäß § 57 AsylG nicht erteilt.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 iVm AsylG iVm § 9 BFA-VG wird gegen XXXX eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen.
Gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 9 FPG idgF wird festgestellt, dass die Abschiebung von XXXX in die Türkei unzulässig ist."
IV. Der letzte Satz des Spruchpunkts III des Bescheides wird ersatzlos aufgehoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte im Gefolge seiner Überstellung aus der Schweiz nach Österreich im Rahmen des sogen.
Dublin-Übereinkommens am 04.04.2011 am Flughafen XXXX vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
Er legte dabei als Identitätsnachweise einen türkischen Reisepass, ausgestellt in XXXX am 01.07.2009, dessen Gültigkeit zuletzt am 01.06.2010 bis 30.06.2011 verlängert worden war, und einen türkischen Personalausweis, ausgestellt am 17.11.2005 in XXXX , vor.
2. Am 05.04.2011 wurde die Erstbefragung des BF durchgeführt.
3. Im Gefolge der Zulassung des Verfahrens wurde der BF am 18.05.2011 an der Außenstelle Traiskirchen des Bundesasylamtes (BAA) in türkischer Sprache niederschriftlich einvernommen.
Als Beweismittel legte er ein umfangreiches Konvolut an Unterlagen in türkischer Sprache, teils ergänzt durch deren deutsche Übersetzung, zu gegen ihn in der Türkei geführte Verfahren vor, die zum Akt genommen wurden.
4. Mit 18.05.2011 richtete das BAA ein Erhebungsersuchen an die Staatendokumentation den vom BF behaupteten Sachverhalt betreffend.
5. Am 17.06.2011 langte beim BAA eine weitere Beweismittelvorlage des BF ein, die zum Akt genommen wurde.
6. Mit 08.08.2011 langte das Ergebnis der Erhebungen des Verbindungsbeamten des BM f. I. in der Türkei beim BAA ein.
7. Eine Ergänzungsanfrage des BBA vom 02.09.2011 wurde am 03.10.2011 beantwortet.
8. Am 18.01.2012 wurde der BF neuerlich an der Außenstelle des BAA einvernommen und ihm das Ergebnis der Erhebungen in der Türkei zu Gehör gebracht. Zudem wurden ihm länderkundliche Informationen des BAA zum Thema des Wehrdienstes in der Türkei vorgehalten.
9. Der Antrag des BF wurde mit Bescheid des BAA vom 20.01.2012 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Türkei gemäß § 8 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG wurde er aus Österreich in die Türkei ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
10. Mit Verfahrensanordnung des BAA vom 26.01.2012 wurde dem BF von Amts wegen ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Asylgerichtshof (AsylGH) zur Seite gestellt.
11. Die Zustellung des Bescheides erfolgte durch Hinterlegung beim Postamt mit Wirksamkeit vom 31.01.2012.
12. Mit Schriftsatz vom 06.02.2012, beim BAA eingelangt am 14.02.2012, wurde vom BF in vollem Umfang innerhalb offener Frist Beschwerde gegen den Bescheid vom 20.01.2012 erhoben.
13. Die Beschwerdevorlage des BAA langte am 20.02.2012 beim AsylGH ein.
14. Mit Erkenntnis des AsylGH vom 27.03.2012 wurde der bekämpfte Bescheid behoben und das Verfahren gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Entscheidung an das BAA zurückverwiesen. Das Erkenntnis erwuchs mit 28.03.2012 in Rechtskraft.
15. Am 19.06.2012 wurde der BF neuerlich an der Außenstelle des BAA einvernommen und im Zuge dessen nochmals eine Durchsicht der vorgelegten Beweismittel vorgenommen bzw. deren Ergebnis protokolliert.
16. Mit Eingabe vom 27.06.2012, beim BAA einlangend am 04.07.2012, legte der BF ein weiteres Beweismittel in Form eines Datenbankauszugs des türkischen Kassationsgerichtshofs vor.
17. Am 24.07.2012 übermittelte der BF per Telefax an das BAA als weiteres Beweismittel eine Urteilsausfertigung eines türkischen Strafgerichts ihn betreffend.
18. Mit Schriftsatz eines bevollmächtigten Vertreters vom 06.11.2012 stellte der BF einen Devolutionsantrag an den AsylGH wegen Verletzung der Entscheidungsfrist gemäß § 73 Abs. 1 AVG durch das BAA.
19. Mit Schreiben vom 08.11.2012 forderte der AsylGH die Aktenvorlage durch das BAA an und dieses unter einem zu einer Stellungnahme zum Antrag des BF auf. Beides wurde vom BAA am 21.11.2012 vorgelegt.
20. Mit Erkenntnis vom 29.11.2012 wies der AsylGH den Devolutionsantrag des BF gemäß § 73 Abs. 2 AVG ab. Dieses erwuchs mit 05.12.2012 in Rechtskraft.
21. Am 15.07.2013 langte beim BAA eine Übersetzung des vom BF zuletzt als Beweismittel vorgelegten Gerichtsurteils in die deutsche Sprache ein.
22. Mit Eingabe seines Vertreters vom 09.10.2013 legte der BF weitere türkische Verfahrensunterlagen als Beweismittel vor, darunter ein jüngst gegen ihn ergangenes Strafgerichtsurteil.
23. Mit 26.07.2013 wurde der BF vom BAA aufgefordert, einen Datenträger, den dieser zuvor als Beweismittel vorgelegt hatte, auf dem jedoch keine Daten aufzufinden waren, neuerlich in vollständiger Form vorzulegen.
24. Mit 19.11.2013 richtete das BAA ein weiteres Erhebungsersuchen an die Staatendokumentation zur Überprüfung des zuletzt vom BF vorgelegten Strafgerichtsurteils.
25. Mit 05.12.2013 langte die Beantwortung dieses Ersuchens beim BAA ein. Ergänzend wurden länderkundliche Informationen zur Situation im Allgemeinen in türkischen Gefängnissen übermittelt.
26. Mit Eingabe an das BAA vom 02.01.2014 ersuchte der BF um Ausfolgung seiner bei der Behörde aufliegenden türkischen Identitätsdokumente.
27. Am 10.02.2014 ersuchte die Studienabteilung der Technischen Universität XXXX das BAA um Mitteilung des Verfahrensstandes des BF im Hinblick auf dessen Antrag auf Zulassung zum Studium an der TU.
