TE Bvwg Erkenntnis 2018/3/8 W182 2167766-1

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Veröffentlicht am 08.03.2018
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Entscheidungsdatum

08.03.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W182 2167766-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dieter PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Jemen, vertreten durch XXXX, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.07.2017, Zl. 1076294303-150781706, nach mündlicher Verhandlung zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG

2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG), nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger des Jemen, gehört laut eigenen Angaben der Volksgruppe der Araber an, ist Sunnit, war im Herkunftsstaat in Sanaa wohnhaft, reiste am 01.07.2015 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 02.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Anlässlich seiner Erstbefragung am 03.07.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte er als Fluchtgrund vor, als Mitglied einer sunnitischen Familie in Sanaa in einer mehrheitlich von Houthi-Anhängern bewohnten Gegend gewohnt zu haben. Er sei mit dem Tod bedroht worden und deswegen geflüchtet. Er sei im Jänner 2015 gemeinsam mit seinem Cousin aus dem Jemen ausgereist, wo noch seine Eltern und fünf Geschwister leben würden.

Anlässlich seiner Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) am 28.06.2017 brachte der BF vor, dass sein Vater seit zwei Monaten vermisst sei. Zu seinem Fluchtgrund befragt brachte er vor, dass er in Sanaa zu Hause gewesen und eine Gruppe der Houthi dorthin gekommen sei. Sie hätten von ihm verlangt, mit ihnen zu kämpfen. Sie hätten gesagt, dass er entweder mit ihnen kämpfe oder gegen sie sei. Nach ca. 10 Tagen seien sie wieder gekommen und hätten verlangt, dass er mit ihnen zu der von ihnen gegründeten Polizei gehe, weil er es das erste Mal abgelehnt habe. Als sie an die Haustüre geklopft hätten, sei der BF aus dem hinteren Fenster hinausgesprungen und habe sich bei einem Freund versteckt. Danach habe sein Vater einen Reisepass und ein Visum besorgt, damit der BF in die Türkei habe reisen können. Er sei nach Ägypten und von dort in die Türkei geflogen. Wenn sie ihn erwischen würden, würden sie ihn töten oder er müsse mit ihnen kämpfen. Weiters gab er an, bereits im Februar 2014 ausgereist zu sein. Auf Nachfrage gab er an, dass das erste Mal vier bewaffnete Männer gekommen seien und gesagt hätten, dass er reif genug wäre, um mit ihnen zu kämpfen. Deswegen habe er abgelehnt. Die Männer hätten gemeint, dass die Ablehnung der Grund sein werde, dass er eines Tages gegen sie arbeiten werde. In diesen Tagen sei mit sehr vielen jungen Männern dasselbe gemacht worden, sie hätten eine Frist bekommen, wenn sie abgelehnt hätten, seien sie festgenommen worden und keiner wisse, wo sie seien. Der BF habe auch Freunde gehabt, welche abgelehnt hätten und festgenommen worden seien. Sie wüssten bis jetzt nicht, wo diese seien. Der BF selbst sei beim zweiten Vorfall durchs hintere Fenster geflüchtet. Er habe sie gehört, aber nicht gesehen. Er habe gehört, dass sie Funkgeräte gehabt hätten. Sein jüngster Bruder sei vor ca. einem Monat bedroht worden, sie hätten ihn auch mitnehmen wollen. Jetzt habe er sich zu Hause versteckt. Wenn diese Männer nach Hause kämen, müsste er auch weglaufen. Befragt, ob jemand körperlich angegriffen worden sei, gab er an, dass seine Mutter zur Seite gestoßen worden sei, als sie eingetreten seien, sonst sei nichts gewesen. Er habe an den grünen Bändern mit Aufschrift, welche über ihre Waffen gewickelt gewesen seien, erkannt, dass es sich bei den Männern um Houthi gehandelt habe. Es gebe dort keine Polizei mehr. Der Präsident sei nach Saudi-Arabien geflohen. Es gebe keine Botschaft und keine Polizeiposten. Diese seien von den Houthi übernommen worden. Außer seinem kleinen Bruder sei niemand von seiner Familie von den Houthi bedroht worden. Der BF sei bedroht worden, als er die Aufforderung zum Kampf abgelehnt habe. Zwei Onkel würden seit etwa fünf Jahren in Saudi-Arabien leben; für diese würde jemand haften. Der BF habe jedoch niemanden, der für ihn haften würde.

1.2. Mit dem nunmehr angefochtenen oben angeführten Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF gem. § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 100/2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Dem BF wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 leg.cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 14.07.2018 erteilt (Spruchpunkt III.). Darin wurde ausgeführt, dass eine dem BF persönlich drohende individuelle Verfolgung durch die Houthi-Rebellen nicht habe festgestellt werden können; ferner, dass ihm im Fall einer Rückkehr keine Verfolgung durch die Regierung drohe oder er auf Grund seines Religionsbekenntnisses keine erheblichen Probleme haben werde, jedoch sei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass im Fall einer Rückkehr die Sicherheit seines Lebens und seine Unversehrtheit nicht gewährleistet seien. Beweiswürdigend wurde dargelegt, dass der BF entgegen seinen Angaben bei der Erstbefragung beim Bundesamt nicht vorgebracht habe, mit dem Tod bedroht worden zu sein und der Eindruck bestehe, dass der BF keiner persönlichen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Die Behörde erachte es als unwahrscheinlich, dass die Houthi-Bewegung sich über einen Monat lang nicht wieder an seinen Bruder gewendet hätte, sondern gehe davon aus, dass sie diesen vielmehr sofort rekrutiert hätte, um sein allfälliges Untertauchen zu vermeiden. Ferner sei der BF unglaubwürdig, weil er die Fragen nach Familienangehörigen zunächst verneint habe, wohingegen weitere Verwandte im Zuge der Einvernahme hervorgekommen seien. Sein Fluchtvorbringen erachtete die Behörde als nicht glaubwürdig, ging jedoch von einer schlechten Sicherheitslage und Gesamtsituation im Jemen aus. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl wurden als nicht gegeben erachtet, hingegen jene für die Gewährung von subsidiärem Schutz. Ausschlussgründe seien nicht vorgelegen.

