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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);Norm
AVG §45 Abs2;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, über die Revision der J O in G, vertreten durch Mag. Martin Sauseng, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juli 2017, Zl. I415 2124235- 1/15E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Die aus Nigeria stammende Revisionswerberin, Angehörige der Volksgruppe der Ika und Christin, stellte am 9. November 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Im Rahmen ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gab die Revisionswerberin im Wesentlichen an, dass sie aus Angst vor der Ogboni Sekte geflohen sei. Der Anführer dieser Sekte sei ihr verstorbener Vater gewesen. Ihre drei Brüder seien der Sekte geopfert geworden und Mitglieder der Ogboni hätten die Revisionswerberin gezwungen, sich ihnen anzuschließen. Aus diesem Grund sei die Revisionswerberin mit heißem Wasser überschüttet worden und es seien mit einem Messer Markierungen auf ihrem Bauch gestochen worden. Sie sei Christin und habe sich demnach nicht der Ogboni Sekte anschließen wollen. Aus Angst um ihr Leben sei sie geflohen.
3 Dieser Antrag wurde vom BFA mit Bescheid vom 14. März 2016 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch des Status der subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Unter einem sprach die Verwaltungsbehörde die Rückkehrentscheidung gegen die Revisionswerberin aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria aus.
4 Gegen diesen Bescheid wurde von der Revisionswerberin fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) erhoben. In dieser brachte die Revisionswerberin ihre prekäre Situation als alleinstehende Frau ohne tragfähiges soziales Bezugsnetz in Nigeria und ihre Bedrohung durch die Ogboni Sekte sowie das Fehlen von Berichten dazu im erstinstanzlichen Bescheid vor. Darüber hinaus wurde der Antrag auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens gestellt, weil die Revisionswerberin detailreich die Folterung sowie die Herkunft der Narben auf ihrem Bauch beschrieben habe.
5 Mit Erkenntnis vom 10. Juli 2017 wies das BVwG nach Durchführung einer Verhandlung die Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gegen die Entscheidung gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 Das BVwG hielt einerseits das Fluchtvorbringen der Revisionswerberin für nicht glaubhaft, andererseits stützte es sich auf die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative. Selbst bei Wahrunterstellung ihres Vorbringens stünde es der Revisionswerberin frei, sich außerhalb von Benin City niederzulassen. Es sei der Revisionswerberin zumutbar, sich etwa in den multiethnischen Zentren Lagos oder Abuja niederzulassen.
7 Gegen diese Erkenntnisse richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
8 Die Revision macht zu ihrer Zulässigkeit u.a. geltend, das Verfahren hänge von der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ab, weil in grober Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt worden sei. Die Relevanz des genannten Verfahrensmangels sei darin begründet, dass dadurch geklärt hätte werden können, dass es sich bei den Folterspuren am Bauch der Revisionswerberin um eine rituelle Markierung handle. Unabhängig davon habe das BVwG entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Situation von alleinstehenden Frauen in Nigeria ohne soziales Bezugsnetz außer Acht gelassen. Der Revisionswerberin wäre als alleinstehende Frau bei der Rückkehr jegliche Lebensgrundlage entzogen. Unter Berücksichtigung der durch das BVwG selbst ins Treffen geführten Länderfeststellungen zur Situation von Frauen in Nigeria, gelange man zum Ergebnis, dass der Revisionswerberin bei der Rückkehr jegliche Lebensgrundlage genommen wäre.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.
11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel (ohne unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung) untauglich ist. Es ist nicht zulässig, ein vermutetes Ergebnis noch nicht aufgenommener Beweise vorwegzunehmen (vgl. VwGH 15.10.2015, Ra 2014/20/0052, mwN). Das Verwaltungsgericht darf sich auch über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 19.10.2017, Ra 2017/20/0211).
12 Wie die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung zutreffend vorbringt, findet sich im gesamten Erkenntnis kein Abspruch über den in der Beschwerde gestellten Beweisantrag. Dies obwohl in der Beschwerde das Beweisthema klar angegeben wurde und auch nach den durch die hg. Rechtsprechung aufgestellten Kriterien kein Fall der zulässigen Ablehnung eines Beweismittels vorliegt. So wird zum einen betreffend die Beweistatsachen weder eine rechtlich nicht zu beanstandende Wahrunterstellung vorgenommen, noch ist ersichtlich, dass es auf dieses Beweismittel nicht ankäme oder dass dieses untauglich wäre.
13 Es fehlen Feststellungen zur vorgebrachten Verfolgung und den behaupteten Misshandlungen durch die Ogboni Sekte und es entspricht die vorgenommene Wahrunterstellung nicht den dafür in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen (vgl. VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0069). Das BVwG hat nicht offengelegt, von welchem als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhalt es bei seiner rechtlichen Beurteilung ausgegangen ist und es kann dem Vorbringen der Revisionswerberin bei Wahrunterstellung nicht von vornherein die Asylrelevanz abgesprochen werden.
14 Weiters erfordert die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Hinblick auf das ihr innewohnende Zumutbarkeitskalkül nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage der Asylwerberin in dem in Frage kommenden Gebiet (vgl. VwGH 8.9.2016, Ra 2016/20/0063, mwN).
15 Das BVwG nimmt zwei innerstaatliche Fluchtalternativen an:
Die erste Annahme findet sich in den "Feststellungen zu den vorgebrachten Fluchtgründen", wo von einer innerstaatlichen Fluchtalternative außerhalb von Benin City ausgegangen wird (S. 9 des angefochtenen Erkenntnisses). Weiters wird im Rahmen der rechtlichen Beurteilung eine innerstaatliche Fluchtalternative im "multiethischen Lagos oder Abuja" angenommen (S. 20 des Erkenntnisses). Das Erkenntnis lässt jedoch nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage der Revisionswerberin in den angeführten Gebieten vermissen. Vielmehr stellt das BVwG allgemein zur Lage in Nigeria fest, dass "kein spezielles Unterstützungsprogramm für allein zurückkehrende Frauen und Mütter besteht" (S. 12 des Erkenntnisses) sowie, dass "christliche Mädchen ständig in der Gefahr stehen, entführt und zwangsverheiratet zu werden" (S. 10 des Erkenntnisses). Feststellungen zur Situation von alleinstehenden Frauen in Benin City, Lagos oder Abuja können dem Erkenntnis an keiner Stelle entnommen werden.
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher bereits aus diesen Gründen wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b und c VwGG aufzuheben.
17 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und Z 5 VwGG abgesehen werden.
18 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren war abzuweisen, weil in dem in der Verordnung vorgesehenen Pauschalbetrag die Umsatzsteuer bereits mitenthalten ist (vgl. VwGH 21.3.2017, Ra 2016/22/0103, mwN).
Wien, am 20. Februar 2018
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017200303.L00Im RIS seit
14.03.2018Zuletzt aktualisiert am
22.03.2018