28. Am 11.07.2014 forderte das BAA den BF auf, binnen gesetzter Frist schriftlich Stellung zu nehmen zu seinen privaten Verhältnissen im Aufnahmeland.
29. Dazu nahm der BF mit Schreiben seines Vertreters vom 28.07.2014 Stellung und legte verschiedene Bescheinigungsmittel vor.
30. Mit Bescheid des (nunmehrigen) Bundesamtes Für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 14.10.2014 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz (neuerlich) bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Türkei gemäß § 8 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z.2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde für eine freiwillige Ausreise eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt (Spruchpunkt III.).
Die Zustellung zu Handen des Vertreters des BF erfolgte am 21.10.2014.
31. Mit Schriftsatz vom 03.11.2014, per Telefax an das BFA am 04.11.2014 übermittelt, erhob der BF durch seinen Vertreter gegen den Bescheid des BFA vom 14.10.2014 in vollem Umfang Beschwerde an das (nunmehrige) Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
32. Die Beschwerdevorlage des BFA langte am 11.11.2014 beim BVwG ein und wurde das gg. Beschwerdeverfahren der nun zur Entscheidung berufenen Gerichtsabteilung zugewiesen.
33. Mit Eingabe vom 25.11.2014 gab der nunmehrige Vertreter des BF seine Bevollmächtigung bekannt.
34. Mit 11.12.2014 forderte das BVwG den BF auf, das gegen ihn zuletzt ergangene Urteil des türkischen Kassationsgerichtshofs einschließlich einer allenfalls vorliegenden Übersetzung in die deutsche Sprache, eine Auflistung aller derzeit gegen ihn in der Türkei anhängigen Verfahren bzw. allfälliger in anderen Rechtssachen zwischenzeitig ergangenen Gerichtsentscheidungen, allfällige Beweismittel seine Wehrdienstpflicht betreffend sowie eine Darstellung seiner aktuellen privaten und familiären Verhältnisse samt Nachweisen binnen gesetzter Frist zu übermitteln.
35. Einem Fristerstreckungsantrag des Vertreters vom 13.01.2015 folgend legte dieser mit Stellungnahme vom 17.02.2015 diverse Beweismittel vor und stellte einen Beweisantrag auf Einvernahme einer namentlich genannten Zeugin.
36. Mit Eingabe vom 15.07.2015 legte der Vertreter des BF weitere Beweismittel vor.
37. Mit Schreiben des BVwG vom 16.09.2015 wurde der BF an die Aufforderung zur Vorlage von Beweismittel vom 11.12.2014 erinnert. Einer weiteren Erinnerung vom 19.10.2015 folgend sagte der Vertreter des BF eine voraussichtliche Beweismittelvorlage bis Dezember 2015 zu. Mit Schreiben vom 10.12.2015 kündigte er nochmals eine baldige Vorlage an.
38. Mit Eingabe vom 29.12.2015 legte der Vertreter des BF ein umfangreiches Konvolut an Unterlagen in Kopieform aus diversen Gerichtsverfahren gegen den BF in der Türkei samt einer Auflistung derselben in deutscher Sprache vor und erstattete dazu eine kurze Stellungnahme. Weitere Unterlagen zum aktuellen Privatleben des BF in Österreich wurden beigelegt.
39. Das BVwG veranlasste in der Folge eine amtswegige Übersetzung dieser Gerichtsunterlagen, deren Ergebnis mit 04.07.2016 beim BVwG einlangte.
40. Mit 15.02.2016 richtete das BVwG ein Ersuchen an das BFA um Übermittlung des Verfahrensaktes der vom BF am 17.02.2015 genannten Zeugin, dem vom BFA umgehend entsprochen wurde. Das BVwG erstellte in der Folge Kopien dieser Unterlagen, die dem gg. Verfahrensakt beigelegt wurden, und stellte den Verfahrensakt der Zeugin mit 21.11.2016 wieder an das BFA zurück.
41. Mit Schreiben vom 15.02.2016 forderte das BVwG den Vertreter des BF auf, Verfahrensunterlagen von zwei weiteren vom BF genannten, in Deutschland lebenden Zeugen beizubringen.
42. Dazu nahm der BF durch seinen Vertreter am 17.02.2016 kurz Stellung und legte mit Eingabe an das BVwG vom 13.04.2016 mehrere Bescheinigungsmittel vor.
43. Am 22.09.2016 führte das BVwG eine (erste) mündliche Verhandlung in der Sache des BF durch, in der dieser im Beisein seines Vertreters zu seinem Schutzbegehren gehört wurde und weitere Bescheinigungsmittel sein Privatleben in Österreich betreffend vorlegte.
Im Gefolge der Verhandlung wurde dem Vertreter die Übersetzung in deutsche Sprache der zuvor von ihm vorgelegten Gerichtsunterlagen seine Person betreffend übermittelt und die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu eingeräumt.
44. Mit 17.10.2016 ersuchte das BVwG die Staatsanwaltschaft XXXX um Mitteilung, ob gegen den BF strafrechtliche Ermittlungen iZm einem Untersuchungsverfahren wegen §§ 282a Abs. 2 StGB einen dort genannten Verein betreffend geführt werden oder er im Zuge dieser Ermittlungen in Erscheinung getreten ist.
45. Mit 25.11.2016 langte beim BVwG ein Antwortschreiben der Staatsanwaltschaft ein.
46. Am 14.12.2016 langte beim BVwG eine Mitteilung des BFA dazu ein, auf welche Weise die Verifizierung eines anhängigen oder abgeschlossenen türkischen Strafverfahrens über die e-government - Website der türkischen Justizbehörden - auch für einen Asylwerber selbst - möglich ist.
47. Mit 28.12.2016 langte beim BVwG eine Stellungnahme des Vertreters des BF zu den vorgelegten Beweismitteln seine bisherigen Strafverfahren in der Türkei betreffend sowie eine weitere Urkundenvorlage ein.
48. Mit 03.02.2017 forderte das BVwG den BF zur Vorlage eines von ihm im Wege des e-government besorgten türkischen Strafregisterauszugs auf.
49. Nach einem Fristerstreckungsantrag vom 17.02.2017 langte die entsprechende Urkundenvorlage des BF am 28.02.207 beim BVwG ein.