1.3. Gegen Spruchpunkt I. erhob der BF durch seine Rechtsvertretung innerhalb offener Frist Beschwerde. Darin wurde eine mündliche Verhandlung beantragt und beanstandet, dass auf Grund des unzureichenden Ermittlungsverfahrens beim Bundesamt eine ganzheitliche Würdigung des Vorbringens des BF nicht erfolgt sei. Sodann wurde im Wesentlichen das Vorbringen des BF zu seinen Fluchtgründen wiederholt, wonach er in seinem Herkunftsland von den Houthi zwangsrekrutiert werden sollte und zwischenzeitig auch sein jüngerer Bruder zwecks Rekrutierung von den Houthi aufgesucht worden sei. Die Behörde übersehe (in ihrer Beweiswürdigung) das konkrete Vorbringen des BF und andererseits ergebe sich aus der Gesamtbeurteilung des Vorbringens des BF klar nachvollziehbar die Bedrohung des BF mit dem Tode. Außerdem habe die Behörde keine ausreichenden, auf die Situation des BF bezogenen Länderfeststellungen getroffen und würden Ermittlungen der Behörde zur Rekrutierungspraxis der Houthi und zu den Folgen einer Weigerung, sich den Rebellen anzuschließen, fehlen. Aus den Länderberichten sei ersichtlich, dass die Gewalt zwischen den Houthi und den Unterstützern des Präsidenten im Frühling 2015 eskaliert sei und die Houthi-Einheiten begonnen hätten, von Sanaa nach Aden zu marschieren und die Kontrolle über große Teile des Landes zu erlangen. Ebenso sei daraus ersichtlich, dass die Houthi und andere bewaffnete Gruppierungen 2015 ihre Rekrutierungen gesteigert hätten. Weiters seien politisch motivierte Morde durch nichtstaatliche Akteure im Jahr 2015 signifikant angestiegen. Solche Gruppen seien die Houthi-Rebellen und terroristische und aufständische Gruppen, welche sich zu Al-Qaida oder IS zählten. Die Houthi schränkten außerdem die Rede-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ein, inhaftierten Journalisten und Mitglieder politischer Parteien, würden NGO's schließen, exzessive Gewalt gegen friedlich Protestierende und Folter ausüben. Maßgebliche Menschenrechtsverletzungen seien willkürliche Tötungen, Verschwindenlassen, Entführungen und andere Gewalttaten, welche von verschiedenen Personen begangen würden, sowie ein korruptes Justizsystem. Einer versuchten Zwangsrekrutierung komme dann Asylrelevanz zu, wenn aus der Weigerung sich anzuschließen eine tatsächliche oder nur unterstellte politische Gesinnung abgeleitet werde, an die eine Verfolgung anknüpfe. Entscheidend für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei, mit welchen Reaktionen der Betroffene auf Grund seiner Weigerung rechnen müsse und ob in seinem Verhalten eine wenn auch nur unterstellte politische oder religiöse oppositionelle Gesinnung erblickt werde (VwGH 28.01.2015, Zl. 2014/18/090 ua.). Dem BF drohe daher Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich auf Grund der drohenden Zwangsrekrutierung durch Milizen/Gruppierungen, ebenso drohe ihm auf Grund seiner Weigerung sich ihnen anzuschließen, auch eine religiöse bzw. politische Verfolgung auf Grund seiner zum Ausdruck gebrachten bzw. der ihm unterstellten politischen bzw. religiösen Gesinnung. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liege nicht vor, da er nirgendwo im Heimatstaat in Ruhe und Sicherheit leben könnte. Dazu werde auf das Erkenntnis des VwGH vom 17.12.2015, Zl. Ra 2015/20/0048, verwiesen, wonach die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zur bereits erfolgten Gewährung von subsidiärem Schutz stehe, weil § 11 AsylG 2005 die Annahme einer solchen nur erlaube, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sei. Da dem BF bereits subsidiärer Schutz gewährt worden sei, liege auch bezüglich seiner Asylgründe keine innerstaatliche Fluchtalternative vor. Es lägen auch keine Endigungs- oder Ausschlussgründe gemäß Art. 1 Abschnitt Co der F der GFK vor. Dem BF sei daher Asyl zu gewähren.

1.4. Das Bundesverwaltungsgericht stellte mit Schreiben vom 30.08.2017 eine Anfrage an die Staatendokumentation des Bundesamtes zur Abklärung von Fragestellungen zur Rekrutierungspraxis der Houthi bzw. zur generellen Mobilisierung in den von den Houthi kontrollierten Gebieten. In der Folge wurden seitens der Staatendokumentation zwei Anfragebeantwortungen des Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (ACCORD) vom 10.10.2017, zu "Jemen: Zwangsrekrutierungen durch die Houthi-Milizen, Auswahl der Rekruten: Kritierien (Alter, Stamm, Religion, Ausbildung) und Regeln (z.B. Freistellung); Folgen bei Weigerung [a-10337-1]" und zu "Jemen: Sind in von Houthis kontrollierten Gebieten die Houthi-Milizen die offiziellen (nordjemenitischen) Streitkräfte oder besteht daneben eine Art offizielle (nord-jemenitische) Armee? Gibt es eine generelle Mobilisierung und eine Art allgemeine Wehrpflicht, Ahndung von Verstößen dagegen [a-10337-2 (10338)]" an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

1.5. In der Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht am 11.12.2017 brachte der BF im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache sowie seiner Rechtsvertretung zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen vor, dass die Houthi zu ihm nach Hause gekommen seien, um ihn zu rekrutieren. Als er dies abgelehnt habe, seien sie 10 Tage danach wieder gekommen, hätten ihn bedroht und seien dann ins Haus eingedrungen. Die Mutter habe die Tür geöffnete und sie hätten sie weggestoßen. Der BF habe gehört, wie sie mit seiner Mutter geschrien hätten. Der BF habe diese Gelegenheit wahrgenommen und sei durch ein kleines Fenster im Hinterhof gesprungen und auf die Straße gelaufen und geflüchtet. Er sei zu einem Freund geflüchtet und habe sich dort 20 Tage im Keller versteckt. Er sei dann auf der Straße gesucht worden und auch bei den Nachbarn. Sein Vater habe alles verkauft, sei zu einem Freund in die türkische Botschaft gegangen und habe für den BF um die Ausstellung eines Sichtvermerks für die Türkei ersucht. Mit Hilfe eines Freundes seines Vaters am Flughafen habe der BF den Jemen am 30.01.2015 verlassen. Im Jahr 2015 hätten die Houthi Sanaa teilweise schon erobert gehabt und junge Leute rekrutieren wollen, im Namen des Jihad nach dem Prinzip, wenn man nicht mit ihnen sei, so sei man gegen sie. Ein Freund habe dem BF einen Monat vor der Ausreise (Ende 2014) erzählt, dass die Houthi wüssten, dass der BF nicht mit ihnen kämpfen wolle, sie meide und die Leute gegen sie aufhetzen würde. Sein Freund habe zu einem benachbarten Houthi-Anführer Kontakt gehabt. Danach habe sich der BF nur mehr zu Hause aufgehalten, bis die Houthi gekommen seien. Befragt, warum die Houthi geglaubt hätten, dass er die Leute aufwiegle, brachte der BF vor, er habe sie abgelehnt, ihre Lebensart nicht akzeptiert und habe nicht mit ihnen kämpfen wollen. Er habe einigen Freunden auf deren Fragen gesagt, dass er nicht mit den Houthi arbeite und dies auch nicht wolle. Er habe mit den Houthi nichts zu tun haben wollen, weder hinsichtlich ihres Glaubens, ihrer Einstellung zum Leben noch zu hinsichtlich ihres Kampfes. Er habe 2014 mit seinen Freunden gesprochen, ehe die Houthi zu ihm nach Hause gekommen seien. Ein paar seiner Freunde hätten auch Probleme mit den Houthi gehabt. Die Houthi seien glaublich am 01.01.2015 das erste Mal gekommen und 10 Tage später nochmals. Das erste Mal seien zwei Leute von den Houthi gekommen und zwei seien vor der Tür gewesen. Sie hätten ungefähr eine halbe Stunde mit ihm gesprochen und ihn für den Kampf rekrutieren wollen. Der BF habe dies abgelehnt. Daraufhin seien sie weggegangen. Sie hätten ihn weder beschimpft noch bedroht. Beim zweiten Mal hätten sie das Haus gestürmt und seine Mutter zur Seite gestoßen. Als er ihre Schreie gehört habe, sei er durch das Fenster in den Hinterhof geflüchtet. Sie seien etwa um 11:30 Uhr gekommen. Zu dieser Zeit sei er in seinem Zimmer gewesen, im zweiten Stock. Von dort sei er auf die Mauer hinuntergesprungen und dann von dort auf die Straße. Befragt, ob er verfolgt worden sei, gab er an, dass sie geschrien hätten, aber er sei schon weggewesen und davongelaufen. Wenn er nicht geflüchtet wäre, wäre er jetzt nicht mehr am Leben. Er habe nur Schreie und Stimmen von den Funkgeräten gehört, als sie das Haus gestürmt hätten. Er sei dann zu einem Freund gelaufen, wo er sich ca. 20 Tage lang aufgehalten habe. Seine Eltern hätten gewusst, wo er sich aufhalte. Von seinem Freund habe er erfahren, dass die Houthi sich nach ihm auf der Straße erkundigt und ihn gesucht hätten. Die Houthi seien nach seiner Flucht ein paar Mal bei seinen Eltern gewesen, aber dort sei ihnen gesagt worden, dass der BF nicht mehr da sei. Bei Verwandten von ihm seien die Houthi nicht gewesen. Damals seien viele Leute mitgenommen worden und hätten die Houthi vielen seiner Freunde Probleme gemacht sowie versucht, diese zu bekommen. Vor ca. 4 Monaten sei auch sein Bruder aus Sanaa weggegangen. Seither habe der BF nichts von diesem gehört. Seine Schwester habe ihm am Telefon gesagt, dass sie nichts von ihm wüssten. Es sei schon sehr lange her, dass er mit seinem Bruder gesprochen habe. Er habe immer mit seiner Schwester über ihn geredet und sich nach ihm erkundigt. Seine Schwester habe er selten gesprochen, aber sie sei immer zu Hause. Sein Bruder sei geflüchtet, nachdem die Houthi ihn mitnehmen hätten wollen. Der BF sei gegen die Houthi, weil diese Barbaren seien. Sie seien Rassisten, sie würden zwischen Weißen und Schwarzen unterscheiden und seien sehr brutal. Im Fall einer Rückkehr nach Sanaa würde der BF befürchten, umgebracht zu werden. Wenn die Houthi von seiner Rückkehr erfahren würden, dann würden sie ihn liquidieren. Sein Wohnviertel sei gemischt, die Mehrheit seien Schiiten. Manchmal habe es Probleme zwischen Sunniten und Schiiten gegeben. Zu den ihm zur Kenntnis gebrachten Länderinformationen und Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation vom 10.10.2017 wurde dem BF eine Frist für eine schriftliche Stellungnahme eingeräumt.

