Index
E1P;Norm
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision des H N in W, vertreten durch Dr. Helmut Liebel, Rechtsanwalt in 1100 Wien, Wienerbergstraße 11, Turm B/19. OG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. September 2017, I416 2169852- 1/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt A) I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Nigerias, stellte am 4. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Er gab zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, nach dem frühen Tod seiner Eltern habe er als Jugendlicher bei einem Mann Aufnahme und Versorgung gefunden. Dieser Mann habe mit dem Revisionswerber eine homosexuelle Beziehung begonnen, die vom Revisionswerber zwar nicht gewollt gewesen sei, der er sich aber auch nicht widersetzt habe. Nach mehreren Jahren sei dieser Mann wegen seiner Homosexualität ermordet worden. Der Revisionswerber habe flüchten müssen. Bei einer Rückkehr nach Nigeria drohe ihm aufgrund seines früheren Lebens in einer homosexuellen Lebensgemeinschaft Verfolgung.
2 Mit Bescheid vom 4. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel "aus berücksichtigungswürdigen Gründen" gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III.). Unter einem sprach die Behörde aus, dass einer Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 18 Abs. 1 Z 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt werde (Spruchpunkt IV.), gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt V.) und der Revisionswerber gemäß § 13 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet nach dem 19. August 2016 verloren habe (Spruchpunkt VI.).
3 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der er die Durchführung einer Verhandlung beantragte und unter anderem vorbrachte, soweit das BFA sein Fluchtvorbringen nicht als glaubhaft erachte, habe es unterlassen, den realen Hintergrund seiner Fluchtgeschichte unter Beachtung der aktuellen Lage in Nigeria zu beurteilen. Die vom BFA verwendeten Länderberichte seien veraltet gewesen. Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung habe das BFA dem Umstand, dass der Revisionswerber mit einer in Österreich rechtmäßig aufhältigen polnischen Staatsangehörigen eine im Jahr 2017 geborene Tochter habe, zu wenig Beachtung geschenkt. Zu Unrecht sei das BFA davon ausgegangen, dass er mit seiner Tochter und deren Mutter, die seine Lebensgefährtin sei, kein Familienleben führe.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I., II., III., IV. und V. des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass der erste Spruchteil des Spruchpunktes III. des angefochtenen Bescheids zu lauten habe: "Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG 2005 wird nicht erteilt" (Spruchpunkt A I.). Hinsichtlich des Spruchpunktes VI. des angefochtenen Bescheides gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde Folge und behob diesen Spruchpunkt ersatzlos (Spruchpunkt A II.). Eine Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).
5 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht unter anderem aus, das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers sei, wie bereits vom BFA angenommen, nicht glaubhaft. Die - im angefochtenen Erkenntnis auszugsweise wiedergegebenen - aktuellen Länderberichte zu Nigeria nach dem aktuellen "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation" stimmten inhaltlich mit den vom BFA verwendeten älteren Länderinformationen überein. Es sei zu keiner relevanten Änderung der Lage in Nigeria gekommen. Der Revisionswerber lebe - wie sich aus einer Abfrage im zentralen Melderegister vom 6. September 2017 ergebe - mit seiner angeblichen Lebensgefährtin in einem gemeinsamen Haushalt. Es könne aber mangels vorliegender Unterlagen nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber wirklich der Vater der im Jahr 2017 geborenen Tochter seiner angeblichen Lebensgefährtin sei. Aus im Akt des BFA befindlichen Unterlagen sei zu ersehen, dass der Revisionswerber sich für einen Kurs "Deutsch Intergrationskurs A1" angemeldet habe. Es könne aber nicht festgestellt werden, dass er auch eine "Deutschprüfung" abgelegt habe.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die erkennbar gegen Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses gerichtete Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und berechtigt, weil das Bundesverwaltungsgericht, wie der Revisionswerber zu Recht aufzeigt, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, wann von der Durchführung einer Verhandlung Abstand genommen werden kann, abgewichen ist.
8 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018; sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0412; 16.11.2016, Ra 2016/18/0233) sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung "geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich:
9 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
10 Diese Voraussetzungen lagen im vorliegenden Fall nicht vor. Zunächst erachtete es das Bundesverwaltungsgericht für erforderlich, ergänzende Feststellungen zur Situation in Nigeria durch Aktualisierung des einschlägigen Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu treffen. In Folge der Notwendigkeit, den Sachverhalt hinsichtlich der Länderberichte zu aktualisieren, hat das Bundesverwaltungsgericht eine zusätzliche Beweiswürdigung vorgenommen und somit die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt. Schon allein deshalb hätte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchführen müssen (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0275, mwN).
11 Im Übrigen nahm das Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen in der Beschwerde auch zum Anlass, aufgrund einer eigenen Beweiswürdigung ergänzende Feststellungen zu den Wohnbzw. Familienverhältnissen des Revisionswerbers und seinen Integrationsbemühungen zu treffen. Sohin wurden sowohl die Feststellungen einer Aktualisierung zugeführt als auch die Beweiswürdigung gegenüber den Ausführungen der Behörde nicht bloß unwesentlich ergänzt.
12 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. nochmals VwGH 20.9.2017, Ra 2017/19/0207, mwN).
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das übrige Vorbringen in der Revision einzugehen war.
14 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 1. März 2018
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017190410.L00.1Im RIS seit
23.03.2018Zuletzt aktualisiert am
30.03.2018