50. Diese Urkundenvorlage wurde vom BVwG mit 01.03.2017 einer amtswegigen Übersetzung in die deutsche Sprache zugeführt, deren am 13.03.2017 sowie am 28.03.2017 beim BVwG eingelangtes Ergebnis am 30.06.2017 auch dem Vertreter des BF zur Kenntnis gebracht wurde.
51. Am 11.07.2017 langte im Gefolge eines Auskunftsersuchens des BVwG vom 26.06.2017 ein Antwortschreiben des Landesamtes für Verfassungsschutz (LVT) einschließlich einer Information des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BVT) zur Person des BF sowie zu einer von ihm genannten Zeugin beim BVwG ein.
52. Mit 10.07.2017, beim BVwG einlangend am 11.07.2017, legte der BF durch seinen Vertreter einen weiteren türkischen Strafregisterauszug einschließlich einer aktuellen Entscheidung ihn betreffend vor.
53. Am 12.07.2017 führte das BVwG eine (fortgesetzte) mündliche Verhandlung in der Sache des BF durch, in der der aktuelle Stand seiner strafgerichtlichen Verurteilungen in der Türkei anhand vorliegender Erkenntnisquellen sowie sein aktuelles Privat- und Familienleben in Österreich und in der Türkei erörtert wurden.
54. Mit Parteigehör vom 13.07.2017 wurden dem Vertreter des BF aktuelle länderkundliche Informationen zur Kenntnis gebracht und diesem Gelegenheit zur Stellungnahme dazu, insbesondere zur Frage der Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen, gegeben.
55. Mit 09.08.2017 langten eine solche Stellungnahme sowie weitere Beweismittel des BF beim BVwG ein.
56. Mit 21.02.2018 veranlasste das BVwG die amtswegige Übersetzung von zwei in der mündlichen Verhandlung vom 12.07.2017 vorgelegten aktuellen Auszügen aus der Datenbank des türkischen Kassationsgerichtshofs.
57. Mit 13.03.2018 langte beim BVwG eine Mitteilung des Vertreters des BF samt Urkundenvorlage dazu ein, dass einer früheren Mitangeklagten im Strafverfahren vor dem Schwurgericht in XXXX im Jahr 2014 in Griechenland der Flüchtlingsstatus zuerkannt und auf dieser Grundlage eine bis 2017 gültige Aufenthaltsgenehmigung erteilt wurde.
58. Das BVwG erstellte abschließend aktuelle Datenbankauszüge aus dem Grundversorgungsbetreuungsinformationssystem und dem österr. Strafregister den BF betreffend.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Identität des BF steht fest. Er ist türkischer Staatsangehöriger, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und Moslem der alewitischen Glaubensgemeinschaft. Er wurde in XXXX , Provinz XXXX (auch: XXXX ), geboren, wo er bei seinen Eltern und sechs Geschwistern aufwuchs. Er besuchte die Grund-, Haupt- sowie allgemein bildende höhere und eine berufsbildende Schule und übte nach dem Schulabschluss den Beruf des Elektrikers aus. Bis Juni 2009 absolvierte er in XXXX auch ein Fachhochschulstudium der Elektrotechnik. In der Folge war er bis ca. Sommer 2010 in Istanbul als Bauelektriker erwerbstätig.
Der BF reiste am 31.07.2010 über den Flughafen XXXX unter Verwendung seines türkischen Reisepasses, ausgestellt in XXXX am 01.07.2009 mit einer bis 30.06.2011 verlängerten Gültigkeit, und eines gefälschten Schengen-Visums, gültig von 27.07. bis 26.08.2010, illegal in das österr. Bundesgebiet ein und reiste in der Folge auf illegale Weise in die Schweiz weiter, von dort wurde er am 04.04.2011 wieder nach Österreich überstellt, wo er in der Folge einen Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither aufhält.
In der Türkei leben in XXXX noch seine Eltern und ein älterer Bruder, in XXXX bzw. in XXXX bei XXXX zwei weitere Brüder, in XXXX eine ältere Schwester. Diese Brüder sind jeweils erwerbstätig, die verheiratete Schwester ist Hausfrau. Ein weiterer Bruder sowie eine weitere Schwester leben in XXXX .
Der BF ist ledig, lebt seit 2015 als Untermieter bei einer Familie in XXXX und bezieht seit April 2011 bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber, darüber hinaus wird er von mit ihm persönlich bekannten Privatpersonen finanziell unterstützt. Er geht hierorts keiner legalen Erwerbstätigkeit nach, ist als Student an der Technischen Universität XXXX eingeschrieben und absolviert dort - nach Ablegung einer Ergänzungsprüfung über seine Kenntnisse der deutschen Sprache auf dem Referenzniveau B2/2 am 30.06.2015 - seit Herbst 2015 mit teilweisem Erfolg ein Studium des Faches "Software & Information Engineering". Ehrenamtlich betätigt er sich seit 2015 im Verein " XXXX ". Er ist in Österreich bis dato strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Der BF engagierte sich in seiner engeren Heimat in XXXX ab März 2003 in politischer Weise in einem Verein mit der Bezeichnung "Verein für Menschenrechte und Grundfreiheiten XXXX / XXXX " vorerst als einfaches Mitglied und von 2004 bis 2008 als Vorstandsmitglied bzw. Schriftführer und Schatzmeister und vertrat in dieser Funktion auch den Verein bei Veranstaltungen u.ä. nach außen, bis sich dieser im Jahre 2008 angesichts eines drohenden amtlichen Schließungsverfahrens per Vorstandsbeschluss selbst auflöste. Darüber hinaus engagierte er sich im Rahmen von politischen Aktivitäten wie der Teilnahme an Demonstrationen, der Organisation von Konzerten und Seminaren und der Publikation von Artikeln in einer sozialistischen Wochenzeitschrift und pflegte Zeit seines Aufenthalts in der ein Naheverhältnis zu verschiedenen politisch linksgerichteten Institutionen.
In Österreich nimmt er an Aktivitäten und Veranstaltungen eines alewitischen und eines exil-kurdischen Vereins, des sozialistischen Vereins ATIGF und des Vereins Anatolische Föderation, der vom österr. Verfassungsschutz als zentrale Anlaufstelle für Aktivisten und Sympathisanten der türkischen linksextremistischen Organisation DHKP-C angesehen wird, teil. Er ist mit Vorstandsmitgliedern dieses Vereins persönlich bekannt bzw. vor dem Hintergrund eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens gegen den Verein bzw. dessen Mitglieder im Zuge von behördlichen Observationen bei persönlichen Kontakten mit diesen Personen aufgefallen, er wird jedoch von der österr. Staatsanwaltschaft selbst nicht als Beschuldigter geführt.