1.6. In einer Stellungnahme vom 22.12.2017 verwies der bevollmächtigte Vertreter des BF auf die Anfragebeantwortung von ACCORD zu (Zwangs-)Rekrutierungen durch die Houthi und andere bewaffnete Gruppierungen im Jemen [a-10177] vom 17.05.2017, wonach auch auf Fälle von Zwangsrekrutierung in Sanaa hingewiesen werde. Daraus sei abzuleiten, dass die Dunkelziffer nach Einschätzung der UNO wesentlich höher liege, weil die betroffenen Familien normalerweise darüber nicht sprechen würden. Ergänzend wurde auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamtes vom 16.01.2017 - Jemen: Wehrdienst, Zwangsrekrutierung - verwiesen, wonach zwar keine Informationen über Rekrutierungen von Sunniten durch Houthi gefunden worden seien, jedoch aus den zitierten Quellen ableitbar sei, dass der aktuelle Bürgerkrieg im Jemen nicht einfach als Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten gesehen werden könne und die Houthi auch bemüht seien, Beziehungen zu sunnitischen (zaiditischen) Stämmen aufzubauen. Vor diesem Hintergrund sei das Fluchtvorbringen des BF jedenfalls nicht unplausibel und finde grundsätzlich in den allgemeinen Berichten Deckung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

Der BF ist Staatsangehöriger des Jemen, gehört der Volksgruppe der Araber an, ist Sunnit, war im Herkunftsstaat in einer Ortschaft in Sanaa wohnhaft, reiste am 02.07.2015 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist ins Visier der Houthi geraten, als er es abgelehnt hat, sich diesen anzuschließen und sich deren Versuch, ihn mit Zwang zu rekrutieren, durch Flucht entzogen hat. Aus diesem Grund hat er im Jänner 2015 das Herkunftsland verlassen.

Asylausschließungsgründe sind keine zutage getreten.

1.2. Zur Situation im Jemen:

1.2.1. Politische Lage:

Die Republik Jemen bezeichnet sich in ihrer am 15./16. Mai 1991 in einer Volksabstimmung angenommenen Verfassung (geändert am 28. September 1994) als unabhängigen, arabischen, islamischen und republikanischen Staat. Jemen ist Teil der arabischen und islamischen Welt. Staatsreligion ist der Islam (LIPortal 9.2017).

Die innere Lage des Landes wird immer noch durch die geteilten historischen Erfahrungen geprägt: einerseits britische Kolonialisierung und anschließende sozialistische Einflüsse im Süden, andererseits muslimische Imam-Herrschaft und Stammesgesellschaft im Norden. Insbesondere seit dem Sezessionskrieg 1994 hat sich Jemen auf den Weg einer allerdings schwierigen und nicht unangefochtenen Demokratisierung begeben. Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen dem ehemaligen Nord- und Südjemen bestehen fort. Diese belasten das politische und gesellschaftliche Klima des Landes (AA 4.2016).

2004 begann in der nordjemenitischen Provinz Sa'ada der Huthi-Aufstand. Der Expräsident Ali Abdullah Saleh bekämpfte während seiner Amtszeit bis 2012 den Aufstand. Nach seinem Rücktritt schloss er sich allerdings der Rebellion an, als diese sich ausbreitete. Im Herbst 2014 nahmen die Huthi die Hauptstadt Sana'a ein (Der Standard 23.8.2016). 2015 besetzten die Huthi-Rebellen den Präsidentenpalast und einige Ministerien in Sana'a, lösten Anfang Februar per Dekret das Parlament auf und setzten einen "Obersten Revolutionsrat" als Exekutivorgan ein (AA 4.2016). Präsident Hadi gab am 22.1.2015 eine Rücktrittserklärung ab, nahm diese jedoch Anfang Februar zurück. Nach einem Zwischenaufenthalt in Aden begab er sich nach Saudi-Arabien ins Exil, hält sich jedoch zwischendurch auch in Aden auf (LIPortal 9.2017). Der Krieg im Jemen eskalierte im März 2015, als eine Koalition unter saudi-arabischer Führung im Namen der international anerkannten Regierung unter Präsident Hadi gegen die Huthi-Rebellen intervenierte. Dies hat im ohnehin armen Land zu einer humanitären Katastrophe geführt (ICG 8.2017).

Der Jemen befindet sich derzeit in einer politischen Schwebe. Die Huthi behaupten, das Parlament sei aufgelöst und durch einen Übergangs-Revolutionsrat unter dem Vorsitz von Mohammed Ali al-Huthi ersetzt worden. Die UNO, die USA und der Golf-Kooperationsrat weigern sich jedoch, die Huthi-Herrschaft anzuerkennen (BBC 6.7.2017). Zudem haben Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) und Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates (IS) das Chaos ausgenutzt, indem sie Gebiete im Süden eingenommen und ihre Angriffe intensiviert haben (BBC 28.3.2017).

Nach einer Zeit des rasanten Vormarschs hat die Allianz aus Huthi und Saleh-Unterstützern im Juli und August 2015 Territorium im Süden eingebüßt. Seitdem bekämpfen sie die Gegenseite, was in einer Pattsituation endete. Die Allianz hat die Kontrolle über das Gebiet des nördlichen Zaidi-Hochlandes [mehrheitlich von den Zaiditen, einem Zweig der Shi'a bewohnt], das die Hauptstadt Sana'a und die Mehrheit der Bevölkerung des Landes umfasst. Dies hat zu einem angespannten Status Quo geführt, von dem mehrere Konfliktparteien profitieren, der jedoch großes Leid unter den JemenitInnen und zusätzliche Instabilität in der gesamten Region hervorgerufen hat (ICG 11.10.2017).

Führende Politiker und Militärs haben Mitte Mai 2017 in Aden die Bildung einer neuen "Übergangsregierung" für Südjemen verkündet. Damit gibt es im Jemen jetzt drei Regierungen, eine in Sana'a und zwei in Aden. Und ausgerechnet der international anerkannte Präsident Hadi operiert meist aus dem Exil in Riad. Zubaidi, der Anführer der "Bewegung des Südens", machte seine Deklaration zur neuen Regierung im Fernsehen vor einer Flagge der einstigen Demokratischen Volksrepublik Südjemen, vorerst ohne die Unabhängigkeit auszurufen. Nun droht eine Eskalation des Konfliktes zwischen Anhängern Hadis und südjemenitischen Fraktionen, die mit der Sezession liebäugeln. Über den Gräben im Süden ist auch eine Diskrepanz zwischen der Politik Saudi-Arabiens und derjenigen der Vereinigten Arabischen Emirate deutlich geworden. Die beiden Golfstaaten führen eine multinationale Militärkoalition an, welche die Anti-Huthi-Allianz unterstützt. Während Saudi-Arabien vor allem aus der Luft bombardiert und seine Aktivitäten auf die saudisch-jemenitische Grenze fokussiert, haben sich die Emirate der Hafenstädte im Süden angenommen. Zur Unterstützung der Anti-Huthi-Allianz in Aden schickten sie Bodentruppen. Südjemenitische Anführer wie Al Zubaidi haben enge Beziehungen zu den Emiraten entwickelt, während der heute in Riad lebende Hadi von Saudi-Arabien unterstützt wird (NZZ 13.5.2017).

Anlässlich der Gedenkfeiern zum 54. Jahrestages des Aufstandes gegen die Briten am 14.10.2017 verkündete Al Zubaidi die baldige Abhaltung eines Unabhängigkeitsreferendums und die Konstituierung eines Parlamentes mit 303 Abgeordneten, welches alle Regionen des Süden repräsentieren soll (Reuters 14.10.2017, vgl. MEM 15.10.2017). [siehe auch Abschnitt: 3.3. Bewegung des Südens - Al Hirak].

Ex-Präsident Saleh inszenierte am 24.8.2017 eine Groß-Kundgebung in Sana'a anlässlich des 35. Jahrestages der Gründung der "General People's Congress Partei" (GPC). Die Huthi-Führung forderte am Vortag die Einführung des Ausnahmezustandes (ICG 8.2017). In einer Rede stellte Abdulmalik al-Huthi eine "Verschwörung" in den Raum. Saleh antwortet seinerseits mit einer Rede, in der er die Huthi beschuldigte, die 2015 getroffenen Absprachen zur Regierung der kontrollierten Gebiete zu brechen (Der Standard 29.8.2017, vgl. The National 20.8.2017). Hinter der "Verschwörung" stehen die Bemühungen der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), des zweit-wichtigsten Mitglieds in der Saudi-Allianz, um einen Waffenstillstand. Die Huthi befürchteten, Saleh könnte diesen am 24. August verkünden (Der Standard 29.8.2017). Auch Al Huthi sagte, dass er bereit sei, auf ein Friedensabkommen mit der Regierung von Herrn Hadi und der von Saudi-Arabien geführten Koalition hinzuarbeiten, das die VAE einschließt, aber nur ein Abkommen, das im Interesse des Landes sei (The National 20.8.2017).

Die Spannungen zwischen den Anhängern der Partei Huthi und Salehs General People's Congress (GPC) blieben nach dem Zusammenstoß vom 25. August in der Hauptstadt Sana'a hoch, obwohl die Führer auf beiden Seiten öffentlich versichert hatten, dass die Allianz fortgeführt wird (ICG 8.2017). Sana'a ist nun zwischen den beiden Lagern aufgeteilt, wobei die Huthi etwa 70% der Hauptstadt und einen Großteil des Nordens halten (AM 3.9.2017).

Ali Abdullah Saleh wurde am 4.12.2017 in der jemenitischen Hauptstadt Sana'a von Huthi-Rebellen getötet. Mit den Houthi, die er einst bekämpfte, war Saleh 2014 eine Allianz eingegangen (Standard 4.12.2017a). Erst am 2.12.2017 hatte Saleh im Fernsehen nach mehr als zweieinhalb Jahren Krieg seine Militärallianz mit den Houthi-Rebellen aufgekündigt und "den Brüdern der benachbarten Staaten" angeboten, eine neue Seite im Verhältnis miteinander aufzuschlagen, wenn die Luftangriffe und die Blockade beendet würden. Houthi-Anführer Abdul-Malik al-Houthi bezeichnete Saleh daraufhin als Hochverräter und Putschisten (Zeit 4.12.2017). Nach anfänglichen Erfolgen in der darauffolgenden bewaffneten Konfrontation zwischen Saleh- und Houthi-Anhängern schien zuerst Saleh zu überwiegen. Am 3.12.2017 wendete sich jedoch das Blatt. Die Houthis begannen ihre Positionen in Sana'a zurückzuerobern, obwohl Saudi-Arabien seine Angriffe aus der Luft intensivierte (Standard 4.12.2017a). Die Gewalt zwischen den Streitkräften der Houthis und Salehs hat nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes in den letzten fünf Tagen bisher zum Tod von mindestens 125 Zivilisten geführt (Guardian 4.12.2017). Der in Saudi-Arabien im Exil lebende international anerkannte Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi gab unterdessen seinen Truppen den Befehl, die Hauptstadt zu stürmen und aus der Hand der Houthis zu befreien (Zeit 4.12.2017). Hadi bot allen, die ihre Unterstützung der Houthis aufgeben und sich zurückziehen, eine Amnestie an (Standard 4.12.2017b).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (4.2016): Jemen - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Jemen/Innenpolitik_node.html, Zugriff 28.9.2017

* AM - Al Monitor (3.9.2017): Are Yemeni rebels imploding?, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/09/saudi-arabia-yemen-war-rebel-alliance-imploding-washington.html, Zugriff 10.10.2017

* BBC News (28.3.2017): Yemen crisis: Who is fighting whom?, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-29319423, Zugriff 28.9.2017

* BCC News (6.7.2017): Yemen country profile, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-14704852, Zugriff 28.9.2017

* ICG - International Crisis Group (8.2017): Yemen, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch/august-2017#yemen, Zugriff 28.9.2017

* ICG - International Crisis Group (11.10.2017): Discord in Yemen's North Could Be a Chance for Peace [Crisis Group Middle East Briefing N°54],

https://d2071andvip0wj.cloudfront.net/b054-discord-in-yemens-north-could-be-a-chance-for-peace_0.pdf, Zugriff 13.10.2017

* LIPortal - Das Länder-Informations-Portal (9.2017): Jemen - Staat und Verfassung,

https://www.liportal.de/jemen/geschichte-staat/#c1943, Zugriff 29.9.2017

* MEM - Middle East Monitor (15.10.2017): Southern Yemen leader sees independence referendum, parliament body, https://www.middleeastmonitor.com/20171015-southern-yemen-leader-sees-independence-referendum-parliament-body/, Zugriff 16.10.2017

* The National (20.8.2017): Yemen war: Cracks emerge in Houthis-Saleh alliance,

https://www.thenational.ae/world/yemen-war-cracks-emerge-in-houthis-saleh-alliance-1.621406, Zugriff 9.10.2017

* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (13.5.2017): Drei Regierungen für Jemen,

https://www.nzz.ch/international/separatisten-im-sueden-drei-regierungen-fuer-jemen-ld.1292924, Zugriff 11.10.2017

* Reuters (14.10.2017): Southern Yemen leader sees independence referendum, parliament body,

https://uk.reuters.com/article/uk-yemen-security/southern-yemen-leader-sees-independence-referendum-parliament-body-idUKKBN1CJ06T?rpc=401&, Zugriff 16.10.2017

* Der Standard (23.8.2016): Krieg im Jemen wird zur Sackgasse für die Saudis,

https://derstandard.at/2000043199757/Krieg-in-Jemen-wird-zur-Sackgasse-fuer-die-Saudis?ref=rec, Zugriff 28.09.2017

* Der Standard. Harrer, Gudrun (29.8.2017): Die Zweckehe der jemenitischen Rebellen ist in der Krise, https://derstandard.at/2000063266198/Die-Zweckehe-der-Rebellen-im-Jemen-ist-in-der-Krise, Zugriff 9.10.2017