1.3.1. Der BF wurde in der Türkei strafgerichtlich rechtskräftig zu folgenden unbedingten Haftstrafen verurteilt, wobei keine dieser Haftstrafen von ihm bisher verbüßt wurde:
* 3. Schwurgericht in XXXX , Urteil v. 16.12.2010, AZ. XXXX , rechtskräftig mit Urteil des türkischen Kassationsgerichtshofs v. 28.06.2013, zu 6 Jahren und 3 Monaten wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" (hier: der DHKP/C).
* Landstrafgericht in XXXX , Urteil v. 10.12.2013, AZ. XXXX , rechtskräftig mit Urteil des türkischen Kassationsgerichtshofs v. 16.03.2017, zu 2 Jahren und 6 Monaten wegen "Verletzung des Versammlungsgesetzes".
* Landstrafgericht in XXXX , Urteil v. 30.12.2008, AZ. XXXX , rechtskräftig mit Urteil des türkischen Kassationsgerichtshofs v. 25.12.2012, zu 6 Monaten und 20 Tagen wegen "Widerstands gegen die Staatsgewalt"/"Verhinderung der Dienstausübung der Sicherheitskräfte".
Mit Urteil des Landstrafgerichtes in XXXX v. 16.06.2006, AZ. XXXX , wurde der BF wegen der Vorwürfe des "Gutheißens einer Straftat" und der "Herabwürdigung der Republik" rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 500 türk. Lira verurteilt, die er als fünftägige Ersatzhaftstrafe mit 17.09.2006 verbüßte.
Mit Urteil des Landstrafgerichtes in XXXX v. 12.12.2006, AZ. XXXX , wurde der BF wegen des Vorwurfs der "öffentlichen Herabwürdigung der Republik etc." rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 3.000 türk. Lira verurteilt.
Mit Urteil des Landstrafgerichtes in XXXX v. 15.04.2008, AZ. XXXX , wurde der BF von den gegen ihn erhobenen Vorwürfe der "Verhinderung der Dienstausübung der Sicherheitskräfte, des Aufrufs zur Erhebung gegen die bestehende Ordnung, der Sachbeschädigung und der öffentlichen Herabwürdigung der Republik etc.", rechtskräftig freigesprochen.
Mit Urteil des 3. Schwurgerichts in XXXX v. 07.01.2009, AZ. XXXX , wurde der BF wegen des Vorwurfs der "Propaganda für eine terroristische Vereinigung" (hier: die DHKP/C), zu einer nicht rechtskräftigen Haftstrafe von 2 Jahren verurteilt, das Berufungsverfahren vor dem Kassationsgerichtshof endete am 12.10.2012 mit der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils sowie Zurückverweisung des Verfahrens an das Erstgericht.
Mit Urteil des 3. Schwurgerichts in XXXX v. 01.05.2008, AZ. XXXX , wurde er wegen des Vorwurfs der "Propaganda für eine terroristische Vereinigung" (hier: die DHKP/C) zu einer nicht rechtskräftigen Haftstrafe von 10 Monaten verurteilt, der Ausgang des diesbezüglichen Berufungsverfahrens vor dem Kassationsgerichtshof war nicht feststellbar.
Mit Urteil des 3. Schwurgerichts in XXXX v. 29.07.2010, AZ. XXXX , wurde er vom Vorwurf der "Propaganda für eine terroristische Vereinigung" freigesprochen, der Ausgang des diesbezüglichen Berufungsverfahrens vor dem Kassationsgerichtshof war nicht feststellbar.
Eine strafgerichtliche Verfolgung des BF wegen des Vorwurfs der "Verletzung des Versammlungsgesetzes" wurde mit Entscheidung des Landstrafgerichtes in XXXX zu AZ. 2011/242 - 2012/883 sowie wegen des Vorwurfs der "leichten Körperverletzung" mit Entscheidung des Landstrafgerichtes in XXXX zu AZ. 2010/132 - 2013/309 "aufgeschoben" (gemeint wohl: "bedingt nachgesehen").
1.3.2. Das 3. Schwurgericht in XXXX gelangte in seiner Entscheidungsbegründung im Urteil v. 16.12.2010, AZ. XXXX , zu den Feststellungen, dass der BF gemeinsam mit anderen Angeklagten zum Tatzeitpunkt im Jahr 2004 am genannten Ort in XXXX in einer von Mitgliedern der DHKP/C benutzten Aufmachung mit brennenden Autoreifen den Straßenverkehr lahmgelegt, Transparente mit einschlägigen Slogans montiert bzw. Slogans gerufen und letztlich versucht hat das Justizgebäude in XXXX in Brand zu setzen. An letzterer Tathandlung wurden die Täter von Sicherheitskräften gehindert und im Zuge der versuchten Flucht festgenommen, wobei sie sich der Festnahme zu widersetzen versuchten. Ausgehend von diesem Sachverhalt sah das Gericht den Straftatbestand der "Mitgliedschaft in der bewaffneten Terrororganisation DHKP/C" iSd § 314 Abs. 2 tStGB als erfüllt an und verurteilte ihn, vor dem Hintergrund eines gesetzlichen Strafrahmens von 5 bis 10 Jahren, zu einer unbedingten Haftstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten.
In seinen Erwägungen stützte sich das Gericht u.a. auch darauf, dass dem BF eine Verbindung zum "Verein für Menschenrechte und Grundfreiheiten" nachgewiesen wurde, der wiederum in mehreren türkischen Provinzen von der DHKP/C als eine Vorfeld- bzw. Rekrutierungsorganisation installiert worden sei.
Das Landstrafgericht in XXXX gelangte in seiner Entscheidungsbegründung im Urteil v. 10.12.2013, AZ. XXXX , zu den Feststellungen, dass der BF gemeinsam mit anderen Angeklagten im Rahmen einer gerichtlich angeordneten Durchsuchung der Räumlichkeiten des "Vereins für Menschenrechte und Grundfreiheiten in XXXX " einschlägige politische Slogans in eine versammelte Menschenmenge gerufen hat und diese damit aufzuhetzen versuchte, sah ausgehend davon u.a. den Straftatbestand der "Aufhetzung" iSd Art. 34 des Versammlungs- und Demonstrationsgesetzes Nr. 2911 als erfüllt an und verurteilte ihn angesichts dessen zu einer unbedingten Haftstrafe von 2,5 Jahren.