* The Guardian (4.12.2017): Yemen Houthi rebels kill former president Ali Abdullah Saleh,

https://www.theguardian.com/world/2017/dec/04/former-yemen-president-saleh-killed-in-fresh-fighting, Zugriff 5.12.2017

* Der Standard (4.12.2017a): Jemens Expräsident Saleh tot:

Seitenwechsel wurden zum Verhängnis, https://derstandard.at/2000069031715/Jemen-Ein-Seitenwechsel-zu-viel-wurde-Expraesident-Saleh-zum-Verhaengnis, Zugriff 5.12.2017

* Der Standard (4.12.2017b): Rettungsdienste: In Jemens Hauptstadt Sanaa werden die Leichensäcke knapp, https://derstandard.at/2000069006092/Streit-verschaerft-Jemens-Huthis-sprengen-Haus-von-Expraesident-in-die, Zugriff 5.12.2017

* Die Zeit (4.12.2017): Das Ende eines Machtjongleurs, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-12/ali-abdullah-salih-jemen-ex-praesident-tod, Zugriff 5.12.2017

1.2.2. Sicherheitslage

Die volatile Sicherheitslage und militärische Operationen wirken sich weiterhin auf die Zivilbevölkerung im Jemen aus. Nach Angaben des Global Protection Cluster hat die Anzahl der gemeldeten Luftangriffe im ersten Halbjahr 2017 den Gesamtwert für 2016 überstiegen, mit einer fast Verdreifachung des Monatsdurchschnitts. Die Zahl der vermeldeten bewaffneten Zusammenstöße liegt um 56 Prozent pro Monat höher als 2016. Ta'izz, Sa'ada, Hajjah, Sana'a, Al Jawf und Ma'rib bleiben die von Militäroperationen, Zusammenstößen und Luftangriffen am stärksten betroffen Gebiete (UN-OCHA 14.8.2017). Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) bedauerte zu tiefst den Trend, dass öffentliche Plätze, wie Märkte sowie private Häuser zu Zielen der Konfliktparteien werden. Denn dies steht im Widerspruch zu den grundlegenden Grundsätzen des Kriegsrechts. Das ICRC zeigte sich insbesondere durch das jüngste Muster von Luftangriffen alarmiert, bei denen es wie zuletzt in Ta'izz zu zivilen Opfern gekommen ist (ICRC 8.8.2017).

Die Schwächen der Rechtsstaatlichkeit bestehen landesweit, vor allem aber in den Städten und Orten sowie dem Süden des Landes, wo das Fehlen einer wirksamen Kontrolle durch eine zentrale Behörde ein Machtvakuum schafft, in dem mehrere bewaffnete Gruppierungen und Stammesgruppen um die Kontrolle konkurrieren (GPC 9.2017).

Die von Saudi Arabien geführte Koalition ist wiederholt für Angriffe auf Zivilisten kritisiert worden. Mehr als 8.000 Menschen wurden seit 2015 getötet, darunter mindestens 1.500 Kinder, begleitet von Millionen Vertriebenen. Das verarmte Land wird durch den Konflikt an den Rand einer Hungersnot gedrängt. Ein Cholera-Ausbruch hat seit April 2017 mehr als 1.800 Menschen das Leben gekostet, und laut Vereinten Nationen und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz bestehen weitere 400.000 Verdachtsfälle im ganzen Land. Die Vereinten Nationen warnten im Juli 2017 davor, dass 80% der Kinder im Jemen dringend Hilfe brauchten, was die Organisation als "größte humanitäre Krise der Welt" bezeichnete (MEE 17.9.2017).

Im August 2017 kam es zur einer markanten Eskalation der Spannungen zwischen Anhängern der Huthis und jenen des ehemaligen Präsidenten Saleh in Sana'a [die bislang als Verbündete galten]. Überdies nahmen die Luftangriffe der von Saudi-Arabien angeführten Koalition zu. Die Kämpfe gingen in der Provinz Ta'izz und entlang der saudischen Grenze weiter. In Ta'izz beispielsweise kämpften Huthi und Saleh-Rebellen gemeinsam gegen die Streitkräfte der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und deren jemenitische Verbündete um die Kontrolle über den Militärstützpunkt Khaled bin Waleed und die umliegenden Gebiete (ICG 8.2017).

Die von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten geführte Militäroperation im Jemen ist ins Stocken geraten, ohne dass seit Herbst 2015 strategische Erfolge erzielt worden wären, nachdem die saudischen Koalitionstruppen Aden und Teile der Provinz Ta'izz besetzt hatten. Den VAE wird mehr Interesse an der Bekämpfung der zur Muslimbruderschaft zugerechneten Al-Islah Partei (ein saudischer Verbündeter im Jemen) als der Saleh-Houthi-Allianz zugeschrieben. Angesichts der zunehmenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Ländern über den Jemen sehen die Aussichten der Koalition auf einen militärischen Erfolg schwach aus (AM 9.10.2017).

Andere bewaffnete Akteure haben weiterhin die Unsicherheit im Jemen ausgenutzt. Im vergangenen Jahr [2016] haben extremistische Gruppen ihre Präsenz aufrechterhalten und angepasst. Zum Beispiel, nachdem die Al Qaida im April 2016 aus Al Mukalla in der südlichen Provinz Hadramaut vertrieben wurde, ist sie nun in Ta'izz-Stadt aktiv (OHCHR 5.9.2017).

Die jemenitische Menschenrechtsorganisation "SAM" mit Sitz in Genf liefert für 2016 einen Überblick über die Opferzahlen nach Provinzen (siehe Tabelle unten). Die Todesursachen reichen von Beschuss durch Scharfschützen, Bombenangriffen auf Wohngebiete, Landminen auf öffentlichen Straßen und Plätzen, unkonventionellen Sprengvorrichtungen (IEDs) über Terroranschläge und politische Morde bis zu Tod unter Folter und außergerichtliche Exekutionen. Hinzu kamen Luftangriffe durch die von den Saudis angeführte Koalition sowie US-amerikanische Drohnen-Angriffe. Laut SAM waren von den 2950 Getöteten 77% Männer, 6% Frauen und 17% Kinder. Die meisten Opfer, nämlich die Hälfte, gingen auf das Konto der Houthi-Saleh-Milizen, 27% waren Opfer von Luftangriffen der Arabischen Koalitionsstreitkräfte, 12% von terroristischen Gruppen und 5% von US-amerikanischen Drohnen-Angriffen. Die Rest ging auf das Konto der Regierungstruppen oder war Opfer von sozialen Konflikten bzw. ist die Quelle der Gewalt unbekannt (SAM 15.2.2017).

Quellen:

* AM - Al Monitor (9.10.2017): Saudis could seek Russian bailout in Yemen,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/10/saudi-arabia-bail-out-yemen-conflict-mediation.html, Zugriff 10.10.2017

* GPC - Global Protection Cluster (9.2017): Protection Cluster Strategy - Yemen,

http://www.globalprotectioncluster.org/_assets/files/field_protection_clusters/Yemen/files/protection-cluster-yemen2c-national-strategy-final2c-september-2017.pdf, Zugriff 2.10.2017

* ICG - International Crisis Group (8.2017): Trends and Outlook - Yemen, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch/august-2017#yemen, Zugriff 28.9.2017

* ICG - International Crisis Group (9.2017): Trends and Outlook - Yemen, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch/september-2017#yemen, Zugriff 9.10.2017

* ICRC - International Committee of the Red Cross (8.8.2017): Yemen:

Airstrikes against civilians are an alarming trend, https://www.icrc.org/en/document/yemen-airstrikes-against-civilians-are-alarming-trend, Zugriff 29.9.2017

* MEE - Middle East Eye (17.9.2017): Dozen Yemeni civilians killed in Saudi-led coalition raid,

http://www.middleeasteye.net/news/dozen-yemeni-civilians-killed-saudi-led-coalition-raid-1833881575, Zugriff 28.9.2017

* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (5.9.2017): Yemen: An "entirely man-made catastrophe" - UN human rights report urges international investigation, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22025&LangID=E, Zugriff 2.10.2017

* SAM (15.2.2017): The Forgotten Land - Report on Human Rights Violations in Yemen during 2016, http://www.samrl.org/wp-content/uploads/2017/03/En-The-Forgotten-Land-Internet-Odd-SAM-for-Rights-Liberties.pdf, Zugriff 3.10.2017

* UN-OCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.8.2017): Yemen Humanitarian Bulletin Issue 26 | 14 August 2017, http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1503325164_1408.pdf, Zugriff 29.9.2017

1.2.3. Houthi (Harakat Ansar Allah)

Die Houthi - offiziell bekannt als Harakat Ansar Allah (Bewegung der Helfer Gottes) - sind eine vom Iran unterstützte, schi'itisch-muslimische militärische und politische Bewegung. Ihre Mitglieder, die sich der Minderheit der Zaiditen des schi'itischen Islam zugehörig fühlen, setzen sich für die regionale Autonomie der Zaiditen im Nordjemen ein. Die Gruppe hat seit 2004 eine Reihe blutiger Aufstände gegen die jemenitische Regierung ausgeführt, die zu einem Sturz des Regimes Anfang 2015 geführt haben. Die Houthi-Bewegung begann als Versuch, die Autonomie der Stämme im Nordjemen aufrechtzuerhalten und gegen den westlichen Einfluss im Nahen Osten zu protestieren. Heute streben die Houthi eine größere Rolle in der jemenitischen Regierung an und setzen sich weiterhin für die Interessen der zaiditischen Minderheit ein. Die Houthi sind für ihre heftige anti-amerikanische und antisemitische Rhetorik bekannt (CEP 31.1.2017).

Die Ziele der Houthi umfassen auch Entschädigungen für die Schäden während der Sa'ada Kriege, die Vertretung innerhalb der Zentralregierung, und die Garantie, dass die Gruppe vor zukünftiger politischer und wirtschaftlicher Marginalisierung geschützt wird. Nicht alle Zaiditen im Jemen identifizieren sich mit der Houthi-Bewegung (CT 2017a).

In den extrem armen Bergregionen des Nordens hatte Hussein Badreddin al-Houthi einen Kult der Zaiditen etabliert, welche sich einem eigenständigen Zweig der Schi'a angehörig fühlen. Der Zaidismus befindet sich für gewöhnlich nicht so sehr in einer religiös motivierten Frontstellung zu den SunnitInnen. Hussein Badreddin al-Houthis Absicht ist es vielmehr gewesen, den Zaidismus wieder politisch auszurichten und für die Autonomie Sa'adas einzutreten. Im ohnehin äußerst armen Jemen ist es um die Region Sa'ada besonders schlecht bestellt. Die ökonomische Kluft im Land ist die Wurzel für den später immer sichtbarer werdenden Konflikt gewesen. Aus der anfangs kleinen kultisch-religiösen Bewegung der Houthi hat sich eine robuste Miliz entwickelt. Deren Ideologie beruht auf einem politischen Islam, der stark mit Anti-Amerikanismus verwoben ist. Auf die Separationsbestrebungen der Houthi sind gewaltsame Auseinandersetzungen mit der jemenitischen Regierung gefolgt (VIDC/Al-Ahmad 13.10.2016).

Der Sprecher der Houthi und Mitglied des Politbüros der Ansar Allah, Mohammed Al-Bukhaiti definierte die Houthi als nationale Bewegung, die sich den Prinzipien des arabischen Nationalismus und des Pan-Islamismus verpflichtet fühlt. Laut Al-Bukhaiti war der konfessionelle Aspekt nie ein Thema bei der Entscheidung, mit wem man sich verbündet. Es ist zwar ein Teil dessen, so Al-Bukhaiti, wer wir sind, aber es spielt eine untergeordnete Rolle und ist kein entscheidender Faktor. Was wir mit dem Iran oder der Hisbollah oder der Hamas und dem Islamischen Dschihad gemeinsam haben, so Al-Bukhaiti, ist, dass wir eine gemeinsame Haltung gegenüber Israel und den USA haben, und dass wir mit allen politischen Akteuren in der Region zusammenarbeiten werden, die den regionalen Entwürfen der USA entgegenstehen (AJ 2.10.2014).

In den nördlichen Gebieten, die traditionell unter zaiditischer Kontrolle standen, gab es Berichte über fortgesetzte Bemühungen der Houthi, ihre religiösen Bräuche auch Nicht-Zaiditen aufzuzwingen, unter anderem durch ein Musikverbot und die Forderung, dass Frauen eine Voll- Verschleierung tragen müssen. Es gab Berichte über Houthi-Rebellen, die Imame in sunnitischen Moscheen dazu drängten, vorgeschriebene Predigten zu halten. Darüber hinaus drängten Houthi angeblich Gläubige in sunnitischen Moscheen dazu, politische Petitionen zu unterzeichnen, um gegen die saudi-arabisch geführte Militärkampagne gegen die Houthi-Saleh-Rebellen zu protestieren. Medien berichteten, dass Houthi-Milizen einige Moscheen, wie die Tawhid-Moschee in Ta'izz, verwüsteten (USDOS 15.8.2017).

In Sana'a und anderen von den Houthi und ihren Verbündeten kontrollierten Gebieten wurden Kritiker und Oppositionelle sowie Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Angehörige der Religionsgemeinschaft der Baha'i willkürlich festgenommen und inhaftiert. Viele von ihnen fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. Häufig wurden sie von bewaffneten Männern, die der Ansarullah, dem politischen Flügel der Houthi, angehörten, zu Hause oder an ihren Arbeitsplätzen abgeholt oder an Kontrollpunkten und öffentlichen Orten wie Moscheen ohne Haftbefehl oder Angabe von Gründen festgenommen. Wohin sie gebracht wurden, blieb unklar. Viele der Häftlinge wurden an inoffiziellen Orten, wie z. B. in Privatwohnungen, festgehalten, ohne dass ihnen der Grund für ihre Haft genannt wurde oder sie Gelegenheit bekamen, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung gerichtlich prüfen zu lassen. Jeglicher Kontakt zu einem Rechtsbeistand oder Gericht blieb ihnen verwehrt. Einige der Inhaftierten wurden an geheimen Orten festgehalten und waren Opfer des Verschwindenlassens. Die von Houthi kontrollierten Behörden weigerten sich, die Inhaftierungen zu bestätigen, Auskunft über die Häftlinge zu erteilen oder ihnen Kontakt zu ihren Rechtsbeiständen und Familien zu gewähren. Einige Häftlinge wurden gefoltert oder anderweitig misshandelt. Im Februar 2016 berichtete eine Familie, sie habe gesehen, wie ihr Verwandter von Strafvollzugsbediensteten in der Hafteinrichtung der Staatssicherheit in Sana'a geschlagen worden sei (AI 22.2.2017).