1.3.3. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF im Zusammenhang mit den oben genannten strafgerichtlichen Verurteilungen, insbesondere jener vor dem 3. Schwurgericht in XXXX , einer nicht den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens genügenden Verfahrensführung durch die türkischen Gerichte unterworfen war.
Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der BF von den zuständigen türkischen Gerichten einer unverhältnismäßigen Bestrafung wegen der ihm zur Last gelegten Straftaten unterworfen war.
1.3.4. Der BF verließ die Türkei im Jahre 2011 vor allem um einem möglichen zukünftigen Strafantritt im Hinblick auf seine zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftige, weil einem Berufungsverfahren vor dem Kassationsgerichtshof unterliegende Verurteilung durch das
3. Schwurgericht in XXXX mit Urteil v. 16.12.2010 zu 6 Jahren und 3 Monaten unbedingter Haft wegen Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung DHKP/C zu entgehen.
1.4. Der BF hatte bereits vor seiner Ausreise aus der Türkei, im Jahr 2005, das wehrdienstpflichtige Alter erreicht, jedoch zuletzt im Jahr 2009 für weitere zwei Jahre einen behördlichen Aufschub des Antritts des Wehrdienstes erhalten und hat bis zur Ausreise im Jahr 2011 seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet. Er unterliegt daher in der Türkei der Verpflichtung zur Ableistung des Grundwehrdienstes.
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Einberufung zur Ableistung des Grundwehrdienstes in der Türkei aus in seiner Person gelegenen Gründen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Ungleichbehandlung gegenüber anderen Rekruten, die mit der Gefahr gravierender Eingriffe in seine Rechtssphäre, insbesondere in seine physische Integrität, einhergeht, ausgesetzt wäre.
1.5. Der gg. Entscheidung werden folgende länderkundliche Informationen zur allgemeinen Lage in der Türkei zugrunde gelegt:
1.5.1. Die Türkei ist eine parlamentarische Republik, deren rechtliche Grundlage auf der Verfassung von 1982 basiert. In dieser durch das Militär initiierten und vom Volk angenommenen Verfassung wird das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung verankert. Die Türkei ist laut Verfassung eine demokratische, laizistische, soziale und rechtsstaatliche Republik, welche die Menschenrechte achtet und sich dem Nationalismus Atatürks verbunden fühlt. Oberhaupt des Staates ist der Staatspräsident. Recep Tayyip Erdogan, der zuvor zwölf Jahre lang Premierminister war, gewann am 10.8.2014 die erstmalige direkte Präsidentschaftswahl, bei der auch zum ersten Mal im Ausland lebende türkische Staatsbürger an nationalen Wahlen teilnahmen. Neuer Ministerpräsident wurde Ende Mai Binali Yildirim, der sich durch eine besondere, selbstbekundete Loyalität zu Staatspräsident Erdogan auszeichnet.
Der Ministerpräsident und die auf seinen Vorschlag hin vom Staatspräsidenten ernannten Minister bzw. Staatsminister bilden den Ministerrat, der die Regierungsgeschäfte führt. Überdies ernennt der Staatspräsident 14 von 17 Mitgliedern des Verfassungsgerichtes für zwölf Jahre. In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt.
Das türkische Parlament, die Große Türkische Nationalversammlung, wird für vier Jahre gewählt. Gewählt wird nach dem Verhältniswahlrecht in 85 Wahlkreisen. Im Unterschied zu unabhängigen KandidatInnen gilt für politische Parteien landesweit eine Zehn-Prozent-Hürde.
2015 fanden zweimal Parlamentswahlen statt. Die Wahlen vom 7.6.2015 veränderten die bisherigen Machtverhältnisse in der Legislative. Die seit 2002 alleinregierende AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) verlor zehn Prozent der Wählerstimmen und ihre bisherige absolute Mehrheit. Dies war auch auf den Einzug der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) zurückzuführen, die deutlich die nötige Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament schaffte. Der Wahlkampf war überschattet von zahlreichen Attacken auf Parteilokale und physischen Übergriffen auch mit Todesopfern. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) kritisierte überdies den Druck auf regierungskritische Medien sowie die unausgewogene Berichterstattung, insbesondere des staatlichen Fernsehens zugunsten der regierenden AKP. Überdies hat Staatspräsident Erdogan im Wahlkampf eine aktive Rolle zugunsten seiner eigenen Partei eingenommen, obwohl die Verfassung den Staatspräsidenten zur Neutralität verpflichtet.
Die Parlamentswahlen vom 1.11.2015, die als Folge der gescheiterten Regierungsbildung abgehalten wurden, endeten mit einem unerwartet deutlichen Wahlsieg der seit 2002 alleinregierenden AKP. Die AKP gewann fast die Hälfte der abgegebenen Stimmen, was einen Zuwachs von rund neun Prozent im Vergleich zu den Juni-Wahlen bedeutete. Da die pro-kurdische HDP, zwar unter Verlusten, die nötige Zehn-Prozenthürde für den Einzug ins Parlament schaffte, verfehlte die AKP die Verfassungsmehrheit, um das von ihrem Vorsitzenden und gegenwärtigen Staatspräsident, Recep Tayyip Erdogan, angestrebte Präsidialsystem zu errichten.
Im 550-köpfigen Parlament sind vier Parteien vertreten: die islamisch-konservative AKP mit 49,5 Prozent der Wählerstimmen und 317 Mandaten (Juni 2015: 258), die sozialdemokratische CHP (Republikanische Volkspartei) mit 25,3 Prozent und 134 Sitzen (bislang 132), die rechts-nationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) mit 11,9 Prozent und 40 Sitzen (bislang 80) sowie die pro-kurdische HDP mit 10,8 Prozent und 59 (bislang 80) Mandaten.