Das Al Jazeera Centre for Studies, eine 2006 geschaffene Denkfabrik des in Doha ansässigen arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera, veröffentlicht im Juni 2016 einen Bericht, der beschreibt, wie die Houthis zunehmend in die Führungsstrukturen der jemenitischen Armee vorgedrungen seien und Dienstältere auf weniger wichtige Plätze verdrängt hätten. Viele Soldaten und Offiziere der Armee, die den Putsch der Houthis und deren kampflose Übernahme der staatlichen Institutionen abgelehnt hätten, hätten sich gedemütigt gefühlt. Daher hätten viele hochrangige Armeemitglieder, insbesondere Südjemeniten, die Hauptstadt verlassen. Nachdem Präsident Mansur Hadi im Februar 2015 nach Aden geflohen sei, sei auch die Abwanderung der Armeeoffiziere noch einmal angestiegen. Diese letzte Welle habe die Struktur der Armee verändert, und es hätten sich Lücken in der Führung sowie bei der Handhabung verschiedener Waffensysteme aufgetan. Viele Experten, Ingenieure und Techniker hätten sich nicht den Houthis angeschlossen. Einige Tage nach der Flucht von Präsident Mansur Hadi nach Aden habe sich das Militär im Feld eindeutig auf der Ebene der administrativen Führung geteilt. (Al-Jazeera Centre 30.06.2016)

Quellen:

* AI - Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Yemen, http://www.ecoi.net/local_link/336490/466110_en.html, Zugriff 3.10.2017

* AJ - Al Jazeera (2.10.2014): Q&A: What do the Houthis want? [Interview mit Mohammed al-Bukhaiti, Sprecher der Huthi], http://www.aljazeera.com/news/middleeast/2014/10/qa-what-do-houthis-want-2014101104640578131.html, 9.10.2017

* Al-Jazeera Centre for Studies: Yemen's Warring Parties: Formations and Dynamics, 30. Juni 2016,

http://studies.aljazeera.net/en/reports/2016/06/yemens-warring-parties-formationsdynamics-160630100544525.html

* CEP - Counter Extremism Projekt (31.1.2017): Houthis, https://www.counterextremism.com/sites/default/files/threat_pdf/Houthis-01312017.pdf, 10.10.2017

* CT - Critical Threats (2017a): al Houthi Movement, https://www.criticalthreats.org/organizations/al-houthi-movement, Zugriff 11.10.2017

* USDOS - US Department of State (15.8.2017): 2016 Report on International Religious Freedom - Yemen, http://www.ecoi.net/local_link/345243/489037_de.html, Zugriff 11.10.2017

* VIDC - Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation. Al-Ahmad, Safa (13.10.2016): Tagungsbericht zu: Jemen - Krise, Revolte, Krieg,

http://www.vidc.org/fileadmin/Bibliothek/DP/Foto_Veranst/veranstaltungen_MS/Jemen_13.10.16/Jemen_13_10_16_Kurzbericht_final.pdf, Zugriff 10.10.2017

1.2.4. Rechtsschutz / Justizwesen

Das Justizwesen ist nominell unabhängig, jedoch anfällig für Beeinflussung durch politische Fraktionen. Die Behörden haben eine schlechte Bilanz, was die Durchsetzung von juristischen Urteilen angeht, besonders wenn es sich um Verurteilungen von Stammesführern oder bekannten politischen Personen handelt. Durch das Fehlen eines effektiven Gerichtswesens greift die Bevölkerung häufig auf tribale Formen von Justiz oder Gewohnheitsrecht zurück, besonders seit der Einfluss der Regierung schwächer wird. Der Krieg im Jemen behindert teilweise den Betrieb einiger Kommunal- und richterlicher Ämter, obwohl das Justizministerium auch unter dem Einfluss der Huthi weiterarbeitet (FH 2017).

Nach ihrem Exil im Jahr 2015 und im Laufe des Jahres verlor die von Hadi geführte Regierung die Kontrolle über einen Großteil des Gerichtssystems an die Rebellen der Huthi-Saleh-Allianz, die diese Institutionen weiterführte. Die Verfassung sieht zwar eine unabhängige Justiz vor, diese wird allerdings durch Korruption, politische Einmischung und mangelnde juristische Ausbildung geschwächt. Die gesellschaftlichen und politischen Beziehungen der Richter und gelegentliche Bestechung beeinflussen die Urteile. Vor dem Ausbruch des Konflikts haben die mangelnde Kapazität der Regierung und die teilweise mangelnde Durchsetzungsbereitschaft der Gerichte, insbesondere außerhalb der Städte, die Glaubwürdigkeit der Justiz weiter untergraben. Kriminelle bedrohten und schikanierten Angehörige der Justiz, um den Ausgang der Verfahren zu beeinflussen (USDOS 13.04.2016).

Vor dem Gesetz sind Angeklagte unschuldig bis ihre Schuld bewiesen ist. Gerichtsverhandlungen sind im Allgemeinen öffentlich, aber Gerichte können aus Gründen der "öffentlichen Sicherheit oder Moral" geschlossene Verhandlungen abhalten. Richter nehmen aktiv an der Befragung der Zeugen und des Angeklagten teil und urteilen über Kriminalfälle. Angeklagte haben das Recht bei ihrer Gerichtsverhandlung anwesend zu sein und sich mit einem Anwalt zu beraten. Der Angeklagte kann ebenfalls Zeugen, die gegen ihn aussagen, befragen und konfrontieren und außerdem selbst zu seiner Verteidigung Zeugen oder Beweise vorbringen. Die Regierung muss laut Gesetz in schweren Kriminalfällen einen Anwalt für mittellose Angeklagte zur Verfügung stellen, wobei dies in der Vergangenheit nicht immer geschehen ist. Grundsätzlich haben Angeklagte und deren Anwälte Zugang zu relevanten Beweisen und Anwälten wird ermöglicht, Klienten und Zeugen zu befragen sowie Beweise zu prüfen. Angeklagte haben das Recht auf Berufung. Angeklagte können weder zu einer Zeugenaussage noch zu einem Schuldgeständnis gezwungen werden. Es gibt außerdem ein spezielles Staatssicherheitsgericht, welches unter anderen Bedingungen arbeitet und Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchführt. Dieses Gericht garantiert den Angeklagten nicht dieselben Rechte wie die ordentlichen Gerichte. Anwälte bekommen oft nicht ausreichend Zugang zu den Anklagepunkten, Beweismitteln oder Gerichtsakten. Das Fehlen von Geburtsregistern erschwert die Altersfeststellung, woraufhin die Gerichte Jugendliche wie Erwachsene verurteilen, auch zum Tode (USDOS 13.04.2016).

Zudem gibt es Stammes-Gerichte, in denen Stammesrichter, meist neutrale und respektierte Scheichs, auf Basis des Stammesrechts Urteile fällen, manchmal auch in Kriminalfällen. Die Behörden beschuldigen unter Stammesrecht Verurteilte meist nicht formell, sondern klagen sie vielmehr öffentlich an. Stammesrechtliche Verhandlungen konzentrieren sich häufig eher auf den sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft als auf Bestrafung. Die Urteile haben dasselbe Gewicht wie Gerichtsurteile, teilweise sogar ein stärkeres, weil die Stammesgerichte oft als glaubwürdiger als die als korrupt und abhängig geltenden Gerichte angesehen werden (USDOS 13.04.2016).

Quellen:

* FH - Freedom House (2017): Freedom in the World 2017 - Yemen, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2017/yemen, Zugriff 2.10.2017

* USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Yemen,

https://www.ecoi.net/local_link/337264/480030_de.html, Zugriff 2.10.2017

1.2.5. Sicherheitsbehörden

Die primären staatlichen Nachrichtendienste, die Organisation für Politische Sicherheit (Political Security Organisation - PSO) und das Büro für Nationale Sicherheit (National Security Bureau - NSB) unterstehen zuerst dem Innenminister und dann dem Präsidenten. Die Zusammenarbeit dieser beiden Organisationen bleibt unklar, und es gibt keine klaren Definitionen vieler Prioritäten des NSB. Die PSO ist laut Gesetz dafür zuständig, politische Verbrechen und Sabotageakte aufzudecken und zu verhindern (USDOS 3.3.2017; vgl. Global Security 21.1.2015).

Die PSO und das NSB gerieten Ende 2014 unter die Kontrolle der Rebellen der Huthi-Saleh-Allianz. Die Hadi-geführte Regierung behielt jedoch ihre eigenen Ernennungen zum PSO und zur NSB in den von der Regierung kontrollierten Gebieten bei, ähnlich anderen dualen oder parallelen Strukturen in den Institutionen des Landes (USDOS 3.3.2017, vgl. FH 2017).

Auch die Abteilung für Kriminaldienstliche Ermittlungen (Criminal Investigation Division) untersteht dem Innenministerium und führt die meisten Untersuchungen und Festnahmen in Kriminalfällen durch. Der Innenminister kontrolliert außerdem die paramilitärischen Spezialsicherheitskräfte (Special Security Forces SSF, ehemals Central Security Forces CSF) - oft zur Kontrolle von Menschenansammlungen eingesetzt -, sowie die Anti-Terror-Einheit. Dem Verteidigungsminister unterstehen außerdem Einheiten zum Einsatz gegen interne Unruhen und in internen bewaffneten Konflikten (USDOS 3.3.2017).

Die Straflosigkeit von Sicherheitsbeamten blieb ein Problem, zum einen, weil die Hadi-geführte Regierung nur begrenzte Autorität ausübte und zum anderen, weil es keine wirksamen Mechanismen zur Untersuchung und Verfolgung von Missbrauch und Korruption gab. Die SSF, die Sondereinsatzkräfte des Jemen, die Präsidentengarde (ehemals republikanische Garde), die NSB und andere Sicherheitsorgane berichteten angeblich an die zivilen Behörden des Innenministeriums, des Verteidigungsministeriums und des Präsidentenbüros. Die zivile Kontrolle über diese Einrichtungen verschlechterte sich jedoch weiter, da die Rebellenakteure Umstrukturierungsbemühungen rückgängig machten. Durch die Verschärfung des Problems der Straflosigkeit verstärkten Interessensgruppen, darunter auch die Familie des ehemaligen Präsidenten Saleh und andere Stammes- und Parteigruppen, ihren Einfluss auf diese Einrichtungen, oft auf inoffiziellem Wege und nicht durch die formale Befehlsstruktur (USDOS 3.3.2017).

Quellen:

* FH - Freedom House (2017): Freedom in the World 2017 - Yemen, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2017/yemen, Zugriff 2.10.2017

* Global Security (21.1.2015): Yemen Intelligence Agencies, http://www.globalsecurity.org/intell/world/yemen/index.html, Zugriff 2.10.2017

* USDOS - US Department of State(3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Yemen,

https://www.ecoi.net/local_link/337264/480030_de.html, Zugriff 2.10.2017

1.2.6. Folter und unmenschliche Behandlung

Die Verfassung verbietet Folter und ähnliche andere Missbräuche. Es gibt Bestimmungen, dass Folter mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden kann, aber das Gesetz bietet keine genaue Definition von Folter (USDOS 3.3.2017).

Sowohl die Houthi-Rebellen als auch die alliierten Streitkräfte haben Menschen verschwinden lassen, Gefangene gefoltert und zahlreiche Aktivisten, Journalisten, Stammesführer und politische Gegner willkürlich festgenommen. Seit August 2014 wurden die willkürliche oder missbräuchliche Festnahme von mindestens 61 Personen durch die in Sanaa ansässigen Behörden dokumentiert (HRW 12.1.2017).

Zivilisten, die sich zu Wort meldeten oder sich den Konfliktparteien auf andere Weise widersetzten, waren Schikanen, Einschüchterungen, Inhaftierungen und gelegentlich Folter und Tötungen ausgesetzt. Am 22. Juni 2017 eröffnete die jemenitische Regierung gemäß dem Präsidialerlass Nr. 115 eine Untersuchung mutmaßlicher Folterungen und Verschwinden-Lassens durch Einheiten der Vereinigten Arabischen Emirate und ihrer alliierten jemenitischen Streitkräfte im Süden des Landes. Mit Stand Mitte August 2017 hatte der sechsköpfige Untersuchungsausschuss, der die Untersuchung durchführte, seine Ergebnisse noch nicht veröffentlicht (UN-HRC 13.9.2017).

In einer Untersuchung behauptet Associated Press, dass die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und ihre alliierten jemenitischen Sicherheitskräfte willkürlich Festgenommene inhaftieren und foltern, und dieselben auch von US-Truppen in einem Netzwerk von Geheimgefängnissen im gesamten südlichen Jemen verhört werden. Associated Press dokumentierte mindestens 18 Geheimgefängnisse im südlichen Jemen, die von den Vereinigten Arabischen Emiraten oder von jemenitischen Streitkräften betrieben wurden, und bezog sich dabei auf Berichte ehemaliger Häftlinge, Familien von Gefangenen, Anwälte und jemenitischer Militärbeamte. Die Einrichtungen sind entweder versteckt oder der jemenitischen Regierung nicht zugänglich. Auch US-amerikanische Kräfte seien bei den Verhören anwesend gewesen. In einem der Hauptgefängniskomplexe am Flughafen von Riyan im südlichen Teil der Stadt Mukalla berichteten ehemalige Häftlinge, sie seien wochenlang mit Fäkalien beschmiert und mit verbundenen Augen in Schiffscontainern zusammengepfercht worden. Sie sagten, sie wurden verprügelt, auf dem sogenannten "Grill" gefesselt und sexuell missbraucht (AP 22.6.2017).

Die jemenitische Menschenrechtsorganisation "SAM" hat mit Stand Mai 2017 über 200 illegale Haftanstalten und Gefängnisse dokumentiert, die von Houthi-Milizen und Salehs Streitkräften, bewaffneten Gruppen, die mit der legitimen Regierung verbündet sind, oder von der Regierung anerkannten Militärbefehlshabern verwaltet werden. Verschiedene Quellen, darunter Opfer und Augenzeugen, bestätigten, dass Häftlinge körperlicher und seelischer Folter ausgesetzt waren, und dass ihnen die Grundrechte verweigert wurden, wie sie in der jemenitischen Verfassung und den internationalen Gesetzen verankert sind (SAM 5.9.2017).

Quellen:

* AP - Associated Press (22.6.2017): In Yemen's secret prisons, UAE tortures and US interrogates,

https://www.apnews.com/4925f7f0fa654853bd6f2f57174179fe, Zugriff 3.10.2017

* HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Yemen, https://www.ecoi.net/local_link/334724/476564_de.html, Zugriff 2.10.2017

* SAM (5.9.2017): Close all Illegal Detention Centers in Yemen, http://www.samrl.org/close-all-illegal-detention-centers-in-yemen/, Zugriff 4.10.2017

* UN-HRC - United Nations - Human Rights Council (13.9.2017): Annual report of the United Nations High Commissioner for Human Rights and reports of the Office of the High Commissioner and the Secretary-General - Situation of human rights in Yemen, including violations and abuses since September 2014 [A/HRC/36/33], http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1505899727_a-hrc-36-33.doc, Zugriff 2.10.2017

* USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Yemen,

https://www.ecoi.net/local_link/337264/480030_de.html, Zugriff 2.10.2017

1.2.7. Korruption

2016 lag der Jemen auf Platz 170 von 176 (Anmerkung: 2015 Platz 154 von 168) des Korruptionsindex von Transparency International (TI 2016). Das Gesetz sieht Strafen für amtliche Korruption vor, die Exilregierung setzt dieses Gesetz jedoch nicht effektiv durch. Kleinere Fälle von Korruption kamen häufig und in fast allen Ämtern vor. Von Bewerbern für einen Beruf wird oft erwartet, dass sie sich ihren Beruf kaufen. Zahlreiche Regierungsbeamte und öffentliche Bedienstete erhielten Bezahlungen für Arbeiten, die sie nicht ausführten, oder mehrere Gehälter für eine Arbeitsstelle. Korruption ist ein ernstes Problem in fast allen Bereichen und auf allen Ebenen der Regierung, besonders im Sicherheitssek

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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