Der polarisierte Wahlkampf war überschattet von einer Gewalteskalation, insbesondere durch das Attentat vom 10.10.2015 in Ankara, bei welchem über 100 Menschen starben. Nebst Attacken vor allem auf Mitglieder und Parteilokale der pro-kurdischen HDP wurden mehrere HDP-Mitglieder festgenommen. Überdies wurden Mitglieder aller drei parlamentarischen Oppositionsparteien wegen Verunglimpfung von Amtsvertretern und Beleidigung des Staatspräsidenten angezeigt. Insbesondere im Südosten des Landes war infolge der verschlechterten Sicherheitslage und der darauf folgenden Errichtung von speziellen Sicherheitszonen und der Verhängung von Ausgangssperren ein freier Wahlkampf nicht möglich. Die zunehmende Anwendung von Bestimmungen des Anti-Terrorismus- und des Strafgesetzbuches während des Wahlkampfes führte dazu, dass gegen eine große Anzahl von Journalisten, Benutzern Sozialer- und Informationsmedien Untersuchungen wegen Verleumdung oder Terrorismusverdacht eingeleitet wurden. Zudem gab es Fälle von Gewalt gegen Medienhäuser und Journalisten.
Laut dem Bericht der Europäischen Kommission vom November 2016 sind Fortschritte in der Anpassung des Gesetzesrahmens an die Europäischen Standards ausgeblieben. Weiterhin bedarf es einer umfassenden Reform des parlamentarischen Regelwerkes, um die Inklusion die Transparenz und die Qualität der Gesetzgebung sowie eine effektive Aufsicht der Exekutive zu verbessern. Die parlamentarische Aufsicht über die Exekutive blieb schwach. Wann immer das Parlament seine Instrumente der Befragung oder der Untersuchungsausschüsse anwandte, blieben weiterführende Maßnahmen der Regierung unzureichend. Die Fähigkeit des Parlaments seine Schlüsselfunktionen, nämlich die Gesetzgebung und Aufsicht der Exekutive, auszuüben, blieb bis zum 15.7.2016 von politischer Konfrontation überschattet. Die Gesetzgebung wurde oft ohne ausreichende Debatte im Parlament und ohne Konsultation der Beteiligten vorbereitet und verabschiedet. Nach der Erklärung des Ausnahmezustandes und seiner Ausweitung war die Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren beschränkt. Es gab weder Fortschritte bei der Reform der parlamentarischen Regeln und Verfahren noch hinsichtlich der Wahl- und Parteiengesetzgebung nach Europäischen Standards. Der im Dezember 2013 zum Stillstand gekommene Verfassungsreformprozess wurde im Februar 2016 wiederbelebt. Allerdings brachen die Diskussionen im Vermittlungsausschuss des Parlaments bald zusammen, da es zur Blockade wegen des von der regierenden AKP vorgeschlagenen Präsidialsystems kam.
In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle. Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben. Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt. Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt. Das Innenministerium suspendierte rund
8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure. Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen.
Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung. Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt. Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden.
Die Erklärung des Ausnahmezustandes vom 20. Juli führte zu erheblichen Gesetzesänderungen, die durch Dekrete ohne vorherige Konsultation des Parlaments angenommen wurden, obwohl eine begrenzte Konsultation der Oppositionsparteien vorgenommen wurde. Im Einklang mit Artikel 120 der Verfassung werden die Erlasse im Rahmen des Ausnahmezustands innerhalb von 30 Tagen dem Parlament zur Genehmigung unterbreitet. Die Einrichtung einer parlamentarischen Kommission, die Vertreter aller vier Parteien einschließt und Stellungnahmen zu den Dekreten erhält, die während des Ausnahmezustands erlassen werden sollen, wird geprüft.
Gegen die Dekrete kann nicht vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden. Während des Ausnahmezustands können nach Artikel 15 Grundrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Auch dürfen Maßnahmen ergriffen werden, die von den Garantien in der Verfassung abweichen. Voraussetzung ist allerdings, dass Verpflichtungen nach internationalem Recht nicht verletzt werden. Unverletzlich bleibt das Recht auf Leben. Niemand darf zudem gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit, sein Gewissen, seine Gedanken oder seine Meinung zu offenbaren, oder deswegen bestraft werden. Strafen dürfen nicht rückwirkend verhängt werden. Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung.
Der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand ist Anfang Jänner 2017 bis zum 19. April 2017 verlängert worden. Das Parlament in Ankara stimmte dem Antrag der Regierung auf Verlängerung um weitere drei Monate zu. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus begründete dies unter anderem mit anhaltenden terroristischen Angriffen auf die Türkei.
Seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli wurden in der Türkei bereits mehr als 42.000 Menschen festgenommen und etwa 120.000 weitere entlassen oder vom Dienst suspendiert. Rund 600 Unternehmen von angeblich Gülen-nahen Geschäftsleuten wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Das enteignete Firmenvermögen beläuft sich auf geschätzte zehn Mrd. US-Dollar. Laut "TurkeyPurge.com", einer Internetplattform, die aktuelle Informationen zur staatlichen Verfolgung von vermeintlichen Unterstützern des gescheiterten Putschen oder militanter Organisationen sammelt, waren mit Stand 5.2.2017 rund 124.000 Personen entlassen worden, davon fast 7.000 Akademiker sowie über
3.800 Richter und Staatsanwälte. Fast 91.000 Personen waren festgenommen worden, wovon über 44.500 inhaftiert wurden.
Am Vorabend des Jahrestages des gescheiterten Putschversuches vom 15.7.2016 verlautete das türkische Justizministerium, dass bis dato
50.510 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert wurden, darunter 7.267 Militärangehörige, 8.815 Angestellte der Polizei, rund 100 Gouverneure und deren Stellvertreter und über 2.000 MitarbeiterInnen der Justiz. 169.013 Personen hätten laut Ministerium noch rechtliche Verfahren zu erwarten und nach rund
8.100 wird wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung noch gefahndet. Über 43.000 Personen wurden nach vorläufiger Festnahme wieder entlassen. Mit der Notstandsverordnung vom 14.7.2017 wurden zusätzlich 7.395 öffentlich Bedienstete entlassen. Die regierungskritische Internetplattform "Turkey Purge" zählte mit Stand 19.7.2017 rund 145.700 Entlassungen, darunter über 4.400 Richter und Staatsanwälte, sowie 56.100 Inhaftierungen.
In der Türkei nahm am 17.7.2017 eine von der Regierung eingerichtete Kommission ihre Arbeit auf, die Beschwerden gegen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst im Zusammenhang mit dem Putschversuch prüfen soll. Betroffene hätten nun zwei Monate Zeit, ihre Beschwerden einzureichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat sich bislang nicht mit den Entlassungen beschäftigt, sondern Kläger aus der Türkei aufgefordert, sich zunächst an die neue Kommission zu wenden.
Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (the Commission on Examination of the State of Emergency Procedures), die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereine und Firmen entgegenzunehmen. Innerhalb von drei Wochen [Stand 7.8.2017] wurden bislang rund 38.500 Beschwerden bei der Kommission eingereicht. Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden. Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden.
Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet.
Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. Die Gesetzesänderung, welche die Aufhebung der Immunität einer großen Zahl von Parlamentariern bewirkte sowie die darauf folgende Festnahme und Inhaftierung mehrerer Abgeordneter der [pro-kurdischen] HDP Anfang November 2016, die beiden Ko-Vorsitzenden eingeschlossen, werden mit großer Sorge gesehen.
Die von Staatschef Erdogan angestrebte Verfassungsreform für ein Präsidialsystem in der Türkei ist vom Parlament am 21.1.2017 verabschiedet worden. Für das von der regierenden AKP vorgelegte Reformpaket aus 18 Artikeln stimmten 339 Abgeordneten, 142 waren dagegen. Die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit von mindestens 330 Stimmen wurde auch mit Hilfe von Abgeordneten aus der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP erzielt. Die Umsetzung der Verfassungsreform soll schrittweise erfolgen und bis Ende 2019 vollständig abgeschlossen sein. Das Präsidialsystem würde Staatspräsident Erdogan deutlich mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen. Der Präsident würde zugleich als Staats- und Regierungschef amtieren und könnte weitgehend per Dekret regieren. Sein Einfluss auf die Justiz würde weiter zunehmen. Die besagten Dekrete treten mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament (wie im derzeit geltenden Ausnahmezustand) ist nicht vorgesehen. Die Dekrete werden nur dann unwirksam, falls das Parlament zum Thema des jeweiligen Erlasses ein Gesetz verabschiedet. Per Dekret kann der Präsident auch Ministerien errichten, abschaffen oder umorganisieren. Obwohl Präsidentschaftsdekrete einer Überprüfung durch das Verfassungsgericht unterliegen, dürfte das Gericht nicht mehr unabhängig und unparteiisch genug sein. Nach der Verfassungsänderung hätte das Verfassungsgericht 15 Mitglieder, die meisten direkt oder indirekt vom Präsidenten ernannt. Darüber hinaus wird der Präsident auch eine wichtige Rolle bei der Formierung des Obersten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) spielen.
Am 16.4.2017 stimmten nach vorläufigen Ergebnissen bei einer Wahlbeteiligung von 84% 51,3% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechtsnationalistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsieht.
Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte in einer Stellungnahme am 17.4.2017 sowohl die Kampagne als auch die Mängel des Referendums. Das Referendum sei unter ungleichen Wettbewerbsbedingungen von statten gegangen. Der Staat habe nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hätten negative Auswirkungen gehabt. Cezar Florin Preda, der Leiter der PACE-Delegation sagte, dass das Referendum nicht die Standards des Europarates erfüllte und die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht adäquat für die Durchführung eines genuinen demokratischen Prozesses waren. Laut OSZE wurden im Vorfeld des Referendums Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützer des Putschversuchens vom Juli 2016 gleich. Noch während des Referendums entschied die Oberste Wahlbehörde überraschend, auch von ihr nicht gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge gelten zu lassen. Die Beobachtungsmission der OSZE und des Europarates bezeichneten dies als Verstoß gegen das Wahlgesetz, wodurch Schutzvorkehrungen gegen Wahlbetrug beseitigt wurden.
Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, wonach 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet wurden. Die Kommission wies die Beschwerde zurück. Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen. Der Vize-Vorsitzende der CHP, Bülent Tezcan bezeichnete das Referendum als "organisierten Diebstahl" und kündigte an, den Fall vor das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen, so nötig. Die EU-Kommission hat die türkische Regierung aufgefordert, die mutmaßlichen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen. Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen, denn laut Michael Georg Link, Direktor des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte stand fest, dass die Entscheidung der Wahlkommission, falsch oder gar nicht gestempelte Wahlzettel als gültig zu werten, ein Verstoß gegen türkisches Recht darstellte. Daraufhin kündigte die Oberste Wahlkommission eine Prüfung der Vorwürfe an.
1.5.2. Als Reaktion auf den gescheiterten Putsch vom 15.7.2016 hat der türkische Präsident am 20.7.2016 den Notstand ausgerufen. Dieser berechtigt die Regierung, verschiedene Einschränkungen der Grundrechte wie der Versammlungs- oder der Pressefreiheit zu verfügen. Auf der Basis des Ausnahmezustandes können u. a. Ausgangssperren kurzfristig verhängt, Durchsuchungen vorgenommen und allgemeine Personenkontrollen jederzeit durchgeführt werden. Personen, gegen die türkische Behörden strafrechtlich vorgehen (etwa im Nachgang des Putschversuchs oder bei Verdacht auf Verbindungen zur sogenannten Gülen-Bewegung), kann die Ausreise untersagt werden.
Am 17.7.2017 wurde der Ausnahmezustand ein viertes Mal verlängert. Eine Mehrheit im Parlament in Ankara stimmte dem Beschluss der Regierung über eine Verlängerung um weitere drei Monate zu. Damit gilt der nach dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres verhängte Ausnahmezustand mindestens bis zum 19.10.2017. Dies ermöglicht Staatspräsident Erdogan weiterhin per Dekret zu regieren. Die beiden größten Oppositionsparteien - die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP - forderten sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes, da dieser ansonsten drohe zum Dauerzustand zu werden.
Der stellvertretende Premierminister und Regierungssprecher Bekir Bozdag verkündete am 8.1.2018, dass der Ausnahmezustand verlängert werde. Die formale Zustimmung des Parlaments, in welchem die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit innehält, vorausgesetzt, wäre dies die sechste Verlängerung seit dem 21.7.2016.
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage.
Mehr als 80 Prozent der Provinzen im Südosten des Landes waren von Gewalt betroffen. Sieben von neun Provinzen Südostanatoliens sowie zwölf von 14 Provinzen Ostanatoliens waren von Attentaten der PKK, der TAK und des sog. IS, Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen.
Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates waren 1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren von Sperrstunden betroffen und mindestens 355.000 Personen wurden vertrieben. Zahlreichen glaubwürdigen Berichten zufolge, die durch dokumentarische Beweise und Videoaufnahmen gesichert wurden, haben die türkischen Sicherheitskräfte in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt, darunter auch Artillerie und Mörser sowie Panzer und schwere Maschinengewehre. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört. Der Gouverneur von XXXX schätzte, dass 50% der Häuser von sechs Stadtvierteln in der Altstadt von Sur nun völlig unbewohnbar wurden, und dass weitere 25% beschädigt wurden.
Bereits im März 2016 wurde von schweren Verwüstungen der Stadt Cizre berichtet. Vom Cudi-Viertel auf der linken Seite des Tigris waren nur noch die Ruinen eingestürzter Häuser übrig; ein Hinweis darauf, dass die Panzer mit ihren Granaten systematisch auf die Stützpfeiler der Wohnhäuser zielten. 80 Prozent der Wohngebiete in Cizre sollen zerstört worden sein. In Silopi wurden gemäß Regierungsberichten vom März 2016 6.694 Häuser und Wohnungen im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und PKK-nahen Guerillakämpfern beschädigt, wobei 27 komplett zerstört wurden. Lokale Quellen setzten die Zahl der betroffenen Wohnstätten wesentlich höher an. 241 Wohnobjekte, die im Regierungsbericht nicht aufscheinen, seien völlig zerstört worden.
Laut der Sicherheitsagentur "Verisk Maplecroft" wurden 2016 bei 269 Terroranschlägen 685 Menschen getötet und mehr als 2.000 verwundet. Das "Bipartisan Policy Center" zählte bis Dezember 2016 eine Verdoppelung der Opferzahlen im Vergleich zu 2015. Beinahe 300 Personen wurden 2016 bei den größeren Terroranschlägen der Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) und des sog. Islamischen Staates getötet. 2015 waren es weniger als 150. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag. Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus. Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod. In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat. Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer.
Die PKK hat am 12.3.2016 eine Dachorganisation linker militanter Gruppen gegründet, um ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten und ihre Unterstützungsbasis jenseits der kurdischen Gemeinschaft auszudehnen. Die neue Gruppe, bekannt als die "Revolutionäre Bewegung der Völker" (HBDH), wird vom Chef der radikalsten linken Fraktion innerhalb der PKK, Duran Kalkan, geleitet. Erklärte Absicht der Gruppe, die den türkischen Staat und im Speziellen die herrschende AKP ablehnt, ist es, die politische Agenda voranzutreiben, wozu auch Terroranschläge u.a. gegen Ausländer gehören. Die Gruppe unterstrich zudem das Scheitern der kurdischen Parteien in der Türkei, auch der legalen HDP. Laut Berichten beabsichtigt die HBDH Propagandaaktionen durchzuführen, um auch die Unterstützung von türkischen Aleviten zu erhalten, und um "Selbstverteidigungsbüros" in den Vierteln der südlichen und südöstlichen Städte zu errichten. Die HBDH will auch Druck auf Dorfvorsteher und Beamte ausüben, die in Schulen und Gesundheitsdiensten arbeiten, damit diese entweder kündigen oder die Ortschaften verlassen. Neun verbotene Gruppen trafen sich auf Einladung der PKK am 23.2.2016 zur ihrer ersten Sitzung im syrischen Latakia, darunter die Türkische kommunistische Partei/ Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) [siehe 3.4.], die Revolutionäre Kommunistische Partei (DKP), die Türkische Kommunistische Arbeiterpartei/ Leninistin (TKEP/L), die Kommunistische Partei der Vereinten Nationen (MKP), die türkische Revolutionäre Kommunistenvereinigung (TIKB), das Revolutionshauptquartier und die Türkische Befreiungspartei-Front (THKP-C). Die HBDH sieht in der Türkei eine Ein-Parteien-Diktatur bzw. ein faschistisches Regime entstehen, dass u.a. auf der Feindschaft gegen die Kurden gründet.
1.5.3. Die sogen. Gülen- oder Hizmet-Bewegung ist eine gut organisierte Gemeinschaft - keine politische Partei - benannt nach dem in Pennsylvania, in den Vereinigten Staaten lebenden islamischen Geistlichen Fethullah Gülen. Die Bewegung definiert sich selbst folgendermaßen: "Die Gülen-Bewegung (Hizmet auf Türkisch) ist eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist". Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Gülen fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen rund um den Globus. In der Türkei soll es zahllose, möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf.
Wichtige Stationen dieser Entwicklung waren die Rede Erdogans in Davos 2009 und die Ereignisse rund um die Stürmung der türkischen Gaza-Flottille Mavi Marmara durch das israelische Militär 2010. Mit der Kritik Gülens am Versuch, mit der Mavi Marmara die israelische Blockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen, brach der Streit zwischen Gülens Bewegung und Erdogans Partei dann offen aus und eskalierte im Dezember 2013, als Staatsanwälte, die Gülen nahgestanden sein sollen, gegen vier Minister der Regierung Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. Gleichzeitig tauchte eine Vielzahl von Mitschnitten abgehörter Telefonate im Internet auf, die den Verdacht nahelegten, dass auch der damalige Ministerpräsident Erdogan selbst in schwere Korruptionsfälle verstrickt war. Der Streit zwischen der Hizmet-Bewegung und der Partei entwickelte sich zum politischen Krieg: Die Regierung versetzte die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, die deren Anweisungen ausführenden Polizisten und die zuständigen Richter.
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor. So wurde im ersten Halbjahr 2015 auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Im Zuge der Auseinandersetzung zwischen den ehemaligen politischen Partnern AKP und Gülen-Bewegung zielte die Regierung auf die Eliminierung paralleler Strukturen der Gülen-Anhänger in der staatlichen Verwaltung ab. Der Schwerpunkt lag zu Beginn auf dem Polizei- und Justizbereich mit massenhaften Versetzungen und umstrittenen Gesetzesvorhaben. Nach einer Welle von Versetzungen sollten Gülen-Anhänger in der Justiz, die bis 2013 von der AKP-Regierung zu Tausenden als Gegengewicht zu der früher von den "Kemalisten" geprägten Justiz eingestellt worden waren, nunmehr gänzlich aus ihren Ämtern entfernt werden.
Am 27.5.2016 verkündigte Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird. In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz:
FETÖ, (Fethullah Terror Organisation / Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die Behörden, die von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt wurden, machten angesi